Hodler, Reformation in Hannover
aus nzz.ch,
Medien und Mündlichkeit
Am Anfang war das gesprochene Wort
Kehren
wir zurück zur Oralität? Die Kulturgeschichte des Wissens und der
Medien zeigt, dass auch im Internet-Zeitalter der Mensch und seine
"Körpertechniken" im Zentrum stehen.
von Eduard Kaeser
von Eduard Kaeser
Am Anfang des Wissens war das gesprochene Wort. – Der Tourist kann noch heute dieses Ursprungs- szenario nachempfinden, etwa wenn er den Geschichtenerzählern auf der Djemaa el-Fna, dem grossen Marktplatz in Marrakesch, begegnet. Es gibt keine andere Realität als jene des Klanges und der Performanz gesprochener und gehörter Worte.
Walter Jackson Ong, der mit Marshall McLuhan so etwas wie einen Doppelstern der Medientheorie bildete, schreibt in seinem Klassiker «Oralität und Literalität» (1982), es sei schwer vorstellbar, wie die Sprache in früheren Kulturen «ursprünglicher Oralität» erfahren worden sei. Man musste kein Wort nachschlagen, keine Autorität schrieb nieder, wie man die Wörter zu verstehen, die Welt anzuschauen hatte. Die kosmische Ordnung offenbarte sich in Erzählung und Orakel, in Gesang und Poesie, in Ritual und Gebet, in immer wiederkehrenden auditiven Mustern und Metren.
Platons Warnung
Diese
Kultur des Sprechens und Hörens war offenbar mit der «Technisierung des
Wortes» (Ong) im Nahen Osten und in Griechenland schon früh im
Niedergang begriffen. Berühmtes Zeugnis davon gibt Platon
im «Phaidros», in dem Dialog, in dem er keinen guten Faden an der
Schrift lässt. Der Wahrheit, so des Philosophen Fingerzeig, kämen wir
nur im Zwiegespräch näher. Der Gebrauch der Schrift werde «die Lernenden
in ihrer Seele vergesslich machen, weil sie dann das Gedächtnis nicht
mehr üben; denn im Vertrauen auf die Schrift suchen sie sich durch
fremde Zeichen ausserhalb, und nicht durch eigene Kraft in ihrem Innern
zu erinnern.» Platons Vorstellung der Schrift war die einer
äusserlichen, fremden Technologie. Aber das Wissen fand seinen Weg von
den Köpfen in die Bücher.
Nebenbei bemerkt, spielte der Islam in der
Schriftwerdung des Wissens eine bedeutsame Rolle.* Gross- zügig
gliedernd könnte man mit Blick auf die Wissensgeschichte der Menschheit
von den Epochen des mündlichen, des schriftlichen und schliesslich des
elektronischen Mediums sprechen: Oralität, Literalität, Digitalität. Wir
leben schon seit langem in der Epoche der Literalität. In der
«medialen» Version der Wissensgeschichte liesse sich das 17. Jahrhundert
als Beginn des Zeitalters der Grosstheorien charakterisieren, das auf
der Vorherrschaft des Leitmediums Buch basiert.
Die erste universelle Theorie der Natur fand in einem einzigen Buch Platz, in den 1687 gedruckten «Philosophiae Naturalis Principia Mathematica» von Isaac Newton. Eine Theorien-Kathedrale, die auf den soliden Pfeilern einiger weniger universeller Prinzipien ruhte – und die den Physikern gestattete, immer neue Bausteine einzubauen, so dass sie ins Komplexe und Abstrakte wuchs und wuchs. Newtons Theorie prägte auch ein neues Wissensideal der Naturforschung: dasjenige des Deduzierens aus universellen, fundamentalen Naturprinzipien. Dieses Ideal begründete einen Wissenschaftsstil – nennen wir ihn «theoriegeleitet» –, der über zwei Jahrhunderte hinweg die Physiker zu beispiellosen Leistungen inspirierte, von Newton über Laplace, Boltzmann, Maxwell, Hertz, Einstein, Planck bis zur heutigen Suche nach einer «Theorie von allem».
Nun
scheint es allerdings, dass die Wissenschaft in eine neue Ära eintritt,
mit einem neuen Leitmedium. Physik, Biologie, Geografie, Soziologie,
Ökonomie bekommen es mit zusehends komplexeren Systemen zu tun.
Natürlich waren die Systeme «an sich» schon immer komplex. Wir haben das
nur nicht stets auch gesehen. Eine überaus leistungsstarke
Computertechnologie befähigt uns nun aber, die Welt sozusagen in einer
neuen Grössenordnung von Komplexität wahrzunehmen.
So kennt beispielsweise die Molekularbiologie durchaus Theorien, die chemische Vorgänge in den Zellen als Informationsaustausch erklären. Das Problem ist nicht das Fehlen einer Theorie, sondern die immense Zahl von Interaktionen, die Systembiologen nur noch dadurch «verstehen», dass sie sie in Computermodellen simulieren – und dabei einfach schauen, was herauskommt. Der theoriegeleitete Stil weicht vielerorts dem «algorithmengeleiteten»; und es gibt Autoren wie Chris Anderson – ehemaliger Chefredaktor des Techno-Magazins «Wired» –, die grosssprecherisch das «Ende der Theorie» ausrufen.
«Ordnung der Dinge»
Der
Dreischritt Oralität - Literalität - Digitalität verführt leicht zu
einer simplifizierenden Fortschrittserzählung, in der ein neues ein
altes Medium «überwindet». Giambattista Vico, der Pionier moderner
Kultur- und Geschichtsphilosophie, sah im frühen 18. Jahrhundert die
Entwicklung des Menschen klar: «Die Ordnung der Ideen muss fortschreiten
nach der Ordnung der Dinge. Dies ist die Entwicklung der menschlichen
Dinge: Erst waren die Wälder, dann die Hütten, dann die Städte und
zuletzt die Akademien. [...] Entsprechend dieser Reihenfolge
menschlicher Dinge muss sich auch die Geschichte der ursprünglichen
Sprachen erzählen lassen.»
Wenn
man die «Ordnung der Dinge» für den Augenblick als Ordnung der Medien
interpretiert, dann legt Vicos Schema die Analogie nahe, dass wir aus
den «Wäldern und Hütten» des mündlichen Wissens über die schriftlichen
«Städte und Akademien» nun ins elektronische Netz geraten sind. Nicht
wenige Theoretiker der digitalen Medien feiern diese Medien ja als
ultimative Überwindung traditioneller Wissensformen. Der Netz-Augur
David Weinberger etwa spricht in seinem Buch «Too Big to Know» von einem
Netz, das besser wisse als wir Menschen. Aber was kann das überhaupt
heissen? Müsste man den Begriff des Wissens erweitern, in dem Sinne,
dass sich Menschen und Algorithmen – Bots – zu einem neuen, «gemixten»
Subjekt des Wissens zusammenschliessen?
Wie auch immer – wenn Technologien unsere Denkstrukturen von Grund auf verändern können, dann sollte man nicht vergessen, dass diese Denkstrukturen in «Körpertechniken» wurzeln: Reden, Argumentieren, Schreiben, Lesen, Zeichnen, Rechnen, Simsen, Smartphone-Bedienen. Immer steht, wenn auch oft implizit, das Urmedium Körper im Zentrum, in das sich die Technologie «einschreibt». Aus diesem Grunde sollte auch der Fokus einer Philosophie der Technik nicht auf der Technik liegen, sondern darauf, was Technik mit uns und unserem Körper macht. So betrachtet, erweist sich die einsinnige Fortschrittsgeschichte, die uns heute die Digerati erzählen, als buchstäblich einfältig.
Technik hat auch retroaktive Wirkung. Trotz oder vielleicht gerade wegen der elektronischen Agora, die sich etabliert hat, ruft sich unüberhörbar die alte orale Kommunikationsform der antiken Rhapsoden in Erinnerung, auf Youtube, in der Spoken-Word-Szene, im Poetry-Slam und ohnehin in der heutigen Performance-Kultur. Die neuen Medien führen eine elektronisch adaptierte Form von Oralität ein. Walter Ong hat von «sekundärer Oralität» gesprochen. Simsen, Twittern, Chatten tragen ja durch ihre Kürze, Direktheit und Expressivität Züge der mündlichen Kommunikation. Man schreibt, wie einem der Schnabel gewachsen ist.
Kein Nullsummenspiel
Technische
Innovationen restrukturieren nicht nur unser naturwüchsiges mentales
«Tool», sie sind immer auch Chancen der Wiederentdeckung von Altem. In
diesem Zusammenhang wäre besonders die These McLuhans, dass jedes Medium
eine Erweiterung des Körpers und des Nervensystems darstellt, einer
kritischen Sichtung wert. McLuhan sagt nämlich, dass jede technologische
Erweiterung auch eine Selbstamputation sei. Was wir an Vermögen in die
Technologie auslagern, kann sich also als Vernachlässigung, um nicht zu
sagen: Verkümmerung, dieser Vermögen aufseiten des Menschen auswirken.
Dieser Ausgleich zwischen Mensch und Technik ist aber nicht notwendig ein Nullsummenspiel. Deshalb böte gerade das Zeitalter der ins Netz ausgelagerten Information Anlass und Ansatz, uns der Information zuzuwenden, die im oralen Medium «eingelagert» ist. Eine echte Ausweitung des menschlichen Körpers ist Technik nur dann, wenn sie das Spektrum unserer Möglichkeiten erweitert und nicht einschränkt; wenn wir also zu überlegt wählenden Technik-Nutzern werden. Diese Entwicklung steht uns aber erst noch bevor.
Dieser Ausgleich zwischen Mensch und Technik ist aber nicht notwendig ein Nullsummenspiel. Deshalb böte gerade das Zeitalter der ins Netz ausgelagerten Information Anlass und Ansatz, uns der Information zuzuwenden, die im oralen Medium «eingelagert» ist. Eine echte Ausweitung des menschlichen Körpers ist Technik nur dann, wenn sie das Spektrum unserer Möglichkeiten erweitert und nicht einschränkt; wenn wir also zu überlegt wählenden Technik-Nutzern werden. Diese Entwicklung steht uns aber erst noch bevor.
*) Um den Koran zu verbreiten, wurde das Papier erfunden. JE
Nota. - Es gibt keinerlei Grund, die 'Ordnung der Dinge' auch nur "für einen Augenblick" als die Ordnung der Medien zu interpretieren. Die Dinge sind (in unserer Vorstellung) was sie sind, und die Medien vermit- teln zwischen ihnen - während sie bleiben, was sie waren. Und sie vermitteln zwischen ihnen und uns. Wir werden dadurch andere, nämlich durch unsere Vorstellungen - von ihnen und von uns. Da auch unser Wis- sen nirgends anders ist als in unserer Vorstellung, und diese ihrerseits nichts anderes ist als eine Vermittlung zwischen uns und ihnen - müssen wir jetzt den Begriff des Wissens erweitern?
Nein, Herr Kaeser: verschärfen. Dann kann es auch nicht mehr passieren, dass ich 'mich' von 'meinem' Kör- per (andere sagen, von meinem Gehirn) unterscheide und in jenem ein "Urmedium" erkennen will, das trotzdem das Kunststück beherrscht, "im Zentrum" zu stehen.
JE
Nota. - Es gibt keinerlei Grund, die 'Ordnung der Dinge' auch nur "für einen Augenblick" als die Ordnung der Medien zu interpretieren. Die Dinge sind (in unserer Vorstellung) was sie sind, und die Medien vermit- teln zwischen ihnen - während sie bleiben, was sie waren. Und sie vermitteln zwischen ihnen und uns. Wir werden dadurch andere, nämlich durch unsere Vorstellungen - von ihnen und von uns. Da auch unser Wis- sen nirgends anders ist als in unserer Vorstellung, und diese ihrerseits nichts anderes ist als eine Vermittlung zwischen uns und ihnen - müssen wir jetzt den Begriff des Wissens erweitern?
Nein, Herr Kaeser: verschärfen. Dann kann es auch nicht mehr passieren, dass ich 'mich' von 'meinem' Kör- per (andere sagen, von meinem Gehirn) unterscheide und in jenem ein "Urmedium" erkennen will, das trotzdem das Kunststück beherrscht, "im Zentrum" zu stehen.
JE
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