aus Süddeutsche.de,
Normal im Kopf, das gibt es nicht
Nur langsam erkennen Arbeitgeber, dass die Norm
nicht das Nonplusultra ist. Beim Gehirn sind vermeintliche Fehler in
bestimmten Berufen sogar von Vorteil.
Von Jeanne Rubner
Denise hasst es, wenn man ihr die Hand gibt. Das
Gefühl von nackter Haut auf nackter Haut, das ist eklig. Dann schon
lieber eine Umarmung, da ist zwischen ihr und dem anderen Menschen
wenigstens ein bisschen Stoff. Denise hasst es auch, anderen in die
Augen zu schauen, sie musste es mühsam lernen. Lügnerin nannten andere
Kinder sie deshalb früher. Bis heute versteht Denise nicht, wie man
Freunde findet. Und die meisten Witze kapiert sie auch nicht.
Denise Linke hat Asperger, eine milde Form von Autismus. Das
allerdings weiß sie erst seit ein paar Jahren. Als die heute 27-Jährige
sich einmal die Ohren zuhielt, weil sie den vorbeifahrenden Krankenwagen
unerträglich laut fand, riet ihr ein Bekannter, zum Arzt zu gehen. Nach
vielen Tests und Gesprächen bekam sie die Diagnose. Neben Asperger
leidet sie auch noch an ADHS, der
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, beides kommt häufig
zusammen vor. Inzwischen hat sie das Onlinemagazin N#mmer gegründet, eine Anspielung darauf, dass Autisten häufig gut mit Zahlen umgehen können.
"Wenn wir etwas mögen, sind wir super fokussiert"
Auch Denise mag Zahlen, die sind nüchtern, zuverlässig. Woher die
Vorliebe für Ziffern und Nummern und die Abneigung gegen Körperkontakt,
laute Krankenwagen oder Kaugeräusche ihrer Mitmenschen kommt, ist
unklar. Aber fest steht, dass Autismus nicht, wie lange angenommen, eine
Folge gefühlskalter Mütter oder von Impfungen ist. Etwas im Gehirn von
Denise und anderen Autisten ist anders verdrahtet. Wenn ein Kind
heranwächst, baut sich sein Gehirn ständig um. Neue Nervenfasern
entstehen, aber viele Verbindungen werden auch gekappt. Bei Autismus ist
die normale Entwicklung gestört, und Bereiche, die daran beteiligt
sind, die Gefühle anderer zu erkennen, sind davon betroffen.
Aber dafür, sagt auch Denise, können sie sich
ziemlich gut auf bestimmte Aufgaben konzentrieren. "Wenn wir etwas
mögen, sind wir super fokussiert", so die junge Frau. Das ungewöhnlich
verschaltete Gehirn von Menschen mit Autismus bringt ungewöhnliche
Fähigkeiten mit sich. Mit ihrer Liebe für klare Regeln und für Details
fällt es ihnen sehr viel leichter, Fehler in Softwarecodes zu finden als
vermeintlich "normale" Menschen. Die Wirtschaft hat das inzwischen
erkannt, Firmen wie SAP oder die speziell gegründete Berliner Auticon
stellen gezielt Autisten ein.
Asperger, der Gehirnzustand der Nerds und Firmengründer
Man muss natürlich kein Autist sein, um in Physik oder Informatik
zu reüssieren. Aber Studenten in Cambridge, die in Naturwissenschaften
oder Technik eingeschrieben sind, haben öfter autistische Verwandte als
Literaturstudenten, wie der britische Autismus-Forscher Simon
Baron-Cohen herausgefunden hat - und tragen damit zumindest die
genetische Anlage für Autismus. Und in Internetkreisen gilt Asperger,
die milde Autismus-Variante, als Gehirnzustand der Nerds und
erfolgreichen Firmengründer. "The Geek Syndrom" nannte das Szene-Magazin
Wired Asperger, die Krankheit der Computernerds.
Oder Raymond: Als eine Packung Zahnstocher herunterfällt, erkennt er auf einen Blick, dass 246
Holzstücke am Boden liegen. Der Autist, im Film Rain Man gespielt von
Dustin Hoffman, kann nach einem Abend das gesamte Telefonbuch auswendig.
Savant-Syndrom (Gelehrtensyndrom) heißen die besonderen Begabungen von
Menschen, die unter einer Gehirnkrankheit wie Autismus leiden. Vor
Kurzem haben zwei US-Ärzte ein weltweites Register von 329
Fällen zusammengetragen. Ein Betroffener etwa kann 22 514
Dezimalstellen der Zahl Pi aufsagen, ein anderer liest einen Text in
weniger als zehn Sekunden und weiß danach, was auf der Seite stand.
Stärken und Schwächen kennen und gezielt einsetzen
Wenn sie einen Job
suchen, gehen Savants aber oft leer aus. Für Arbeitgeber wiegen ihre
Defizite schwerer als ihre Begabungen. Ein Fehler, findet Peter Falkai,
Chef der Psychiatrischen Uniklinik in München. Einer seiner Patienten
war schon als Kind ungewöhnlich kaltblütig. Als gelernter Sprengmeister
hat er nie Angst und macht einen guten Job. Erst als er ein Team von
Mitarbeitern leiten soll, ist er überfordert und beginnt zu trinken. Man
muss die Stärken und Schwächen der Menschen kennen, sagt Falkai, und
sie entsprechend einsetzen.
In kreativen Bereichen bescheren "Gehirnkrankheiten" hingegen
leichter Erfolg. Manche Künstler haben beispielsweise eine ungewöhnliche
Verschaltung der Sinnesnerven, die - ähnlich wie bei einem LSD-Trip -
einen Sinnesrausch und -tausch erzeugen kann. Synästhesie ist in
kreativen Kreisen zum Codewort für besondere Begabung geworden. Jeder
vierte Künstler sagt, schon einmal synästhetische Erfahrungen gemacht zu
haben. Beyoncé, Kanye West und Lady Gaga sollen Synästhetiker sein.
In den USA kümmert sich die American Synesthesia Association um
ihre Belange. Gegründet hat sie Carol Steen. Die New Yorker Malerin, die
für ihre farbenfrohen Ölbilder bekannt ist, sieht eine Fünf nicht
einfach nur als Zahl, sondern als die Farbe Gelb. Der Wochentag
Donnerstag ist burgunderrot, und die Glocke im Aufzug ihres
Apartmenthauses bimmelt wie ein "unglaublich helles Magenta".
Zahnschmerzen fühlen sich orange an. Eines ihrer Bilder ist eine
leuchtend rote Fläche, gesprenkelt mit blauen Flecken und durchzogen von
grünen Linien. Steen hat gemalt, was sie sieht, wenn sie bei der
Akupunktur ist, um ihre Kopfschmerzen behandeln zu lassen und die Nadeln
am Ende herausgezogen werden.
Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander
Als Carol Steen sieben Jahre alt war, erzählte sie einer
Mitschülerin, dass der Buchstabe A das schönste Rosa sei. Die verstand
gar nicht, was Carol meinte. Höchstens fünf von hundert Menschen sind
Synästhetiker. Normalerweise werden Töne, Gerüche oder Lichtmuster in
unterschiedlichen Bereichen im Kopf verarbeitet, das Gehirn funktioniert
dabei ähnlich wie eine Postzentrale. Alle Briefe mit einer
Einser-Postleitzahl kommen auf das eine Laufband, die mit einer Zwei
oder Drei auf andere. Bei Synästhetikern aber werden ständig Briefe, die
eigentlich nach Berlin sollen, nach Hamburg geschickt. Es gibt auch
eine Form der Synästhesie, bei der Sprache oder Schrift
Geschmacksempfindugen auslöst oder bestimmten Zahlen
Charaktereigenschaften zugeschrieben werden (dann wird die Fünf zum
Beispiel zickig).
Hirnforscher vermuten, diese beruhe darauf, dass zwischen
Sinneszentren - etwa Farbzentrum und Hörzentrum - zusätzliche
Nervenbahnen verlaufen. Wegen der üppigen Querverbindungen entstehen
ungewöhnliche Assoziationen, zum Beispiel Wortfarben. Man könnte auch
sagen, dass ein Teil der Sinnesnerven ständig miteinander redet. Diese
Gehirnanomalie macht besonders kreativ, Sinneseindrücke lassen das
Gehirn zu Hochform auflaufen - nur eben anders.
Ähnlich empfinden Menschen mit Schizophrenie. Sie leiden unter
Halluzinationen, sehen Gegenstände, die es nicht gibt, und hören Stimmen
von Menschen, die nicht in ihrer Nähe sind. Diese virtuellen
Erfahrungen, die wir gern als "verrückt" bezeichnen, können die
Betroffenen aber auch kreativ machen. Vermutlich litt Vincent van Gogh
an schizophrenen Schüben. Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander, das
hat schon Aristoteles bemerkt.
Das Gehirn ist ein Organ, das keine Norm erfüllt.
Gehirnanomalien haben also durchaus ihre Vorteile. Auch für Kinder
mit Tourette-Syndrom, die unter Tics leiden. Sie schreien oder stöhnen
plötzlich, ihre Muskeln zucken, ohne dass sie etwas dagegen tun könnten.
Aber dafür sind sie außergewöhnlich sprachbegabt. Sie können etwa
Verben besonders schnell konjugieren oder Worte wiederholen.
Auch Fehler bei der Sinnesverarbeitung können sich positiv
auswirken. Wer wegen eines Gendefekts gehörlos ist, weil das Hörzentrum
keinen Input bekommt, dessen andere vier Sinne sind ungewöhnlich stark
ausgeprägt. Die Amerikanerin Sue Thomas etwa war so perfekt im
Lippenlesen, dass das FBI sie Ende der 1970er-Jahre engagierte, um die
Gespräche von Verdächtigen auf Stummfilmaufnahmen anhand der
Mundbewegungen zu "hören". Auch Blinde verlassen sich auf ihr Gehör,
wenn sie sich in einem Raum orientieren.
Das Gehirn ist eben kein fest verdrahteter Computer, es wird
ständig neu umgebaut und passt sich an seine Umwelt an. Auch einen
Schlaganfall versucht das Gehirn auszugleichen, bestehende
Nervenverbindungen können die Aufgaben von geschädigten Bereichen
übernehmen. Dabei kann es durchaus zu kuriosen Folgen kommen. Zum
Beispiel bei Sabine Kindschuh aus einem Dorf in Thüringen. Nach einem
Schlaganfall sprach die damals 57-Jährige auf einmal mit Schweizer
Akzent. Dieses Fremdsprachensyndrom ist seit über hundert Jahren
bekannt, kommt aber äußerst selten vor: Die Betroffenen plaudern
plötzlich in einer anderen Sprache oder einem fremden Dialekt. Doch was
nach Sprachgenie aussieht, ist in Wirklichkeit eine Störung der
motorischen Steuerung von Lippen, Zungenkörper und Zungenspitze. Die
Folge: Worte werden anders ausgesprochen. Manche Patienten verlieren
ihren Akzent wieder, wenn sich ihr Gehirn regeneriert.
Sabine Kindschuh spricht also Deutsch mit Schweizer Akzent. Denise
Linke jongliert lieber mit Zahlen, als mit Menschen zu reden. Carol
Steen sieht Zahlen als Farben. Die Gehirne all dieser Frauen sind
außergewöhnlich, anders als der Durchschnitt. Krank sind sie deshalb
nicht. Vielleicht sollten wir es uns abgewöhnen, von Gehirnkrankheiten,
Anomalien oder Syndromen zu reden. Jedes Gehirn ist anders, individuell -
und jedes hat seine ganz eigenen Stärken und Schwächen. Das Gehirn ist
ein unglaublich flexibles Organ, das keine Norm erfüllt. Normal im Kopf,
das gibt es nicht.
Nota. - Dass jeder Mensch ein bisschen anders ist, dass die Grenzen des Normalen ein wenig fließen, dass Genie und Wahnsinn bei einander liegen - das sind alles Alltagstrivialitäten, die niemand bestreitet, weil sonst das tägliche Zusammenleben äußerst strapaziös wäre.
Doch muss man sich klarmachen: Das gilt nicht nur für das Ungefähr unserer alltäglichen Begegnungen, sondern in einem strengen Sinn.
Nicht alle Lebern sind gleich, nicht alle Herzen, nicht alle Schilddrüsen, nicht alle Blinddärme. Aber alle von ihnen - nein, der letzte nicht - haben im Organismus eine bestimmte Funktion, und wenn sie die in auffälliger Weise nicht erfüllen, sind sie krank.
Für unser Gehirn - so, wie es heute ist, unsere stammesgeschichtlich jüngste Erwerbung - gilt das nicht. Welche genau die Funktionen sind, die es zu erfüllen hätte, kann kein Anatom, kein Neurologe, kein Hirnforscher und kein Irrenarzt uns sagen; denn ab wann ein Organismus nicht mehr funktionsfähig ist, ist bei uns längst nicht mehr eine biologische, sondern eine soziokulturelle Frage; und im äußersten Falle eine technologische. Was bei uns irre, was genial und was stinknormal ist, ist vielfältig historisch bedingt - auch das in dieser Abstraktheit eine Trivialität, doch mit den Trivialitäten ist es, wie Friedrich Schlegel einmal bemerkte, so, dass man gerade die Binsenwahrheiten immer wieder mal aussprechen muss, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass sie doch Wahrheiten sind.
JE
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