Montag, 26. Dezember 2016

Ganz richtig im Kopf ist doch keiner.

aus Süddeutsche.de,

Normal im Kopf, das gibt es nicht 
Nur langsam erkennen Arbeitgeber, dass die Norm nicht das Nonplusultra ist. Beim Gehirn sind vermeintliche Fehler in bestimmten Berufen sogar von Vorteil.

Von Jeanne Rubner


Denise hasst es, wenn man ihr die Hand gibt. Das Gefühl von nackter Haut auf nackter Haut, das ist eklig. Dann schon lieber eine Umarmung, da ist zwischen ihr und dem anderen Menschen wenigstens ein bisschen Stoff. Denise hasst es auch, anderen in die Augen zu schauen, sie musste es mühsam lernen. Lügnerin nannten andere Kinder sie deshalb früher. Bis heute versteht Denise nicht, wie man Freunde findet. Und die meisten Witze kapiert sie auch nicht. 

Denise Linke hat Asperger, eine milde Form von Autismus. Das allerdings weiß sie erst seit ein paar Jahren. Als die heute 27-Jährige sich einmal die Ohren zuhielt, weil sie den vorbeifahrenden Krankenwagen unerträglich laut fand, riet ihr ein Bekannter, zum Arzt zu gehen. Nach vielen Tests und Gesprächen bekam sie die Diagnose. Neben Asperger leidet sie auch noch an ADHS, der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, beides kommt häufig zusammen vor. Inzwischen hat sie das Onlinemagazin N#mmer gegründet, eine Anspielung darauf, dass Autisten häufig gut mit Zahlen umgehen können.

"Wenn wir etwas mögen, sind wir super fokussiert"

Auch Denise mag Zahlen, die sind nüchtern, zuverlässig. Woher die Vorliebe für Ziffern und Nummern und die Abneigung gegen Körperkontakt, laute Krankenwagen oder Kaugeräusche ihrer Mitmenschen kommt, ist unklar. Aber fest steht, dass Autismus nicht, wie lange angenommen, eine Folge gefühlskalter Mütter oder von Impfungen ist. Etwas im Gehirn von Denise und anderen Autisten ist anders verdrahtet. Wenn ein Kind heranwächst, baut sich sein Gehirn ständig um. Neue Nervenfasern entstehen, aber viele Verbindungen werden auch gekappt. Bei Autismus ist die normale Entwicklung gestört, und Bereiche, die daran beteiligt sind, die Gefühle anderer zu erkennen, sind davon betroffen.

Aber dafür, sagt auch Denise, können sie sich ziemlich gut auf bestimmte Aufgaben konzentrieren. "Wenn wir etwas mögen, sind wir super fokussiert", so die junge Frau. Das ungewöhnlich verschaltete Gehirn von Menschen mit Autismus bringt ungewöhnliche Fähigkeiten mit sich. Mit ihrer Liebe für klare Regeln und für Details fällt es ihnen sehr viel leichter, Fehler in Softwarecodes zu finden als vermeintlich "normale" Menschen. Die Wirtschaft hat das inzwischen erkannt, Firmen wie SAP oder die speziell gegründete Berliner Auticon stellen gezielt Autisten ein.

Asperger, der Gehirnzustand der Nerds und Firmengründer

Man muss natürlich kein Autist sein, um in Physik oder Informatik zu reüssieren. Aber Studenten in Cambridge, die in Naturwissenschaften oder Technik eingeschrieben sind, haben öfter autistische Verwandte als Literaturstudenten, wie der britische Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen herausgefunden hat - und tragen damit zumindest die genetische Anlage für Autismus. Und in Internetkreisen gilt Asperger, die milde Autismus-Variante, als Gehirnzustand der Nerds und erfolgreichen Firmengründer. "The Geek Syndrom" nannte das Szene-Magazin Wired Asperger, die Krankheit der Computernerds.

Oder Raymond: Als eine Packung Zahnstocher herunterfällt, erkennt er auf einen Blick, dass 246 Holzstücke am Boden liegen. Der Autist, im Film Rain Man gespielt von Dustin Hoffman, kann nach einem Abend das gesamte Telefonbuch auswendig. Savant-Syndrom (Gelehrtensyndrom) heißen die besonderen Begabungen von Menschen, die unter einer Gehirnkrankheit wie Autismus leiden. Vor Kurzem haben zwei US-Ärzte ein weltweites Register von 329 Fällen zusammengetragen. Ein Betroffener etwa kann 22 514 Dezimalstellen der Zahl Pi aufsagen, ein anderer liest einen Text in weniger als zehn Sekunden und weiß danach, was auf der Seite stand.

Stärken und Schwächen kennen und gezielt einsetzen

Wenn sie einen Job suchen, gehen Savants aber oft leer aus. Für Arbeitgeber wiegen ihre Defizite schwerer als ihre Begabungen. Ein Fehler, findet Peter Falkai, Chef der Psychiatrischen Uniklinik in München. Einer seiner Patienten war schon als Kind ungewöhnlich kaltblütig. Als gelernter Sprengmeister hat er nie Angst und macht einen guten Job. Erst als er ein Team von Mitarbeitern leiten soll, ist er überfordert und beginnt zu trinken. Man muss die Stärken und Schwächen der Menschen kennen, sagt Falkai, und sie entsprechend einsetzen.

In kreativen Bereichen bescheren "Gehirnkrankheiten" hingegen leichter Erfolg. Manche Künstler haben beispielsweise eine ungewöhnliche Verschaltung der Sinnesnerven, die - ähnlich wie bei einem LSD-Trip - einen Sinnesrausch und -tausch erzeugen kann. Synästhesie ist in kreativen Kreisen zum Codewort für besondere Begabung geworden. Jeder vierte Künstler sagt, schon einmal synästhetische Erfahrungen gemacht zu haben. Beyoncé, Kanye West und Lady Gaga sollen Synästhetiker sein.

In den USA kümmert sich die American Synesthesia Association um ihre Belange. Gegründet hat sie Carol Steen. Die New Yorker Malerin, die für ihre farbenfrohen Ölbilder bekannt ist, sieht eine Fünf nicht einfach nur als Zahl, sondern als die Farbe Gelb. Der Wochentag Donnerstag ist burgunderrot, und die Glocke im Aufzug ihres Apartmenthauses bimmelt wie ein "unglaublich helles Magenta". Zahnschmerzen fühlen sich orange an. Eines ihrer Bilder ist eine leuchtend rote Fläche, gesprenkelt mit blauen Flecken und durchzogen von grünen Linien. Steen hat gemalt, was sie sieht, wenn sie bei der Akupunktur ist, um ihre Kopfschmerzen behandeln zu lassen und die Nadeln am Ende herausgezogen werden.

Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander

Als Carol Steen sieben Jahre alt war, erzählte sie einer Mitschülerin, dass der Buchstabe A das schönste Rosa sei. Die verstand gar nicht, was Carol meinte. Höchstens fünf von hundert Menschen sind Synästhetiker. Normalerweise werden Töne, Gerüche oder Lichtmuster in unterschiedlichen Bereichen im Kopf verarbeitet, das Gehirn funktioniert dabei ähnlich wie eine Postzentrale. Alle Briefe mit einer Einser-Postleitzahl kommen auf das eine Laufband, die mit einer Zwei oder Drei auf andere. Bei Synästhetikern aber werden ständig Briefe, die eigentlich nach Berlin sollen, nach Hamburg geschickt. Es gibt auch eine Form der Synästhesie, bei der Sprache oder Schrift Geschmacksempfindugen auslöst oder bestimmten Zahlen Charaktereigenschaften zugeschrieben werden (dann wird die Fünf zum Beispiel zickig).

Hirnforscher vermuten, diese beruhe darauf, dass zwischen Sinneszentren - etwa Farbzentrum und Hörzentrum - zusätzliche Nervenbahnen verlaufen. Wegen der üppigen Querverbindungen entstehen ungewöhnliche Assoziationen, zum Beispiel Wortfarben. Man könnte auch sagen, dass ein Teil der Sinnesnerven ständig miteinander redet. Diese Gehirnanomalie macht besonders kreativ, Sinneseindrücke lassen das Gehirn zu Hochform auflaufen - nur eben anders.

Ähnlich empfinden Menschen mit Schizophrenie. Sie leiden unter Halluzinationen, sehen Gegenstände, die es nicht gibt, und hören Stimmen von Menschen, die nicht in ihrer Nähe sind. Diese virtuellen Erfahrungen, die wir gern als "verrückt" bezeichnen, können die Betroffenen aber auch kreativ machen. Vermutlich litt Vincent van Gogh an schizophrenen Schüben. Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander, das hat schon Aristoteles bemerkt.

Das Gehirn ist ein Organ, das keine Norm erfüllt.

Gehirnanomalien haben also durchaus ihre Vorteile. Auch für Kinder mit Tourette-Syndrom, die unter Tics leiden. Sie schreien oder stöhnen plötzlich, ihre Muskeln zucken, ohne dass sie etwas dagegen tun könnten. Aber dafür sind sie außergewöhnlich sprachbegabt. Sie können etwa Verben besonders schnell konjugieren oder Worte wiederholen.

Auch Fehler bei der Sinnesverarbeitung können sich positiv auswirken. Wer wegen eines Gendefekts gehörlos ist, weil das Hörzentrum keinen Input bekommt, dessen andere vier Sinne sind ungewöhnlich stark ausgeprägt. Die Amerikanerin Sue Thomas etwa war so perfekt im Lippenlesen, dass das FBI sie Ende der 1970er-Jahre engagierte, um die Gespräche von Verdächtigen auf Stummfilmaufnahmen anhand der Mundbewegungen zu "hören". Auch Blinde verlassen sich auf ihr Gehör, wenn sie sich in einem Raum orientieren.

Das Gehirn ist eben kein fest verdrahteter Computer, es wird ständig neu umgebaut und passt sich an seine Umwelt an. Auch einen Schlaganfall versucht das Gehirn auszugleichen, bestehende Nervenverbindungen können die Aufgaben von geschädigten Bereichen übernehmen. Dabei kann es durchaus zu kuriosen Folgen kommen. Zum Beispiel bei Sabine Kindschuh aus einem Dorf in Thüringen. Nach einem Schlaganfall sprach die damals 57-Jährige auf einmal mit Schweizer Akzent. Dieses Fremdsprachensyndrom ist seit über hundert Jahren bekannt, kommt aber äußerst selten vor: Die Betroffenen plaudern plötzlich in einer anderen Sprache oder einem fremden Dialekt. Doch was nach Sprachgenie aussieht, ist in Wirklichkeit eine Störung der motorischen Steuerung von Lippen, Zungenkörper und Zungenspitze. Die Folge: Worte werden anders ausgesprochen. Manche Patienten verlieren ihren Akzent wieder, wenn sich ihr Gehirn regeneriert.

Sabine Kindschuh spricht also Deutsch mit Schweizer Akzent. Denise Linke jongliert lieber mit Zahlen, als mit Menschen zu reden. Carol Steen sieht Zahlen als Farben. Die Gehirne all dieser Frauen sind außergewöhnlich, anders als der Durchschnitt. Krank sind sie deshalb nicht. Vielleicht sollten wir es uns abgewöhnen, von Gehirnkrankheiten, Anomalien oder Syndromen zu reden. Jedes Gehirn ist anders, individuell - und jedes hat seine ganz eigenen Stärken und Schwächen. Das Gehirn ist ein unglaublich flexibles Organ, das keine Norm erfüllt. Normal im Kopf, das gibt es nicht.


Nota. - Dass jeder Mensch ein bisschen anders ist, dass die Grenzen des Normalen ein wenig fließen, dass Genie und Wahnsinn bei einander liegen - das sind alles Alltagstrivialitäten, die niemand bestreitet, weil sonst das tägliche Zusammenleben äußerst strapaziös wäre.

Doch muss man sich klarmachen: Das gilt nicht nur für das Ungefähr unserer alltäglichen Begegnungen, sondern in einem strengen Sinn.

Nicht alle Lebern sind gleich, nicht alle Herzen, nicht alle Schilddrüsen, nicht alle Blinddärme. Aber alle von ihnen - nein, der letzte
nicht - haben im Organismus eine bestimmte Funktion, und wenn sie die in auffälliger Weise nicht erfüllen, sind sie krank.

Für unser Gehirn - so, wie es heute ist, unsere stammesgeschichtlich jüngste Erwerbung - gilt das nicht. Welche genau die Funktionen sind, die es zu erfüllen hätte, kann kein Anatom, kein Neurologe, kein Hirnforscher und kein Irrenarzt uns sagen; denn ab wann ein Organismus nicht mehr funktionsfähig ist, ist bei uns längst nicht mehr eine biologische, sondern eine soziokulturelle Frage; und im äußersten Falle eine technologische. Was bei uns irre, was genial und was stinknormal ist, ist vielfältig historisch bedingt - auch das in dieser Abstraktheit eine Trivialität, doch mit den Trivialitäten ist es, wie Friedrich Schlegel einmal bemerkte, so, dass man gerade die Binsenwahrheiten immer wieder mal aussprechen muss, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass sie doch Wahrheiten sind.
JE

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