Montag, 19. Dezember 2016

Weltschaum.

„Er zählt augenzwinkernd nach, wie viele Sandkörnchen es gibt, und zwar nicht nur an den Ufern der Meere, sondern im gesamten Universum.“ Carlo Rovelli über Archimedes und dessen Werk „Die Sandzahl“.
aus Die Presse, Wien, „Er zählt augenzwinkernd nach, wie viele Sandkörnchen es gibt, und zwar nicht nur an den Ufern der Meere, sondern im gesamten Universum.“ Carlo Rovelli über Archimedes und dessen Werk „Die Sandzahl“.

Im Sand der Raumzeit 
„Was ist Wirklichkeit?“, fragt der Physiker Carlo Rovelli – und zeichnet eine Welt der Quantengravitation, in der es nur so wimmelt und vibriert.

 

„Die Welt ist anders, als sie uns erscheint“, schreibt der italienische Physiker Carlo Rovelli in seinem neuen Buch namens „Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint“. Große Worte, großer erkenntnistheoretischer Anspruch. Der auf den zweiten Blick viel naiver ist, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Er impliziert, dass die Physik Zuverlässiges über das wirkliche Wesen der Dinge oder gar der Welt aussagen könne; der Quantentheorie etwa bescheinigt Rovelli einen „Vorstoß ins innerste Wesen der Dinge“.

Spätestens seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ sollte man solche Ansprüche skeptisch sehen. Man könnte sie mit John Lennons Worten abschmettern – „Nothing is real, and nothing to get hung about“ –, aber das wäre vielleicht ungerecht. Denn was Rovelli antreibt, ist die schönste Idee der Physikgeschichte: dass man zwei Theorien vereinen kann und daraus eine neue Theorie erhält, die reicher, weiter und stärker ist als die beiden, aus denen sie entstanden ist.

Das erfolgreichste Beispiel ist die Theorie des Elektromagnetismus: In ihr führte James Clerk Maxwell in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts die Elektrizität und den Magnetismus zusammen, und das ist nicht nur mathematisch sehr schön, sondern es erhellt die Welt ganz wörtlich bis heute, denn es erklärt das Licht als elektromagnetische Welle.

Vereinigung der Kräfte.  

Nicht ganz so perfekt ist die Theorie, die hundert Jahre später den Elektromagnetismus und die schwache Kernkraft zusammenführte; bestenfalls skizzenhaft kennen die Physiker eine Theorie, die die daraus kombinierte „elektroschwache Kraft“ und die dritte Kraft, die starke Kernkraft, vereint, zu einer Grand Unified Theory (GUT). In einem Quantenfeld natürlich, denn so gehört es sich, seitdem uns die Quantentheorie beigebracht hat, dass nicht nur alle Materiestücke, sondern auch alle Felder quantisiert sind, aus kleinsten Körnern bestehen.

Doch das größte offene Rätsel ist, ob und wie die vierte Kraft, die Gravitation, dazu passt. Albert Einstein hat sie in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie neu erklärt: als Eigenschaft der Raumzeit. Diese selbst ist in Einsteins Theorie das Feld, „ein sich bewegendes und schwingendes Etwas, das Gleichungen gehorcht“, wie Rovelli es ausdrückt. Will man dieses Feld in einer Quantenfeldtheorie beschreiben, muss man also annehmen, dass die Raumzeit selbst aus kleinsten, grundsätzlich nicht weiter teilbaren Stückchen besteht. „Unterhalb eines bestimmten Maßstabs ist der Raum nicht mehr zugänglich, ja es gibt nicht einmal mehr etwas Existentes“, schreibt Rovelli in einer seiner Formulierungen, die schaumig sind wie die Welt, wie er sie sich vorstellt.

Erschaffung des Raums

 „Die Welt besteht aus Vibrieren und Wimmeln“, schreibt er etwa, „Raumquanten gehen im Schaum der Raumzeit auf“, oder: „Die Welt ist ein Gewimmel aus elementaren Quantenereignissen im Meer eines uferlosen dynamischen Raums, der wie die Wellen des Meeres wogt.“ Ebendieses „mikroskopische Wimmeln von Quanten“ würde den Raum und die Zeit „erschaffen“, erklärt er; ein paar Seiten davor hat er formuliert: „Die Dinge (Quanten) liegen nicht im Raum, sondern im Umfeld der anderen Dinge. Der Raum ist das Gewebe ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen.“

Gewiss, es mag mathematische Konzepte der Nachbarschaft geben, die schwächer, der Anschauung ferner, allgemeiner sind als unsere alltagserprobte Vorstellung von räumlicher Nachbarschaft; aber wer von Wimmeln und Vibrieren oder von einem Umfeld spricht, spricht von einem Raum, wenn auch vielleicht von einem abstrakten. Wir können gar nicht anders: Wir können uns keine Dinge außerhalb von Raum und Zeit vorstellen, schon gar nicht Objekte, die den Raum und die Zeit erst aufbauen. Das hat Kant gemeint, wenn er von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen sprach: Wir haben keinen Zugang zu „Dingen an sich“, die außerhalb von Raum und Zeit liegen; wer über solche spricht, betreibt Metaphysik und nicht Physik.

Kant habe „unrecht mit der Ansicht, dass Raum und Zeit Erkenntnisformen a priori seien“, schreibt Rovelli nassforsch. Genauso sicher weiß er: „Wir können feststellen, ob eine Theorie richtig oder falsch ist.“ Es wäre vielleicht doch gut, zumindest von Ordinarien der Physik zu verlangen, dass sie sich mit Karl Poppers Wissenschaftstheorie befasst haben...

Natürlich hat auch die Superstringtheorie, die große Konkurrentin der von Rovelli (und z. B. auch Roger Penrose) vertretenen Theorie der Schleifenquantengravitation (Loop Quantum Theory), ihre konzeptuellen Schwächen. In ihr ist etwa die Raumzeit, in der die Strings wuseln sollen, zumindest im Ansatz ganz klassisch starr und flach. Dafür fordert sie überschüssige Dimensionen, die sich erst einrollen müssen. Diese sowie die aberwitzig vielen Universen, auf die ihre Interpreten gekommen sind, haben die theoretische Physik in ein postmodernes Wunderland gestürzt. Klar, dass es vergnüglich zu lesen ist, wenn Rovelli gegen die Superstringtheorie polemisiert. Da hört er sogar „die Stimme der Natur“ rufen: „Hört auf, von neuen Feldern und exotischen Teilchen, zusätzlichen Dimensionen, weiteren Symmetrien, Paralleluniversen, Strings und vielem mehr zu träumen.“

Immerhin keine Unendlichkeit.  

Erfreulich sind auch Rovellis Warnungen vor fahrlässigem Umgang mit dem Begriff des Unendlichen. Tatsächlich scheint die Annahme, dass auch Raum und Zeit aus kleinsten Quanten bestehen, die Unendlich- keiten zu beseitigen, die die Quantenfeldtheorie von jeher belasten. Auch von den Unendlichkeiten im Großen, die etwa der Kosmologe Max Tegmark in seinem Buch „Unser mathematisches Universum“ ad absurdum getrieben hat, will Rovelli erfrischenderweise nichts wissen: „Wenn wir eingehend die Natur befragen, scheint sie uns zu sagen, dass nichts unendlich ist.“

Das Universum sei „ein schier uferloses, aber endliches Meer“, erklärt Rovelli – und stellt sich in die Tradition der „Sandzahl“ des Archimedes: „Wir zählen die Raumkörnchen, aus denen der Kosmos besteht. Ein [un?]überschaubarer, aber endlicher Kosmos. Wirklich unendlich ist einzig unser Unwissen.“ Das ist zwar eine etwas humorbefreite Paraphrase eines alten Einstein-Sagers, aber darauf kann man sich mit ihm einigen, in dieser Welt der Erscheinungen.


Nota. - Das Labor ist nicht die Wirklichkeit, sondern künstlich wie eine Theaterkulisse. Wirklich ist, was erscheint. Wirklich ist, dass die Sonne morgens im Osten aufgeht und abends im Westen untergeht. Ich kann es bezeugen, ich habe es selber gesehen.

Rein wissenschaftlich gesehen, ist leben Stoffwechsel und Fortpflanzung. Das lässt sich in unendlich viele biochemische Mikroprozesse auflösen. Was leben "wirklich ist", wird sich dabei aber nicht erfahren lassen.  

Der Philosophie wurden vor zweieinhalb Jahrhunderten von Kant ihre Grenzen gezogen. Dass sie sie über- schritte, kann man der gegenwärtigen Philosophie nicht vorwerfen; eher schon, dass sie sie nicht einmal ausfüllt. 

Hat der Naturwissenschaft je einer ihre Grenzen gezeigt? Hirnforschung, Molekularbiologie, Mikro- und Makrophysik - nirgends genieren die Forscher sich zu spekulieren, und manch einer wartet dazu nicht ein- mal den Tag seiner Emeritierung ab. 
JE


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