Freitag, 23. Dezember 2016

Erlebte Zeit und die innere Uhr.

aus nzz.ch,

Wie das Gehirn die Zeit misst 
Schon wieder ist ein Jahr rum. Je älter man wird, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Wie die subjektive Zeitwahrnehmung entsteht, ist nicht restlos geklärt, aber es gibt Theorien dazu.
 
von Lena Stallmach

Die Zeit ist unberechenbar, zumindest in der eigenen Wahrnehmung. Einmal rast sie einem davon. Ein andermal scheint sie stillzustehen, besonders dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann. Ist man in Eile, können drei Minuten an der Ampel eine halbe Ewigkeit dauern. Amüsiert man sich, vergehen drei Stunden wie im Flug. Daraus könnte man schliessen, dass auf das eigene Zeitgefühl wenig Verlass ist. Das trifft aber nur bedingt zu, denn die meisten Menschen können die Dauer kurzer Zeitintervalle gut einschätzen, wenn sie ihre Aufmerksamkeit darauf lenken. Sie müssen demnach eine relativ genaue innere Uhr besitzen.

Seit Jahrzehnten suchen Forscher nach einem solchen Zeitmesser im Gehirn. Dabei zeigt sich, dass es wahrscheinlich nicht eine zentrale Uhr gibt, sondern eher mehrere in verschiedenen Hirnregionen und für verschiedene Aspekte der Zeitwahrnehmung. Wahrscheinlich seien unterschiedliche Systeme beteiligt, wenn man Zeitintervalle von Sekunden, Minuten oder rückblickend Stunden sowie Jahre beurteile, sagt Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg.
 
Die Zeit verkürzt sich im Rückblick

Rückblickend nimmt man die Zeit oft ganz anders wahr als im Moment. Typischerweise dehnt sie sich, wenn man eine langweilige Tätigkeit ausübt. Werden Menschen aber im Nachhinein gefragt, wie lange sie damit beschäftigt waren, unterschätzen sie die Dauer oft, weil sie in der Zeit nichts erlebt haben. Mit dem gleichen Phänomen erklärt Wittmann, warum viele Menschen mit zunehmendem Alter das Gefühl haben, dass die Jahre immer schneller vergehen.

Als Teenager oder im Alter der Zwanziger mache man ständig neue Erfahrungen, das erste Mal betrunken, der erste Kuss, die erste eigene Wohnung usw. Diese hochemotionalen Erlebnisse prägten sich stark ins Gedächtnis ein. Mit fortschreitendem Alter entwickelten die meisten Menschen mehr Routine, sie gingen der gleichen Arbeit nach, hätten einen etablierten Freundeskreis. Weil man weniger einschneidende Erinnerungen aus einem Jahr mache, erscheine es im Rückblick kürzer.
 
Drogen beschleunigen die Zeit

Erinnerungen scheinen also eine Messeinheit der rückblickenden Zeitmessung darzustellen. Für die momentane Zeitwahrnehmung sucht man dagegen noch nach einer solchen Einheit. Laut einer Theorie, die in verschiedenen Varianten seit etwa 50 Jahren kursiert, gibt es im Gehirn ein System, das wie ein Taktgeber regelmässig Impulse generiert. Diese werden in einer Zentrale oder vielleicht auch mehreren Zentralen zusammengezählt und repräsentieren ein bestimmtes Zeitintervall. Der Hirnbotenstoff Dopamin scheint diesen Taktgeber zu beeinflussen und steigert die Impulsrate, so dass die innere Uhr schneller abläuft.

Studien zeigen, dass Drogen wie Kokain und Methamphetamin, die das dopaminerge System anregen, die innere Uhr beschleunigen. Tiere und Menschen schätzen dann eine Dauer tendenziell länger ein, weil sie mehr Impulse in dieser Zeit erhalten. Dabei schreibt man den dopaminergen Neuronen in einer Hirnregion in der Mitte des Gehirns, dem Striatum, eine zentrale Rolle zu.
 
Die Rolle von Nervenzellen tief im Gehirn

Kürzlich publizierten Forscher eine Studie mit Mäusen, in der sie zeigten, dass dopaminerge Nervenzellen in einer tief im Gehirn liegenden Region namens Substantia nigra ebenfalls die Zeitwahrnehmung steuern, aber auf eine ganz andere Weise, als es das Dopamin-Modell vorhersagt.

Joe Paton vom Champalimaud Centre for the Unknown in Lissabon und sein Team trainierten Mäuse darauf, kurze Pausen zwischen zwei Tönen zu unterscheiden. Je nachdem, ob die Zeitintervalle kürzer oder länger als 1,5 Sekunden dauerten, bekamen die Tiere an unterschiedlichen Fenstern in der Käfigwand eine Belohnung. Da sie nur belohnt wurden, wenn sie sofort das richtige Fenster aufsuchten, erhielten sie jeweils unmittelbar eine Rückmeldung über ihre Zeitschätzung.

Nachdem die Mäuse nach einigen Wochen gelernt hatten, die Zeitintervalle zu unterscheiden, massen die Forscher währenddessen die Aktivität der dopaminergen Nervenzellen in der Substantia nigra. Diese schien bei der Zeitwahrnehmung entscheidend zu sein. Die Forscher konnten das «Zeitgefühl» der Tiere sogar manipulieren: Wenn sie die dopaminergen Nervenzellen in der Substantia nigra aktivierten, unterschätzten die Mäuse die Zeit tendenziell, wenn sie die Zellen hemmten, überschätzten sie sie.

Zwar ist das genau die entgegengesetzte Wirkung, wie man sie, ausgehend von dem postulierten Dopamin-Modell, erwarten würde. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass es sich beim Dopamin-System um ein kompliziertes Netzwerk handelt, in dem die Nervenzellen verschiedener Hirnregionen aktivierend und hemmend aufeinander einwirken.

Auf jeden Fall zeigten die Forscher mit ihrer Manipulation, dass die dopaminergen Neuronen in der Substantia nigra die Zeitwahrnehmung im Bereich von einer bis zwei Sekunden ziemlich direkt steuern. Sie gehen davon aus, dass es sich beim Menschen ähnlich verhalten könnte. Dafür spreche, dass Parkinsonpatienten, bei denen die dopaminergen Neuronen in der Substantia nigra absterben, oft auch eine gestörte Zeitwahrnehmung hätten, schreiben sie.
 
Körperempfindungen als Taktgeber

Wenn es aber um längere Zeitintervalle von mehreren Sekunden geht, ist beim Menschen laut Wittmann eine andere Hirnregion bei der Zeitwahrnehmung massgebend: die Insula. Sie gehört zum Kortex und liegt direkt unter der äusseren Hirnrinde. Hier laufen alle Informationen über den Zustand des Körpers ein, wie zum Beispiel das Gefühl für Kälte, Hunger, der Herzschlag, aber auch, wie man auf dem Stuhl sitzt und ob der Fuss gerade einschläft. In der Insula werden diese Signale mit Informationen aus der Umwelt zusammengebracht, und so entsteht ein Gefühl für den Körper in Raum und Zeit.

Deshalb kam der Neuroanatom Bud Craig von der Arizona State University aus theoretischen Überlegungen darauf, dass dieser kontinuierliche Eingang von Signalen aus dem Körper ein Gefühl für die Zeit vermitteln könnte. Laut dieser Theorie, die er 2009 publizierte, wären die Körpersignale die Impulse oder die Messeinheit für die Zeitwahrnehmung. Tatsächlich zeigte Wittmann ein Jahr später, dass die Insula bei der Zeitwahrnehmung aktiv ist. Bei Probanden, die Zeitintervalle von 9 und 18 Sekunden schätzen sollten, stieg die Aktivität in der Insula über die gesamte Zeitdauer an und brach jäh ab, wenn das Ende erreicht war. Als würden dort die eingehenden Signale zusammengezählt und bei Erreichen eines bestimmten Werts gestoppt.
 
Aufmerksamkeit beeinflusst die innere Uhr

Laut Wittmann können zwei Mechanismen hier die subjektive Zeitwahrnehmung beeinflussen: die Aufmerksamkeit und der Erregungszustand des Körpers. Beide verändern die Zahl der registrierten Impulse und können somit die Uhr langsamer oder schneller laufen lassen. Je weniger man abgelenkt ist, desto eher achtet man auf seinen Körper, und desto mehr Signale gehen ein und umgekehrt. Bei Emotionen wie Angst oder Freude werden dagegen Hormone ausgeschüttet, die über das vegetative Nervensystem den Erregungszustand des Körpers verändern und so die Impulsrate verändern. Besonders eindrücklich ist dies in einer «Schrecksekunde», wenn der Eindruck entsteht, dass alles in Zeitlupe abläuft.

Beim Dopamin- und beim Insula-Modell handelt es sich um zwei der gängigsten Hypothesen darüber, wie das subjektive Zeitgefühl entsteht. Wie es sich tatsächlich verhält, bleibt rätselhaft.

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