Millet, Un vanneur
aus nzz.ch, 17.11.2016, 05:30 Uhr
Ingenieure verändern die Welt
Das riskante Denken der Gegenwart
Es sind die Ingenieure und Computerspezialisten, die unsere Welt umgestalten, nicht die nach Wahrheit suchenden Naturwissenschafter.
Früh im zwanzigsten Jahrhundert haben die Namen der naturwissenschaftlichen Nobelpreisträger gestrahlt, als wären sie Symbole für die höchste Erfüllung des Menschseins durch aktives Denken. Selbst die Nationalsozialisten in Berlin reagierten mit Krisenstimmung auf den Entschluss des österreichischen Staatsbürgers Erwin Schrödinger, der im Jahr ihrer «Machtergreifung» den Nobelpreis für Physik gewonnen hatte, nach einem Ferienaufenthalt in Italien nicht auf seinen Lehrstuhl in der deutschen Hauptstadt zurückzukehren.
Als «Gesicht des Jahrhunderts» galten lange Zeit Fotografien von Schrödingers deutsch-jüdischem Nobel-Vorgänger Albert Einstein, der dem Albtraum des Nazismus entfloh und in Princeton überlebte. Figuren wie ihn, Marie Curie oder Werner Heisenberg verehrte man dafür, der Natur in langwierigen Forschungsprozessen das Geheimnis ewiger Wahrheiten abgerungen und sie in Gestalt mathematischer Formeln aufgeschrieben zu haben.
Heute bleiben die Namen der jeweils jüngsten Nobelpreisträger kaum länger als einen Tag nach ihrer Ankündigung präsent. Die Auszeichnung gilt zwar weiterhin als die grösste denkbare Ehre für die meist akademischen Institutionen, wo solche Spitzenforscher arbeiten, und als Anzeichen für die Stärke nationaler Wissenschaftssysteme. Doch ihr gesellschaftlicher Stellenwert ist auf den Status von Chiffren für fortgeschrittene Erkenntnisse geschrumpft, deren Komplexität unser nichtspezialisiertes Denken überfordert und deren möglichen Einfluss auf unser Leben wir kaum erahnen.
Heideggers Einsicht
Nicht mehr die den tiefen Wahrheiten verpflichteten Forscher besetzen heute die Rolle der intellektuellen Helden (oder Pop-Stars). Vielmehr ist es der Typ des Ingenieurs, der das Alltagsleben einschneidend und unumkehrbar verändert, ohne dabei je einen Wahrheitsanspruch zu erheben: Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg zum Beispiel; die Google-Gründer Larry Page und Sergei Brin, ihre frühere Kollegin Marissa Mayer oder der in Südafrika geborene Tesla-Chef Elon Musk.
Worin genau ihre individuelle Innovationsleistung lag, wer die ausschlaggebenden Ideen für den Apple-Screen, das iPhone, die Suchmaschinen, den Navigator oder das selbststeuernde Auto hatte, ist in der Öffentlichkeit kaum mehr nachvollziehbar. Und an die Stelle von Nobelpreisen sind inzwischen Patente getreten. Sie haben als Schlüssel zu Schwindel und Neid erregenden Milliardenvermögen die eher asketische Aura des naturwissenschaftlichen Geistes ersetzt. Der Geist unserer Gegenwart hat – so scheint es – im Silicon Valley Quartier genommen (oder in Hyderabad, dem besonders lebhaften indischen Zentrum des elektronischen Denkens). Diesen Ortswechsel von Europa nach Kalifornien oder Südindien hat eine Veränderung des Denkstils begleitet.
Vertrautheit und Distanz
Ausgerechnet der deutsche Blut-und-Boden-Intellektuelle Martin Heidegger hat den Übergang seit den späten dreissiger Jahren in seiner Kritik der modernen Naturwissenschaft erahnt und – wenigstens ansatzweise – beschrieben. Mit den Forschungsprozessen der Newton-Tradition verbindet er den Begriff der «Vorhandenheit». Ausserhalb, gleichsam «vor» der Natur stehend, deutet das menschliche Bewusstsein deren Gegenstände mit abstrakten Begriffen und mathematischen Formeln, was zu der (natürlich nicht angestrebten) Wirkung eines immer weiter wachsenden Abstands zwischen der Natur in ihrer Konkretheit und der auf das Bewusstsein reduzierten menschlichen Existenz führt (und zu der möglichen Folge einer gnadenlosen Beherrschung der Natur durch die Vernunft, wie sich heute aus ökologischer Sicht ergänzen liesse).
Heideggers positiver Gegenbegriff ist die «Zuhandenheit». Damit beschreibt er eine schon immer gegebene Vertrautheit der verkörperten menschlichen Existenz mit der Welt der Dinge, ein «In-der-Welt-Sein» der Menschen, das sie in eine Beziehung wechselseitiger «Sorge» mit der Natur versetzt (man kann hier, wie es Heidegger gerne tat, an einen Hirten, aber auch an einen «umweltbewussten» Architekten denken).
Den Alltag gestalten
Es gibt in Heideggers späten Texten einige Anhaltspunkte für die Vermutung, dass er tatsächlich den intellektuellen Gestus des Ingenieurs mit «Zuhandenheit» assoziierte. Jedenfalls macht uns seine Unterscheidung darauf aufmerksam, wie es dem dominierenden Denken der Gegenwart um die Gestaltung des je gegenwärtigen Alltags geht, um eine Gestaltung gleichsam aus seiner Innenseite heraus – und nicht um ewige mathematische Wahrheiten im Sinn der Wissenschaftstradition.
Statt sie zu beschreiben, erschaffen die Ingenieure von heute Wirklichkeiten; und in den Visionen, die dafür entscheidend sind, liegt ein Bruch gegenüber der Logik der Naturwissenschaften, so sehr auch ihre Arbeit die Einsichten vor allem der Physik voraussetzt und benutzt.
Dieser Bruch eines ganz anderen Verhältnisses zu den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften wurde zuerst deutlich in den Bildern und Wünschen einer Folgegeneration von Spezialisten, welche die seit den vierziger Jahren (etwa dank Alan Turing) entstandenen Rechenmaschinen transparenter und für unser Verhalten im Alltag effizienter machen wollten: durch einen neuen Computerbildschirm, der die Rechenleistungen der Maschinen sichtbar, allgemein zugänglich und am Ende tatsächlich berührbar werden liess (im Aspekt dieser Berührbarkeit vor allem lag für viele Computerspezialisten der ersten Generation noch ein Tabubruch im wörtlichen Sinn); oder durch die unser Verhältnis zu Wissen und Bildung revolutionierenden Suchmaschinen, die das stets begrenzte Vermögen des menschlichen Gedächtnisses ersetzen und exponentiell steigern.
Die Welt in der Hand
Was die Elektronikspezialisten und ihr Denken in den vergangenen dreissig Jahren erfunden haben, waren nicht mehr «wissenschaftliche» Lösungen von Problemen, sondern erste und dann immer entschlossenere Schritte zur Umgestaltung der vertrauten Welt.
Mit der in dieser Hinsicht beispielhaften Gestalt des iPhone ist die Metapher von der «Welt in unserer Hand» zu einer Realität geworden. Da solche Gegenstände und Instrumente einem Denken des Bruchs entspringen, das die Praxis des Alltags durch aktive Interventionen verändern will, lassen sich unvorhersehbare Nebenwirkungen und vor allem schwer kalkulierbare Risiken im selben Alltag kaum vermeiden. Vielleicht sind mittlerweile die Furcht vor solchen Konsequenzen und die von ihr verursachten Kosten grösser geworden als der tatsächliche Schaden und die wahren Bedrohungen.
Jedenfalls ist beständig davon die Rede, wie der Gebrauch von Laptops und iPhones Spuren hinterlässt, die ihre Benutzer manipulierbar und vielleicht sogar erpressbar machen; die unmittelbare Verfügbarkeit allen Wissens könnte einen Effekt seiner Banalisierung eingeleitet haben; die Vervollkommnung unserer Orientierung im Raum durch Navigatoren mag die sinnliche Nähe zu den im Raum präsenten Dingen schwächen.
Durchbruch und Risiko
Nirgends ist die risikogeladene Zweideutigkeit des neuen, durch die elektronischen Rechner möglich gewordenen Denkens so dramatisch hervorgetreten wie in den vor wenigen Jahren durch die «Entzifferung» des Genoms ausgelösten Debatten. Dieser intellektuelle Durchbruch hatte das Horrorszenario systematischer Genmanipulation zu einem nicht mehr abzuweisenden Horizont unserer Existenz gemacht. Doch zugleich eröffnete er, wie der Zeitdiagnostiker Peter Sloterdijk zu Recht betonte, den Traum von der «Produktion» einer moralisch besseren Menschheit.
Gerade in der Produktion von unerwünschten Nebeneffekten oder Risiken unterscheidet sich die – beständiger Kritik ausgesetzte – Arbeit der Ingenieure allerdings gerade nicht von den – noch immer in der asketischen Aura ihres intellektuellen Höchstprestiges stehenden – Naturwissenschaften. Immerhin hat uns die Nuklearphysik als ihre Königsdisziplin die nie mehr eliminierbare Möglichkeit einer kollektiven Selbstzerstörung der Menschheit durch die Detonation der heute gehorteten Atomsprengköpfe eingebracht.
Und die Geisteswissenschaften?
Wirklich verschieden ist das neue Ingenieursdenken aber vor allem in seinem Stil gegenüber dem Denken der Naturwissenschafter, wie sehr schnell deutlich wird, wenn man einen Programmierspezialisten unserer Gegenwart dazu bringt, den Prozess seiner kreativen Arbeit zu beschreiben. Die wissenschaftliche Stringenz immanenter Logiken oder Methodologien liegt ihm offenbar fern.
Erfolgreich schreibe elektronische Codes allein, so erfährt man von den Praktikern, wer seinen individuellen, weder begrifflich noch mathematisch fassbaren Intuitionen vertraue. Denn offenbar entsteht am Anfang einer jeden Aufgabe, die man sich in dieser Dimension stellt, der Anschein einer Überkomplexität von Verfahrensmöglichkeiten, die in rein rationaler Weise nicht zu reduzieren oder gar produktiv zu verarbeiten ist. Zu produktiven Lösungen führen allein idiosynkratische Wege, wie sie erfolgreichen Programmierern immer wieder einfallen – und ihren weniger talentierten Kollegen eben nur selten.
Die Denkform von Ingenieuren und Designern liesse sich deshalb als «Kontemplation» beschreiben, das heisst als eine fokussierte und zugleich entspannte Konzentration, die offen für das Unerwartete der eigenen Intuitionen und das unerwartete Andere ist. Kontemplation, das wissen wir aus der Tradition der Mystik, vollzieht sich am produktivsten in der Nähe zur Imagination, also in der Nähe zu Bildern und Visionen, die aus körperlicher Vertrautheit mit der Welt (eher denn aus abstrakten Begriffen) entspringen. Kontemplation und Imagination schliesslich gedeihen am besten unter der Rahmenbedingung einer Kopräsenz verschiedener Denkformen in wechselseitiger Offenheit – was genau es so schwer macht, die spezifischen Durchbrüche des riskanten Denkens je einzelnen Denkern zuzuschreiben.
Philosophen im Silicon Valley
Es mag wie ein Paradox wirken, dass der Stil des Denkens unserer Gegenwart, genauer: der Denkstil unter den neuen Ingenieuren, ausgerechnet an klassische Darstellungen des geisteswissenschaftlichen Denkens erinnert, etwa an einige Passagen aus Wilhelm von Humboldts Notizen für die Gründung von «höheren wissenschaftlichen Anstalten zu Berlin» aus den Jahren 1809/1810. Doch dieser Eindruck konvergiert nur mit einer sich verstärkenden Tendenz der neuen Technologien und Industrien, gerade geisteswissenschaft- lich gebildeten Bewerbern Stellen anzubieten. Unter den College-Absolventen der Stanford University hat Silicon Valley in den vergangenen Jahre tatsächlich nicht mehr Studenten aus den Ingenieursfächern eingestellt als aus der Philosophie, Geschichte oder Literatur.
Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert-Guérard-Professor für Literatur an der Stanford University und Gastprofessor am Collège de France.
Nota. - Was er nicht ausspricht, aber durchklingen lässt: Wenn in den Ingenieursdisziplinen zusehends an die Stelle des diskursiven, definierte Begriffe durch geprüfte Methoden regelgerecht verknüpfende Denken die Intuition tritt, gerät die Vernünftigkeit unserer Weltauffassung selbst in Gefahr. Der franzsösische ingénieur stammt vom lateinischen ingenium ab, der eingeborenen Inspiration. Wir würden auf ein neues Geniezeitalter zusteuern, wo begeisterte Führerpersönlichkeiten eine unkontrollierte Macht ausübern, die der gesunde Menschenverstand der breiten Massen nur mit offenem Maul anstaunen kann.
Gumbrecht zählt sich sicher selber zu den Inspirierten, da macht ihn die Vorstellung eines Großen Comeback der Geisteswissenschaften nicht bange. Aber dass die Intuitionen auch durch eine wetteifernde scientic community schwerer zu kontrollieren sind als die rationellen Diskurse, wird er nicht bestreiten. Da kommt mehr Farbe, aber auch mehr Unberechenbarkeit in die Bude: Riskant, wie er richtig sagt.
Es war aber ein Irrtum, die Herrschaft der Vernunft mit Berechenbarkeit gleichzusetzen. Er hat ein Viertel- jahrtausend geherrscht, doch wäre es Zeit, ihn zu korrigieren. Die technische Anwendbarkeit ihrer Produkte ist nur die eine Dimension der Vernunft. Sie hat die westlichen Gesellschaften lange genug beherrscht. Sie ist das, was während der langen Geschichte der Arbeitsgesellschaft im allgemeinen und der kapitalistischen Produktionsweise im besondern von der Vernunft im Vordergrund stand; und das vorherrschende Motiv des Denkens war - der Naturwissenschaften wie der Philosophie.
Das konnte kaum anders sein, solange die überwältigende Mehrheit der in der Welt Tätigen mit technischen Anwendungen beschäftigt war, mit der Ausführung vorgegebener Projekte. Lat. proiectum bedeutet lexikalisch fast dasselbe wie gr. problema, und wenn beide Begriffe sich durch verschiedene Anwendung auseinander entwickelt haben, darf das im Rückblick nicht darüber täuschen, dass das Bild, das ursprünglich hinter beiden stand, das ist, was das deutsche Wort Vorstellung bezeichnet. Die Vorstellung ist das Gemeinte, das, worauf abgesehen wird, das, was dem Tätigen seinen Zweck vorgibt.
Der Begriff ist nur dessen marktgängige Verpackung, in der es weitergereicht und vor-geschrieben werden kann - dem, der es ausführen soll. Die Begriffe lassen sich zweckmäßig verknüpfen, sie lassen sich in Formeln tun und gegeneinader verrechnen. Die Begriffe beherrschen die technische Zivilisation.
Müssen sie nicht die Hypertechnik der digitalen Welt erst recht beherrschen?
Nein, eben nicht. Je mehr die ausführenden Tätigkeiten von den Maschinen übernommen werden, umso weniger Verpackung wird nötig. Der Algorithmus, dumm und dürftig, tritt an ihre Stelle. Das
Vorstellen selbst, das bildhafte Entwerfen von Absichten, das Einbilden tritt in seine Erstgeburtsrechte zurück.
Die Vernunft ist ursprünglich intuitiv, wörtlich: anschaulich, nämlich solange sie noch probiert. Der Begriff tritt nun in sein Zweitgeburtsrecht zurück: als Prüfstein. Das Erfinden ist eins, aber ohne Prüfung ist es nicht einmal die Hälfte. Je freier das bildhafte Vorstellen wird, umso nötiger wird die Kritik durch die Begriffe. Je einfallsreicher die ingeniösen Ingenieure werden, umso wichtiger wird die Kritische Philosophie. Sie trennt das Korn von der Spreu.
JE
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