Raffael, Die Schule von Athen: Plato und Aristoteles.
aus nzz.ch, Richard David Precht über die Gegenwart
«Der Philosophie steht eine neue grosse Zeit bevor»
Der
deutsche Philosoph Richard David Precht lotet im Gespräch die schmale
Grenze zwischen Tief- und Schwachsinn aus und erörtert, wozu das
Nachdenken übers Leben in politischen Umbruchphasen dient.
Herr Precht, als Medienkonsumentin habe ich den Eindruck: So viel Philosophie war noch nie. In TV- und Radiosendungen, in Online-Foren, Zeitschriften und Bestsellern – überall wird philosophiert. Leben wir in goldenen Zeiten für die Philosophie?
Ja. Gesellschaftliche Krisen- und Umbruchzeiten sind immer gute Zeiten für die Philosophie. Ihre beiden grössten Phasen hatte sie ja einmal in der klassischen Antike, und zwar just in dem Moment, als die attische Demokratie in die Brüche ging, und dann in der Aufklärung. Da ging es darum, den Übergang vom feudalen ins bürgerliche Zeitalter zu gestalten – das wäre ohne die Philosophie gar nicht denkbar gewesen. Und so kann es durchaus sein, dass wir derzeit Vergleichbares erleben und der Philosophie eine neue grosse Zeit bevorsteht.
Jetzt sind wir direkt auf einer beträchtlichen Flughöhe gelandet. In Ihren Büchern, die von der Liebe, dem Egoismus oder dem Umgang mit Tieren handeln, geht es ja vorab um konkrete lebensweltliche Fragen. Steht da nicht eher das Bedürfnis nach persönlichem Sinn als das Interesse an gesellschaftlicher Umgestaltung hinter dem Erfolg?
Bei der Sinnsuche kann ich gewiss niemandem behilflich sein! Mein Buch über das Bildungssystem
zum Beispiel dreht sich sehr konkret um die Frage, wie man eine
gesellschaftliche Struktur aufbricht, die dringend revolutioniert werden
muss. Bildung ist ja übrigens ein klassisches Thema der Aufklärung –
über genau diesen Gegenstand haben auch die damaligen Philosophen sehr
intensiv nachgedacht. Und was die Titel angeht, die Sie ansprechen, so
schreibe ich die nie in therapeutischer Absicht; die Philosophie ist
keine Problemlösungsinstanz. Ich versuche lediglich, in gewissen
Themenkomplexen etwas aufzuräumen und den Lesern Wege zu weiterführenden
Gedanken zu weisen.
Schon
das philosophische Aufräumen scheint mir eine etwas paradoxe Tätigkeit
zu sein: Die Philosophie zeichnet sich doch durchs Zweifeln und
Hinterfragen aus – und ist damit eher dazu angetan, die vielbeklagte
Komplexität des Lebens zu vergrössern, statt zu reduzieren.
Ich
will ja nie die Komplexität der Dinge reduzieren. Mein Ziel ist immer
das, was ich als grundsätzliche Aufgabe der Philosophie erachte: die
Menschen dazu zu bringen, gerne und reflektiert über ihr Leben
nachzudenken. Und um das zu bewerkstelligen, habe ich den Anspruch, in
meinen Büchern keinen einzigen Satz stehen zu haben, der nicht von einem
«normalen» Menschen verstanden werden kann – egal, wie kompliziert die
Materie ist.
Andere
wissenschaftliche Disziplinen leben auch damit, dass sie nicht von
«allen» verstanden werden. Wie weit kann die Philosophie auf die
Allgemeinheit zugehen, ohne sich selbst abzuschaffen?
Sie schafft sich ab, wenn sie nicht auf die Allgemeinheit zugeht! Das hat sie ja seit ihren Ursprüngen getan: Platon
hat Dialoge verfasst, in denen er Leute wie in einer Talkshow
miteinander reden liess, und Aristoteles schrieb einen ganz einfachen
Stil. Kant
hätte das eigentlich auch gerne getan, er hat darunter gelitten, dass
der Stil der «Kritik der reinen Vernunft» von seinem Kollegen Christian
Garve schwer kritisiert wurde. Denn wenn etwas sehr unverständlich ist,
dann verbirgt sich hinter dem Tiefsinn meistens Schwachsinn – diese
Formulierung stammt von Kant! Natürlich gab es wie heute immer auch
Philosophen, die sich quasi qua komplizierten Stils Exklusivität sichern
wollten. Das ist aber eher eine ziemlich deutsche Aberration als eine
Tradition in der Geschichte der Philosophie: Die allermeisten
Philosophen wollten zu allen Zeiten auf so viele Menschen wie möglich
wirken.
Ein Ziel
freilich, das sie nie erreichten: Gerade in der Antike verfügten doch
die wenigsten Leute über die Zeit, die es braucht, um sich den Luxus des
Philosophierens leisten zu können.
Natürlich,
es war immer eine privilegierte Schicht, die an der Philosophie
teilhatte, und die verfügbare Zeit spielte eine entscheidende Rolle.
Aber auch das kommt der Philosophie gegenwärtig vermutlich entgegen:
Heute haben viele Leute sehr viel Zeit. Und in Zukunft werden noch viel mehr Leute noch viel mehr Zeit haben.
Nanu? Gemäss dem gängigen Diskurs leben wir doch in einer Gesellschaft, in der die dauergestressten Menschen vom stetig wachsenden Leistungsdruck zermürbt werden.
Ja,
aber das wird verschwinden. Das ist ein Übergangsphänomen. 10 bis 20
Prozent der Bevölkerung werden wohl weiterhin immer mehr arbeiten – aber
ganz viele Leute werden gar keine Arbeit mehr haben: Wir werden in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten gewaltig viele Berufsgattungen
verschwinden sehen; all die höherrangigen Dienstleistungsberufe wird es
in absehbarer Zeit nicht mehr geben.
Sind Sie da wirklich so pessimistisch?
Wieso denn pessimistisch? Das ist doch schön: Die Leute müssen nicht mehr arbeiten . . .
. . . und können sich ganz aufs Philosophieren konzentrieren. Wunderbar! Aber wer soll das finanzieren?
Ach, Finanzierung! Es wird viele Probleme geben, aber die Finanzierung gehört nun wirklich nicht dazu. Der Sinn der ganzen Rationalisierung,
die in der Arbeitswelt vor sich geht, besteht ja in der
Effizienzsteigerung. Eine Maschine arbeitet unendlich viel günstiger als
ein Mensch, und sie kostet auch keine Sozialabgaben. Folglich können
unglaubliche Gewinne gemacht werden, sprich: Geld wird hinreichend zur
Verfügung stehen.
Sprich: Finanzierung ist gleichbedeutend mit Umverteilung, den einen nehmen und den anderen geben?
«Philosophie heisst, dem Leben einen Sinn geben.» - David Precht, Philosoph, Talkshow-Gast, Dozent und Bestsellerautor
Natürlich,
wenn die Gewinne vernünftig umverteilt werden, haben alle Leute
genügend Mittel zur Verfügung. In der Schweiz haben ja jüngst immerhin
schon gut 20 Prozent für das bedingungslose Grundeinkommen gestimmt. In spätestens zehn Jahren wird das in vielen westeuropäischen Ländern eingeführt, das garantiere ich Ihnen.
Eine
steile These – und also eine heikle Garantie. Ich formuliere die Frage
Ihren Präferenzen gemäss um: Sind Sie da wirklich so optimistisch? Die
Rede vom Menschen, der durch die Maschine verdrängt und letztlich
überflüssig wird, zirkuliert schon seit den Anfängen des 19.
Jahrhunderts. Tatsächlich ist die Arbeit jedoch nie verschwunden,
sondern immer hat sie sich verlagert.
Ja,
aber diesmal liegen die Dinge anders. Es gibt ja sogar ein ökonomisches
Gesetz aus den 1950ern, das Solow-Modell, das besagt, dass jeder
technische Fortschritt am Ende mehr Arbeitsplätze schafft, als er deren
hinwegnimmt. Sehr oft und sehr lange hat das auch wirklich gegolten –
was aber zum Beispiel auch damit zusammenhing, dass ständig neue Märkte
erschlossen werden konnten; das ist heute nicht mehr der Fall. Und dazu
kommt ein fundamentaler Unterschied: Hinter der ganzen Digitalisierung
steht die Idee, effektiver und günstiger zu produzieren, und zwar
weitgehend ohne den Menschen. Das ist etwas komplett anderes als das,
was zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stattgefunden
hat: Damals ging es noch um eine Umschichtung. Das heisst, aus Bauern
wurden Fabrikarbeiter. Etwas Ähnliches passiert heute aber nicht – in
welche Felder sollten Hausärzte oder Juristen denn plötzlich wechseln
können?
Da sind
Sie mir etwas zu voreilig: Dass auch sämtliche Denkprozesse von den
Maschinen übernommen werden, scheint mir alles andere als ausgemacht.
Beim Denken bin ich auch skeptisch, aber bei Jura muss man nun wirklich nur selten denken! Die Juristerei
ist ja letztlich nichts anderes als ein einziges grosses
Ordnungssystem, das man ganz leicht durchrattern kann. Das gibt's auch
bereits: Kennen Sie «Watson», die semantische Suchmaschine von IBM? Ein
Computer, in den Sie jede normale juristische Frage eingeben können und
daraufhin Ihre Expertise ausgedruckt bekommen. Natürlich wird es
weiterhin Juristen geben, die sich mit komplizierten Dingen befassen,
die kreative Lösungen verlangen. Aber der Feld-Wald-und-Wiesen-Jurist,
der wird wie etliche andere Dienstleister verschwinden.
Angenommen, das stimmt: Was kann denn nun die Philosophie für diese neuen Zeiten bieten?
Nun,
es wird für all die Menschen, für die keine Arbeit mehr da ist, künftig
darum gehen, ihrem Leben jenseits der Erwerbsarbeitswelt einen Sinn zu
geben. Das ist eine enorm anspruchsvolle Aufgabe, bei der die
Philosophie nicht als Problemlöserin auftreten kann. Aber die Tatsache,
dass es eine Tradition gibt, die sich seit langem im kreativen
Nachdenken über das Leben übt, dürfte unter den neuen Umständen durchaus
hilfreich sein.
Die
ökonomische Situation verleiht der Philosophie also Auftrieb. Reden wir
noch über die politische. Sie haben eingangs erwähnt, dass die Krise
der Demokratie im antiken Griechenland mit einer Blüte der Philosophie
einherging. Dass die Demokratie heute wieder in der Krise ist, dürften
viele bestätigen. Aber spielt die Philosophie in dieser Situation noch
irgendeine Rolle?
Sie
spielt ganz sicher nicht mehr die gleiche Rolle: Gestalterisch wirken
wie in der Antike oder in der Aufklärungszeit kann die Philosophie heute
nicht mehr. Und dies aus dem einfachen Grund, dass die Politik selber
nichts mehr gestaltet. Politik ist heute, völlig pragmatisch, darauf
fokussiert, «Probleme zu lösen» – das Erarbeiten von Gestaltungsräumen,
wozu die Philosophie durchaus etwas beizutragen hätte, ist in der
Politik kein Thema mehr. Folglich kann sie nur noch unterschwellig
darauf hinwirken, in der Bevölkerung ein kritisches Bewusstsein zu
schaffen oder wachzuhalten.
Wenn die Politik doch pragmatisch wäre! Eher hat man den Eindruck, dass sie fernab von den Fakten operiert. Während die Philosophie Strömungen kennt, die einen «neuen Realismus»
propagieren, feiern in der Politik subjektive Wahrheitsbegriffe –
sprich: Lügen –, Verschwörungstheorien und dergleichen mehr fröhliche
Urständ.
Ich glaube,
das grösste Problem besteht darin, dass das, was wir «Realpolitik»
nennen und was nahezu alle Politiker betreiben, dass das in Wahrheit
keine Realpolitik ist. Realpolitik bedeutet heute, das zu machen, was
gerade opportun ist – ohne strategisches Verständnis dafür, was das
mittel- oder langfristig bedeutet. Das kann sehr gut dazu führen, dass
wir in eine völlig falsche Richtung laufen. Nehmen Sie den Hyperkonsum
als Beispiel: Man betreibt die totale Ausplünderung sämtlicher
Ressourcen der Welt, damit wir unsere Wohnzimmer mit Dingen vollstellen
können, von denen wir nicht einen Fünftel brauchen. Daran festzuhalten,
ist keine Realpolitik; real wäre die Feststellung, dass der ganze Planet
zugrunde geht. Und doch lautet die Losung jeder Partei, egal, ob sie
links oder rechts steht: «Wir brauchen Wirtschaftswachstum.» Wie
Lemminge laufen sie alle in dieselbe Richtung, und das Irrste ist, dass
als irr gilt, wer die Richtigkeit dieser Richtung und also die
vermeintliche Realpolitik infrage stellt.
Sie
spitzen zu, denken sozusagen schrill. Eine Stufe bescheidener stellt
sich die Frage: Wie kann die Philosophie oder der Philosoph politische
Irrläufe heute stoppen oder mindestens beeinflussen?
Indem
er immer und immer wieder die Hand hebt, sich äussert und das
Bewusstsein der Leute schärft – denn ebendieses sickert irgendwann in
die Politik ein. Die versucht ja über Meinungsforschung und Ähnliches
dauernd herauszukriegen, was die Bürger fühlen, und genau dieses Fühlen
und Denken der Leute kann man als öffentlicher Intellektueller ein ganz kleines bisschen mitbeeinflussen.
Passiert das genug? Man beklagt ja allenthalben gerade wieder sehr laut das Schweigen der Dichter und Denker.
Man
kann das durchaus beklagen – aber auch ziemlich leicht erklären. Vorab
bei den Dichtern: Wer sich wundert, weshalb wir keinen Grass und keinen
Böll mehr haben, der verkennt die spezielle historische Situation, in
der diese Stimmen aufgekommen sind. Zumindest in Deutschland lag das
daran, dass fast die ganze Hochschulintelligenz durch das «Dritte Reich»
diskreditiert war: In dieser Konstellation haben die jungen
Kahlschlag-Autoren die Rolle moralisch-gesellschaftlicher Vertrauens-
und Verantwortungspersonen übernommen. Das war im Prinzip aber eher
ungewöhnlich und nicht traditionsgemäss das Kerngeschäft der Literaten.
Dass sie eine Zeitlang ausgiebig öffentlich auftraten, war in meinen
Augen eine Sonderentwicklung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg
anbahnte und später wieder zerfiel.
Intervenierende
Denker aus Sozial- und Geisteswissenschaften gab's daneben ja aber
durchaus – oder hängen wir hier einem Mythos nach?
Nein,
auf diesem Feld hat sich wirklich Fundamentales verändert. Müsste ich
Ihnen zehn öffentlich bedeutende universitäre Geisteswissenschafter aus
den 1960ern oder 1970ern aufzählen, würde mir das keine Mühe machen: All
die Dahrendorfs,
Mitscherlichs, Marcuses oder Becks, die wir hatten, entsprachen noch
dem Rollenmodell der gesellschaftlich «Einwirkenden». Die gibt es heute
nicht mehr. Und woran liegt das? An der Empirifizierung der Fächer. Am
Computer.
Klingt gut. Aber konkret: Was heisst das?
Das
heisst: Wer heute als Soziologe, als Medienwissenschafter oder als
Politologe Professor werden will, muss messen. Darin besteht heute die
intellektuelle Aufgabe, dafür kriegt man Mittel, und so kommt man
weiter. Nicht mehr weiter kommt man, indem man spekulative Theorien über
die Gesellschaft aufstellt, wie Niklas Luhmann das noch tat. Und in
genau dieser Entwicklung liegt der Grund für das intellektuelle
Schweigen. Denn mit Zahlen, die noch dazu innert Tagesfrist veralten,
schafft man keine Geschichten, keine Paradigmen für die Gesellschaft.
Man schafft mit ihnen bestenfalls einen Fundus, aus dem sich irgendein
Staatssekretär für irgendeine Rede gelegentlich bedienen kann. Weiter
reicht ihre Wirkung nicht.
Die
Philosophie ist von dem sozialwissenschaftlichen Zahlenwahn ja nicht
direkt befallen. Weshalb verhalten sich – auch – ihre Vertreter dennoch
eher ruhig?
Die universitäre Philosophie leidet unter der Vorrangstellung einer spezifischen Richtung – der analytischen Philosophie –, die sich komplexen logischen Problemen auf der Meta-Ebene widmet.
Das tut sie auf sehr intelligente Weise, das will ich gar nicht
bestreiten – aber sie gibt damit keine Impulse für das Leben der
Menschen. Folglich sind die allermeisten Hochschulphilosophen in der
Öffentlichkeit gänzlich unbekannt. Und umgekehrt haben leider die
wenigsten Professoren das Gefühl, dass sie der Allgemeinheit für das
Geld, das sie verdienen, irgendetwas weitergeben müssten, was in die
Nähe einer aktiven Gestaltung der Gesellschaft käme.
Sie
reden nun schon fast selbst wie ein Politiker. Gehört das Einwirken auf
die Gesellschaft etwa zur Existenzberechtigung des Philosophen?
Nein,
das gehört es nicht. Aber es war die ursprüngliche Triebfeder, der
Grund dafür, dass es die Philosophie überhaupt gibt. Ich rufe wieder
Platon in Erinnerung: Wenn er Erkenntnistheorie betrieb, tat er das
nicht um der Erkenntnistheorie willen, wie die analytische Philosophie
das heute tut. Ihm ging es darum, die Polis zu reformieren – und zu
diesem Zweck betrieb er Erkenntnistheorie.
Haben Sie sich schon einmal überlegt, in die Politik einzusteigen?
Natürlich nicht! Kennen Sie etwa ein gutes Beispiel für einen Philosophen-Politiker?
Nein,
aber nachdem wir gerade heftig auf die Empirie eingedroschen haben,
müsste für ein kleines Gedankenexperiment ja eigentlich Platz sein.
Nicht zuletzt, weil gerade Platon es auch angestellt und die Figur des
Philosophenkönigs entworfen hat. Hand aufs Herz: Würde es Ihrer Meinung
nach dem Staat oder der Demokratie bessergehen, wenn er von Philosophen
regiert oder geführt würde?
Interessant
scheint mir vor allem, dass Platon den Vorschlag für den
Philosophenherrscher in der Politeia gemacht hat, selber aber alle
Chancen auf eine Politkarriere ausschlug. Gehabt hätte er sie durchaus,
schliesslich kam er aus einer von Athens gewichtigsten
Oligarchenfamilien. Er hätte die Rolle eines Perikles spielen können,
hat aber zugunsten des Philosophendaseins darauf verzichtet. So viel zu
Platon. Und was würde denn passieren, wenn heute irgendein bekannter
Philosoph statt Angela Merkel in Deutschland das Kanzleramt besetzte?
Die Welt würde dadurch kein bisschen besser, und zwar aus dem Grund, den
wir bereits erörtert haben: weil Politik heute keine echte
Gestaltungsaufgabe mehr ist.
Das
ist ziemlich defaitistisch: Der politisierende Philosoph könnte ja
gerade darauf hinwirken, die Politik wieder zur Gestaltungsaufgabe zu
machen.
Dann stellen
Sie sich die Sache bitte einmal konkret vor. Der Philosoph, der in die
Politik will, müsste zuerst in eine Partei eintreten. Schon das würde
mir zum Beispiel sehr schwer fallen: Ich wüsste nicht, in welche ich
sollte. Und dann müsste er in dieser Partei auch noch akzeptiert werden –
da hat ja keiner auf ihn gewartet –, und zwangsläufig müsste er sich
herrschenden Meinungen unterwerfen, wenn er überleben wollte.
Metaphorisch gesagt: Der Philosoph käme als Bergkristall in die Partei
und wäre nach wenigen Wochen entweder zum Bachkiesel abgeschliffen oder
wieder draussen.
Lassen
wir Parteipolitik und Kanzleramt einmal beiseite und legen die Latte
etwas tiefer: Die Frage, ob man mit der Teilnahme an den Geschäften
nicht mehr erreicht als mit dem Verbreiten von Worten, stellt sich ja
ganz grundsätzlich. Vor einiger Zeit haben Sie in einem Essay für einen
ethischen Umgang mit Flüchtlingen plädiert. Ist es Ihnen je in den Sinn
gekommen, direkt in die «Krise» einzugreifen und beispielsweise in einem
Flüchtlingsheim auszuhelfen?
In
den Sinn schon. Ich bin aber der Meinung, dass man entweder das eine
oder das andere tun kann. Ich habe ja auch noch ein Leben – eine
Beziehung, einen Sohn –, und wenn ich mir mein Arbeitspensum anschaue,
wüsste ich nicht, wann ich noch Zeit für einen Einsatz im
Flüchtlingsheim haben sollte. Ich könnte dann irgendetwas anderes von
dem, was ich tue, nicht machen.
Klar,
aber eben das ist ja die entscheidende Frage: Womit erzielt der mitten
im Leben stehende Philosoph die grösste Wirkung, wie bewegt er am
meisten?
Ich
vermute, dass ich mit dem, was ich kann, etwa einem Essay in einer
grossen Zeitung, mehr erreiche als mit einem persönlichen Arbeitseinsatz
– ausser, ich würde ihn medial begleiten lassen, um den Leuten
zuzurufen: Schaut her, ich mache das, macht das doch auch! Aber das
würde man mir übel als Selbstdarstellerei auslegen, das wäre einfach zu
peinlich. Das heisst nun aber umgekehrt bloss nicht, dass ich die Arbeit
eines jeden in einem Flüchtlingsheim nicht für genauso wichtig oder für
wichtiger halte als jene, die ich mache. Letztlich ist ja sehr schwer
zu sagen, was man mit Reden und Schreiben wirklich erreicht. Ich würde
das Ausmass dessen, was ich bewirke, nicht allzu hoch einschätzen. Aber
nichts ist es vielleicht auch nicht.
Nota. - Als ich sah, dass Herr Precht der Neuen Zürcher ein großes Interview über Gott und die Welt gegeben hat, habe ich schonmal nach dem Schlüssel zu meinem Giftschrank genestelt. Aber nachdem ich es gelesen habe, finde ich zu meiner Überraschung gar nichts Beanstandenswertes; und allzu populär ist es auch nicht.
Zunächst einmal: Gerade zu dem Thema ist er völlig im Recht. Nicht nur ist das philosophische Fach ursprünglich entstanden, um tief in die Polis hineinzuwirken, und ein Philosophierer, der nicht auch und ganz besonders ein Polites ist, kann höchstens Fußnoten in die Welt setzen. Aber deshalb muss er nicht, ach, sollte er nicht selber Politiker sein, denn erstens ist das ein öffentlicher Beruf, und einen solchen hat der Philosophierer selbst schon; und zweitens - ja, so ist das heute - müsste er die Ochsentour in einer Partei auf sich nehmen, und dabei würde ihm das Philosophieren vergehen.
In wiefern soll der Philosophierer - nicht die Philosophie, das ist was anderes! - in die Polis wirken? Indem er möglichst viele Menschen, die dafür das Zeug und eine Ader haben, ins Philosophieren hereinzieht und verstrickt. Man muss und darf wohl hoffen, dass auch die dann ihren Platz in der Polis ausfüllen und dabei Kreise ziehen. Darum sollte er nicht durch vertrackte Ausdrucksweise den Zugang zu seinem Geschäft unnötig erschweren.
Das ist der exoterische Grund für einfache Schreib- und Sprechart. Aber sie hat auch einen esoterischen Grund, der schwerer wiegt. Die Mühe der schlichten Ausdrucksweise ist sowohl ein Mittel der Selbstprüfung, denn sie ist die Probe darauf, wie sicher man sich seiner Sache wirklich schon ist, als auch ein Denkschrittmacher, denn denken - und philosophieren zumal - ist vereinfachen. Nicht für die andern - für sich selbst muss der Philosophierer die einfache Sprache pflegen; sobald er nämlich so weit ist.
Nicht einverstanden bin ich, wenn ich nicht irre, mit dem, was Precht unter Philosophie selbst versteht. Er redet von der Krise der athenischen Demokratie und vom Zeitalter der Aufklärung, als 'die Philosophie' gestaltend in die Gesellschaft eingegriffen hätte, und meint, eine solche Rolle könne ihr heute wieder zufallen. Um mich zu überzeugen, dass sie damals etwas gestaltet hat und nicht vielmehr selber der Ausdruck einer Krise war, die sie selber verschärft hat, müsste er sich eine Menge einfallen lassen. Aber wichtiger ist, dass Philosophie heute etwas anderes ist als damals.
Zwischen damals und heute hatte die Philosophie nämlich ihre Kopernikanische Wende. Wenn sie vorher faktisch eher zersetzend wirkte, war ihr Selbstverständnis dennoch ein positives, sie wollte aufbauen. Aber seit Kant ist sie kritisch, sie zerstreut den falschen Schein.
Nein, ist sie nicht, aber hätte sie sein sollen. Die Kritische alias Transzendentalphilosophie hat nur ein paar Jahre lange geblüht (und wie!), aber dann haben gleich die Dunkelmänner wieder das Kommando übernommen. Heute ist die Situation so: Die eine Hälfte der Philosophie - die von Precht richtig angezeigte 'analytische' - ist unverhohlen positivistisch; die andere Hälfte ist philologisch-papiern. Bedeutung fürs Leben - sei's der Polis, sei's der Individuen - nehmen beide nicht in Anspruch.
Hat Philosophie, die nach Kant ihren Namen nur als kritische rechtfertigen kann, irgend einen ausgezeich- neten Ort in der Gesellschaft, an dem sie wirken könnte? Wirken, ohne positiv zu sein?!
Nein, einen ausgezeichneten Ort hat sie nicht. Ihr Ort ist überall. Sie verspritzt ihr Gift mit Vorliebe dort, wo es am meisten wehtut.
JE
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