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Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!
Psycholinguistik.
Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universität Wien hat
herausgefunden, wie sehr unterschiedliche Erstsprachen nicht nur die
Wahrnehmung, sondern auch unsere Erinnerung mitprägen können.
Es ist eine alte wissenschaftliche Streitfrage, ob die Sprache und ihre Grammatik auch Auswirkungen auf unseren Blick auf die Welt haben. Die Psycholinguistin Soonja Choi erforscht gemeinsam mit dem Kognitionspsychologen Ulrich Ansorge an der Uni Wien, inwiefern unsere Erstsprache unser Denken, unsere Wahrnehmung und unsere Erinnerung beeinflusst.
Dazu haben sie komplexe Experimente entwickelt und mit Probanden in Korea und Österreich durchgeführt. „Das Koreanische ist sehr unterschiedlich zu Sprachen wie Deutsch oder Englisch“, erklärt Choi. „Deshalb bietet es sich an, die Spezifika der Sprachen anhand ihrer grammatikalischen Unterschiede und Besonderheiten herauszuarbeiten.“
Deutsch trifft Koreanisch
Der Blick der Sprachforscher gilt dabei sprachspezifischen semantischen, also bedeutungsgebenden, Informationen. Beispiele dafür sind die Anordnung von Satzteilen oder die Möglichkeit, mit dem Verb verschiedene Zeitformen auszudrücken. Für ihre Versuche haben sie sich auf zwei markante Unterschiede der beiden Sprachen konzentriert: nämlich darauf, wie Vorfälle oder Geschichten erzählt und Relationen zwischen Objekten ausgedrückt werden. Die gebürtige Koreanerin Choi bringt auch ihre Expertise zum kindlichen Erstspracherwerb ein: „Wie wir Ereignisse nacherzählen und wie wir Objekte im Raum zueinander in Beziehung setzen, lernen Kinder in beiden Sprachen sehr früh, mit zwei, drei beziehungsweise mit drei, dreieinhalb Jahren.“
Sprache ist für sie untrennbar mit dem Menschsein verbunden: „Sie ist unser Hauptcharakteristikum. Daran erkennen wir, wer wir sind, was wir denken und wie wir uns Dingen annähern.“ Im Fall von Objekten passiert diese Annäherung nicht in jeder Sprache gleich: Während das Deutsche die Position von Objekten je nach Geometrie des Referenzobjektes ausdrückt, also ein Apfel liegt „in“ der Schale, „auf“ dem Tisch oder „unter“ dem Baum, gibt es im Koreanischen diese Möglichkeit nicht. Stattdessen lenkt die asiatische Sprache, die von mehr als 78 Millionen Menschen gesprochen wird, durch die grammatikalischen Möglichkeiten die Aufmerksamkeit darauf, ob zwei Objekte lose – wie ein Apfel in einer Schale – oder eng – wie ein Ring auf einem Finger – miteinander verbunden sind.
Mit ihren Versuchen haben Choi und Ansorge nun gezeigt, dass dies in Zusammenhang damit zu stehen scheint, für welche visuellen Informationen von Situationen wir sensibilisiert sind – oder eben nicht.
Grammatik prägt Erinnerung
Trotz aller Unterschiede, die sich in den Experimenten herauskristallisiert haben, will Choi ihre Arbeit jedoch nicht missverstanden wissen. „Alle menschlichen Sprecher haben dieselbe Grundlage, was unsere Wahrnehmung anbelangt“, betont die Linguistin. „Das heißt, die Sprachen sind nicht so verschieden, dass wir nicht miteinander kommunizieren können. Aber wir schauen offenbar doch unterschiedlich auf die Welt.“
Auch der zweite Test, der sich mit dem Nacherzählen und Erinnern von Ereignissen beschäftigte, zeigte deutliche Unterschiede zwischen den koreanischen und den österreichischen Versuchsteilnehmern. Ausgangspunkt waren die grammatikalischen Möglichkeiten, beim Erzählen von Sachverhalten auszudrücken, woher die Information stammt. Im Deutschen bleibt uns nichts anderes übrig, als dies über einen Umweg mit einem „Ich habe gehört, dass“ oder „Ich habe gesehen, dass“ zu formulieren. Das Koreanische kennt dafür, wie das Türkische übrigens auch, eine eigene Satzendung, die zwingend angehängt werden muss.
Choi und Ansorge wollten herausfinden, wie diese Tatsache sich auf die Erinnerung auswirkt. Dazu zeigten sie den Testpersonen 32 Youtube-Videos von verschiedenen Ereignissen oder Menschen wie Reportern, die davon berichteten. Die Probanden mussten das Gesehene und Gehörte nacherzählen und wurden einige Zeit später noch einmal zur Informationsquelle befragt – also dazu, ob sie ein Ereignis lediglich vom Hörensagen kennen oder selbst gesehen hatten.
Es zeigte sich, dass die Koreaner dies viel akkurater als die Österreicher angeben konnten. Choi: „Die Ergebnisse dieses Versuchs legen nahe, dass explizite linguistische Markierungen der Informationsquelle Auswirkungen darauf haben, wie genau wir uns daran erinnern.“
Zweierlei Zeugenaussagen
„Wir stehen noch am Anfang, aber, ja, unsere Tests zeigen, dass die Sprache, die wir sprechen, weitreichende Auswirkungen darauf haben kann, wie wir die Welt wahrnehmen und das Wahrgenommene kategorisieren, aber auch darauf, wie wir uns an unsere Erfahrungen erinnern“, so Choi. Welche Konsequenzen haben diese Erkenntnisse nun für die Praxis? Werfen sie nicht etwa ein anderes Licht auf Zeugenaussagen bei polizeilichen Einvernahmen? Mit Spekulationen, was ihre Forschungsergebnisse für Gerichtsprozesse bedeuten könnten, will sich Choi nicht aufhalten: „Um ernsthaft darüber nachdenken zu können, bräuchte es viel mehr Experimente und Wissen dazu“, sagt sie, räumt aber ein: „Aber natürlich drängen sich diese Gedanken auf.“ [Privat]
LEXIKON
Die Psycholinguistik ist ein relativ jungesTeilgebiet
der Sprachwissenschaft (Linguistik) und integriert Aspekte der
Psychologie. Im Mittelpunkt steht die Erforschung des menschlichen
Spracherwerbs, die Repräsentation von Sprache im Gehirn sowie die
kognitiven (mentalen) Mechanismen, die es uns ermöglichen, Sprache zu
verwenden und zu verstehen.
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