Samstag, 12. November 2016

Leibniz: Rationalismus und blühende Phantasie.

aus nzz.ch, 12.11.2016, 05:30 Uhr                                                                                               Monsù Desiderio

Leibniz und die möglichen Welten der Literatur
Die blühende Phantasie des Rationalismus
Leibniz wird zwar gemeinhin dem philosophischen Rationalismus zugeschlagen, aber seine Vernunftkünste wären ohne – schweifende – Phantasie nicht, was sie sind.

von Karl-Heint Ott

Der Name Leibniz steht für alles andere als Literatur. Wenn man anlässlich seines dreihundertsten Todestags des Gelehrten wissenschaftliche Leistungen Revue passieren lässt, dürften Kunst und Dichtung die geringste Rolle spielen. In der Literatur taucht Leibniz fast nur bei Voltaire auf, dessen «Candide» ein einziger Spottgesang auf Leibniz' Theorie von der besten aller möglichen Welten ist. Wer wie Leibniz behauptet, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, muss unweigerlich Kopfschütteln hervorrufen. Voltaire konnte sich des allgemeinen Beifalls sicher sein, als er angesichts des vielen Unglücks seinen Candide stöhnen lässt: «Wenn das hier die beste aller möglichen Welt ist, wie müssen dann erst die anderen sein?»

Musik ohne Dissonanzen?

Ob Voltaire begriffen hat oder überhaupt begreifen wollte, was Leibniz damit wirklich meint, steht dahin. Immerhin wird jener moralische Hohn, wie Voltaire ihn zelebriert, in Leibniz' «Theodizee» bereits ausführlich auf sein Fundament hin überprüft, das einzig und allein in der Überzeugung besteht, dass es nichts Grösseres und Wichtigeres gibt als unseren menschlichen Blickwinkel. Leibniz dagegen geht davon aus, dass noch lange nicht schlecht fürs Ganze sein muss, was uns selbst als schlecht erscheint.

Zwar können wir unsere egozentrische Perspektive nicht überwinden und das Leben auch nicht von aussen betrachten, doch in Leibniz' Augen sollten wir wenigstens versuchen, den Blick aufs Allumfassende zu lenken und die eigennützigen Interessen probeweise auszublenden. Dass Welten vorstellbar sind, in denen es kein Unglück gibt, steht auch für Leibniz ausser Frage, nur bezweifelt er, dass sie tatsächlich besser wären.


Wie etwa eine Musik klingen würde, die keine Dissonanzen kennt, führt uns Grillparzer mit seinem «Armen Spielmann» vor, der auf seiner Geige nur Schönes hervorbringen will und deshalb alle Noten weglässt, die normalerweise als Zwischen- und Übergangstöne die Harmonie beleben. Was dabei herauskommt, ist die schlimmste Katzenmusik, weshalb seine Auftritte zur Hölle werden, wie es bei Grillparzer heisst. Wenn Leibniz erklärt, dass Kunstwerke von der Einheit des Diversen leben, gilt das nicht nur für Kompositionen, Gemälde und Romane, sondern fürs ganze Leben und die Welt überhaupt.

Leibniz' Beobachtung, dass kein einziges Blatt, kein einziger Mensch, keine einzige Wolke identisch mit einem oder einer andern ist, führt ihn zu der Annahme, dass in keiner möglichen anderen Welt eine derart grosse Vielfalt denkbar ist. Vielfalt belebt das Zusammenspiel der Kräfte, sorgt aber auch dafür, dass es nicht ohne Reibungen und Konflikte abgeht. Die schlechtere Alternative bestünde für Leibniz in einer Ordnung, die nichts Ungleiches zulässt und in toter Harmonie versinkt. Moralisch gesehen, mag eine solche Ordnung zwar gerechter sein, unter architektonischen und ästhetischen Gesichtspunkten ist sie nicht vorzuziehen.

Da die Dinge in einer facettenreichen Welt kompliziert sind, weigert sich Leibniz, das Gute und Wahre als schlichtes Gegenteil des Bösen und Falschen zu sehen. Obwohl er eine der ersten Rechenmaschinen entwickelt hat und bis heute als bedeutender Mathematiker gilt, reduziert sich für ihn, was man Wahrheit nennt, mitnichten auf Dinge, deren Richtigkeit sich rechnerisch feststellen lässt. Descartes, für den es nur Wahr und Falsch gibt, hält er entgegen, dass unser Wahrnehmen und Denken aus allerlei Abstufungen besteht und wir unentwegt zwischen klaren, vagen und wirren Erkenntnissen schwanken, gar nicht zu reden davon, dass es uns nie vergönnt ist, das grosse Ganze in den Blick zu bekommen.

Auch Vernunft und Phantasie, Logisches und Intuitives sind für Leibniz keine Gegensätze, sondern Aggregatzustände, die aus immerwährenden Übergängen bestehen. Anders als so manche Philosophen, die seit Platons Zeiten ein skeptisches Verhältnis gegenüber den Schimären der Dichtung pflegen, rühmt Leibniz die Literatur für ihre Fähigkeit, der Phantasie freien Lauf zu lassen. Im Fiktiven, argumentiert er, spielen wir Varianten des Möglichen durch und bereichern dadurch die Wirklichkeit.

Eine Erzählung am Ende

Am Ende seiner «Theodizee» verlässt er das Feld der trockenen Argumentation und sucht Zuflucht bei einer Erzählung, um seine Theorie von der besten aller möglichen Welten zu veranschaulichen. Er greift auf einen Dialog des Humanisten Lorenzo Valla zurück, in dem es um die Frage geht, wie unser Leben durch Gottes Vorsehung vorherbestimmt sein kann, obwohl der Mensch doch einen freien Willen besitzt. Judas gibt dafür das beste Beispiel ab: Er muss zum Verräter werden, um die Erlösungsgeschichte voranzutreiben, für seine Tat jedoch büssen, als habe er sie aus freien Stücken begangen.

Ein weiteres Exempel liefern Lorenzo Vallas Dialoge in Gestalt des Sextus Tarquinius, der vor seiner Vergewaltigung der Lucretia vom delphischen Orakel geweissagt bekam, dass er verbannt und getötet werde. Es widerfährt ihm das Gleiche wie Ödipus, der den Voraussagen des Orakels mit allen Mitteln zu entgehen sucht, gerade dadurch aber ins Verderben rennt.

Leibniz spinnt die Geschichte des Sextus noch durch eine eigene Phantasie fort und lässt ihn in eine Pyramide geraten, wo in zahllosen Räumen all das, was wirklich geschieht, aber auch das, was lediglich vorstellbar ist, wie auf einer Bühne durchgespielt wird. Sextus schaut sich alle seine möglichen Leben an und liest in ausliegenden Büchern, wie jede Kleinigkeit sich in seinen verschiedenen Leben zutragen würde. Am Ende gelangt er zur Spitze der Pyramide, wo sein tatsächliches Leben aufgeführt wird. Er muss, obwohl es Schreckliches enthält, erkennen, dass es das bestmögliche ist, und sei es deshalb, weil Rom wegen seiner Untaten von der Tyrannei seiner Familie befreit wird.

Jorge Luis Borges muss der finale Schlenker der «Theodizee» derart fasziniert haben, dass er eine ganz ähnliche Geschichte erfunden hat. Sie trägt den Titel «Der Garten der Pfade, die sich verzweigen» und erzählt von einem chinesischen Agenten, der für die Deutschen arbeitet und während des Ersten Weltkriegs in England erfährt, dass er aufgeflogen ist und so gut wie keine Hoffnung auf Rettung mehr besteht. Auf seiner Flucht gelangt er in einen Garten voller Weggabelungen, der die Welt als Ganzes darstellt, und zwar nicht nur die reale, sondern auch die virtuelle mit ihren endlosen Alternativen.

Eine babylonische Bibliothek

Dem Chinesen bietet sich die Möglichkeit, alle Varianten seiner Zukunft durchzuspielen: Im einen Fall wird er getötet, im andern gelingt ihm die Flucht, einmal wird der Feind zum Freund, ein andermal ist es andersherum und so weiter und so fort. Schliesslich entscheidet er sich für alle zusammen.

Borges liebt nicht nur das Labyrinthische, sondern auch die Vorstellung, dass die ganze Welt sich in einem einzigen Buch konzentriert und alle Bücher zusammen eine babylonische Bibliothek ergeben, in der eine Mischung aus Übersichtlichkeit und Durcheinander herrscht. Er greift damit auf Bilder und Ideen von Leibniz zurück, die von einem Kosmos künden, der aus tausenderlei Auffaltungen besteht und in dem das nötige Mass an Ordnung bloss dazu dient, grösstmögliche Vielfalt zu gewährleisten.

Obwohl Leibniz als einer der Hauptvertreter des klassischen Rationalismus gilt, hat er vielleicht wie kein anderer, zumindest unter den Philosophen, mit Gedankenmodellen gespielt, die in aller Regel als reinste Phantastereien abgetan werden. Er hat damit zu einer Zeit, in der eine Weile fast nur noch von Vernunft die Rede sein sollte, die literarische Zügellosigkeit mit all ihrem Irr- und Wirrsinn geadelt. An den Herzog und Barockdichter Anton Ulrich von Wolfenbüttel schreibt er am 26. April 1713: «Es ist eine von der Romanmacher besten Künsten, alles in Verwirrung fallen zu lassen und dann unverhofft heraus zu wickeln.»

Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott lebt in der Nähe von Freiburg im Breisgau. 2015 erschien bei Hanser sein Roman «Die Auferstehung».


Nota. - Der eine denkt, wenn er barock sagt, an Bach und Heinrich Schütz, der andere an Rubens und Caravaggio. Wer an Rubens und Caravaggio denkt, würde Descartes, Spinoza und Leibniz kaum zu den Barockdenkern zählen. "Rationalistisch? Im Barock schwelgt und wabert doch alles!"

Dass uns heute barocke Musik eher streng und berechnet vorkommt und barocke Malerei eher üppig und zügellos, liegt vielleicht mehr an unserm modernen 20. Jahrhundert, als an der Barockkunst selbst. Doch fasziniert war das 17. Jahrhundert von der unergründlichen Allmacht der Vernunft nicht minder als vom Hokuspokus der alchimistischen Magie. Fasziniert wollte es wohl sein, und dafür war das eine Extrem so gut wie das andere - sofern es nur vom drögen Dogma der Amtskirchen freimachte. 

Wenn man den Rationalismus in seinen Kinderschuhen als eine Befreiung ansieht und nicht als ein aufgeklärtes Korsett, kann man Leibniz ohne weiteres als Rationalisten und als Barockmenschen ansehen. Dass die Rationalität in den Zeiten von Technik und Industrie dann viel von ihrer Fsazination verloren hat, steht auf einem andern Blatt geschrieben.
JE 

 

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