Dienstag, 29. November 2016

Opium des Volks.

aus scinexx

Blick ins religiöse Gehirn 
Religiöses Hochgefühl aktiviert Belohnungszentrum des Gehirns 

Glaubenserfahrungen im Hirnscanner: Intensive spirituelle Erfahrungen lösen im Gehirn ähnliche Reaktionen aus wie Liebe, Sex, Musik und Drogen. Denn beim religiösen Hochgefühl feuert das Belohnungszentrum des Gehirns besonders stark, wie Hirnscans bei gläubigen Mormonen belegen. Aber auch Zentren für Aufmerksamkeit und rationale Entscheidungen waren bei ihrer religiösen Praxis aktiver als sonst, wie Forscher im Fachmagazin "Social Neuroscience" berichten. 


Religion und Spiritualität prägen ganze Gesellschaften und gelten als kulturelle Triebkraft, sie sind gleichzeitig aber auch oft der Auslöser von Konflikten und Kriegen. Gleichzeitig spielt Religion im Leben vieler Menschen eine wichtige Rolle – sie stützt in Krisen, hilft bei Entscheidungen und trägt zum emotionalen Wohlbefinden bei. So zeigen Studien, dass sich beim Meditieren und Beten die Hirnaktivität wandelt und diese Praktiken sogar langfristig positive Veränderungen bewirken können.

Blick ins Gehirn frommer Mormonen 

"Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie das Gehirn an Erfahrungen beteiligt ist, die Gläubige als spirituell, göttlich oder transzendent beschreiben", erklärt Seniorautor Jeff Anderson von der University of Utah. Er und seine Kollegen haben untersucht, was sich im Gehirn frommer Mormonen tut, wenn diese "den Geist spüren" – also im Zustand starker religiöser Gefühle sind. 

Für gläubige Mormonen ist dieses beim Gebet oder Gottesdienst auftretende Gefühl ein wichtiger Teil ihrer Religion und dient bei einigen sogar als Basis für Entscheidungen. Ihrem Glauben nach ist dieser intensive emotionale Zustand ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation mit Gott. Sie beschreiben ihn als intensives Gefühl des Friedens und der Nähe zu Gott und zu anderen Menschen, aber auch als Gefühl körperlicher Wärme.

Religiöses Hochgefühl im Hirnscanner 

Für die Studie spielte die Forscher 19 gläubigen Mormonen Zitate aus religiösen Schriften und religiöse Videos vor, während die Teilnehmer im Hirnscanner lagen. Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRI) zeichneten sie die Hirnaktivität der Probanden auf. Diese gaben jeweils nach einem Testabschnitt an, wie stark ihr religiöses Gefühl dabei war. In einem Versuchsdurchgang drückten sie einen Kopf, wenn sie besonders starke Gefühle verspürten. 

Dabei zeigte sich: Die ungewohnte Umgebung des Hirnscanners hinderte die jungen Mormonen nicht daran, sich in einen Zustand intensiver religiöser Emotionen zu begeben. Ähnlich wie während eines Gottesdienstes beschrieben sie ein Gefühl des Friedens und der Wärme, viele waren sogar so bewegt, dass sie Tränen in den Augen hatten, wie die Forscher berichten.

Wie bei Sex, Liebe oder Sucht 

Spannend aber war, was sich im Gehirn der gläubigen Mormonen tat: Während ihres religiösen Hochgefühls feuerten vor allem Neuronen im Nucleus accumbens. Dieses Hirnareal gehört zum Belohnungs-Schaltkreis unseres Gehirns und löst intensive Wohlgefühle aus, wenn wir fundamentale Bedürfnisse oder aber eine Sucht befriedigen.

Die farbigen Flächen markieren die Hirnareale, die bei religiösem Hochgefühl der Mormonen aktiv wurden.
Die farbigen Flächen markieren die Hirnareale, die bei religiösem Hochgefühl der Mormonen aktiv wurden.

Konkret ausgedrückt: Hinter dem spirituellen Hochgefühl der gläubigen Mormonen stehen ähnliche Hirnreaktionen wie bei Liebe, Sex, Musik, aber auch Sucht. Das könnte dafür sprechen, dass religiöse Erfahrungen ähnlich tief in unserer Neurobiologie verwurzelt sind wie viele fundamentale Bedürfnisse des Menschen.

Nicht nur Gefühl pur

Aber Gefühle sind nicht alles: Bei den gläubigen Probanden waren auch Zentren für die Aufmerksamkeit sowie der mediale präfrontale Cortex in Phasen starker spiritueller Empfindungen besonders aktiv. Dieses Hirnareal ist unter anderem für Bewertungen, die Einschätzung von Situationen und moralische Überlegungen zuständig. Demnach hat die religiöse Verzückung bei den Mormonen durchaus eine rationale Komponente.

"Religiöse Erfahrungen gehören zu den vielleicht einflussreichsten Faktoren, wenn Menschen Entscheidungen treffen – zum Guten oder zum Bösen", sagt Anderson. "Umso wichtiger ist es zu verstehen, was dabei im Gehirn passiert und wie es zu diesen Entscheidungen beiträgt." In diesem Punkt stehe man aber gerade bei den westlichen Religionen erst am Anfang, betont der Forscher. (Social Neuroscience, 2016; doi: 10.1080/17470919.2016.1257437)

(University of Utah, 29.11.2016 - NPO)

Sonntag, 20. November 2016

Begriffedämmerung, oder Das Korn und die Spreu.


Millet, Un vanneur
aus nzz.ch, 17.11.2016, 05:30 Uhr

Ingenieure verändern die Welt
Das riskante Denken der Gegenwart 
Es sind die Ingenieure und Computerspezialisten, die unsere Welt umgestalten, nicht die nach Wahrheit suchenden Naturwissenschafter.

von Hans Ulrich Gumbrecht 

Früh im zwanzigsten Jahrhundert haben die Namen der naturwissenschaftlichen Nobelpreisträger gestrahlt, als wären sie Symbole für die höchste Erfüllung des Menschseins durch aktives Denken. Selbst die Nationalsozialisten in Berlin reagierten mit Krisenstimmung auf den Entschluss des österreichischen Staatsbürgers Erwin Schrödinger, der im Jahr ihrer «Machtergreifung» den Nobelpreis für Physik gewonnen hatte, nach einem Ferienaufenthalt in Italien nicht auf seinen Lehrstuhl in der deutschen Hauptstadt zurückzukehren. 

Als «Gesicht des Jahrhunderts» galten lange Zeit Fotografien von Schrödingers deutsch-jüdischem Nobel-Vorgänger Albert Einstein, der dem Albtraum des Nazismus entfloh und in Princeton überlebte. Figuren wie ihn, Marie Curie oder Werner Heisenberg verehrte man dafür, der Natur in langwierigen Forschungsprozessen das Geheimnis ewiger Wahrheiten abgerungen und sie in Gestalt mathematischer Formeln aufgeschrieben zu haben. 

Heute bleiben die Namen der jeweils jüngsten Nobelpreisträger kaum länger als einen Tag nach ihrer Ankündigung präsent. Die Auszeichnung gilt zwar weiterhin als die grösste denkbare Ehre für die meist akademischen Institutionen, wo solche Spitzenforscher arbeiten, und als Anzeichen für die Stärke nationaler Wissenschaftssysteme. Doch ihr gesellschaftlicher Stellenwert ist auf den Status von Chiffren für fortgeschrittene Erkenntnisse geschrumpft, deren Komplexität unser nichtspezialisiertes Denken überfordert und deren möglichen Einfluss auf unser Leben wir kaum erahnen. 

Heideggers Einsicht

Nicht mehr die den tiefen Wahrheiten verpflichteten Forscher besetzen heute die Rolle der intellektuellen Helden (oder Pop-Stars). Vielmehr ist es der Typ des Ingenieurs, der das Alltagsleben einschneidend und unumkehrbar verändert, ohne dabei je einen Wahrheitsanspruch zu erheben: Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg zum Beispiel; die Google-Gründer Larry Page und Sergei Brin, ihre frühere Kollegin Marissa Mayer oder der in Südafrika geborene Tesla-Chef Elon Musk.

Worin genau ihre individuelle Innovationsleistung lag, wer die ausschlaggebenden Ideen für den Apple-Screen, das iPhone, die Suchmaschinen, den Navigator oder das selbststeuernde Auto hatte, ist in der Öffentlichkeit kaum mehr nachvollziehbar. Und an die Stelle von Nobelpreisen sind inzwischen Patente getreten. Sie haben als Schlüssel zu Schwindel und Neid erregenden Milliardenvermögen die eher asketische Aura des naturwissenschaftlichen Geistes ersetzt. Der Geist unserer Gegenwart hat – so scheint es – im Silicon Valley Quartier genommen (oder in Hyderabad, dem besonders lebhaften indischen Zentrum des elektronischen Denkens). Diesen Ortswechsel von Europa nach Kalifornien oder Südindien hat eine Veränderung des Denkstils begleitet. 

Vertrautheit und Distanz

Ausgerechnet der deutsche Blut-und-Boden-Intellektuelle Martin Heidegger hat den Übergang seit den späten dreissiger Jahren in seiner Kritik der modernen Naturwissenschaft erahnt und – wenigstens ansatzweise – beschrieben. Mit den Forschungsprozessen der Newton-Tradition verbindet er den Begriff der «Vorhandenheit». Ausserhalb, gleichsam «vor» der Natur stehend, deutet das menschliche Bewusstsein deren Gegenstände mit abstrakten Begriffen und mathematischen Formeln, was zu der (natürlich nicht angestrebten) Wirkung eines immer weiter wachsenden Abstands zwischen der Natur in ihrer Konkretheit und der auf das Bewusstsein reduzierten menschlichen Existenz führt (und zu der möglichen Folge einer gnadenlosen Beherrschung der Natur durch die Vernunft, wie sich heute aus ökologischer Sicht ergänzen liesse).

Heideggers positiver Gegenbegriff ist die «Zuhandenheit». Damit beschreibt er eine schon immer gegebene Vertrautheit der verkörperten menschlichen Existenz mit der Welt der Dinge, ein «In-der-Welt-Sein» der Menschen, das sie in eine Beziehung wechselseitiger «Sorge» mit der Natur versetzt (man kann hier, wie es Heidegger gerne tat, an einen Hirten, aber auch an einen «umweltbewussten» Architekten denken).

Den Alltag gestalten

Es gibt in Heideggers späten Texten einige Anhaltspunkte für die Vermutung, dass er tatsächlich den intellektuellen Gestus des Ingenieurs mit «Zuhandenheit» assoziierte. Jedenfalls macht uns seine Unterscheidung darauf aufmerksam, wie es dem dominierenden Denken der Gegenwart um die Gestaltung des je gegenwärtigen Alltags geht, um eine Gestaltung gleichsam aus seiner Innenseite heraus – und nicht um ewige mathematische Wahrheiten im Sinn der Wissenschaftstradition.

Statt sie zu beschreiben, erschaffen die Ingenieure von heute Wirklichkeiten; und in den Visionen, die dafür entscheidend sind, liegt ein Bruch gegenüber der Logik der Naturwissenschaften, so sehr auch ihre Arbeit die Einsichten vor allem der Physik voraussetzt und benutzt.

Dieser Bruch eines ganz anderen Verhältnisses zu den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften wurde zuerst deutlich in den Bildern und Wünschen einer Folgegeneration von Spezialisten, welche die seit den vierziger Jahren (etwa dank Alan Turing) entstandenen Rechenmaschinen transparenter und für unser Verhalten im Alltag effizienter machen wollten: durch einen neuen Computerbildschirm, der die Rechenleistungen der Maschinen sichtbar, allgemein zugänglich und am Ende tatsächlich berührbar werden liess (im Aspekt dieser Berührbarkeit vor allem lag für viele Computerspezialisten der ersten Generation noch ein Tabubruch im wörtlichen Sinn); oder durch die unser Verhältnis zu Wissen und Bildung revolutionierenden Suchmaschinen, die das stets begrenzte Vermögen des menschlichen Gedächtnisses ersetzen und exponentiell steigern.

Die Welt in der Hand

Was die Elektronikspezialisten und ihr Denken in den vergangenen dreissig Jahren erfunden haben, waren nicht mehr «wissenschaftliche» Lösungen von Problemen, sondern erste und dann immer entschlossenere Schritte zur Umgestaltung der vertrauten Welt.

Mit der in dieser Hinsicht beispielhaften Gestalt des iPhone ist die Metapher von der «Welt in unserer Hand» zu einer Realität geworden. Da solche Gegenstände und Instrumente einem Denken des Bruchs entspringen, das die Praxis des Alltags durch aktive Interventionen verändern will, lassen sich unvorhersehbare Nebenwirkungen und vor allem schwer kalkulierbare Risiken im selben Alltag kaum vermeiden. Vielleicht sind mittlerweile die Furcht vor solchen Konsequenzen und die von ihr verursachten Kosten grösser geworden als der tatsächliche Schaden und die wahren Bedrohungen.

Jedenfalls ist beständig davon die Rede, wie der Gebrauch von Laptops und iPhones Spuren hinterlässt, die ihre Benutzer manipulierbar und vielleicht sogar erpressbar machen; die unmittelbare Verfügbarkeit allen Wissens könnte einen Effekt seiner Banalisierung eingeleitet haben; die Vervollkommnung unserer Orientierung im Raum durch Navigatoren mag die sinnliche Nähe zu den im Raum präsenten Dingen schwächen.

Durchbruch und Risiko

Nirgends ist die risikogeladene Zweideutigkeit des neuen, durch die elektronischen Rechner möglich gewordenen Denkens so dramatisch hervorgetreten wie in den vor wenigen Jahren durch die «Entzifferung» des Genoms ausgelösten Debatten. Dieser intellektuelle Durchbruch hatte das Horrorszenario systematischer Genmanipulation zu einem nicht mehr abzuweisenden Horizont unserer Existenz gemacht. Doch zugleich eröffnete er, wie der Zeitdiagnostiker Peter Sloterdijk zu Recht betonte, den Traum von der «Produktion» einer moralisch besseren Menschheit.

Gerade in der Produktion von unerwünschten Nebeneffekten oder Risiken unterscheidet sich die – beständiger Kritik ausgesetzte – Arbeit der Ingenieure allerdings gerade nicht von den – noch immer in der asketischen Aura ihres intellektuellen Höchstprestiges stehenden – Naturwissenschaften. Immerhin hat uns die Nuklearphysik als ihre Königsdisziplin die nie mehr eliminierbare Möglichkeit einer kollektiven Selbstzerstörung der Menschheit durch die Detonation der heute gehorteten Atomsprengköpfe eingebracht.

Und die Geisteswissenschaften?

Wirklich verschieden ist das neue Ingenieursdenken aber vor allem in seinem Stil gegenüber dem Denken der Naturwissenschafter, wie sehr schnell deutlich wird, wenn man einen Programmierspezialisten unserer Gegenwart dazu bringt, den Prozess seiner kreativen Arbeit zu beschreiben. Die wissenschaftliche Stringenz immanenter Logiken oder Methodologien liegt ihm offenbar fern.

Erfolgreich schreibe elektronische Codes allein, so erfährt man von den Praktikern, wer seinen individuellen, weder begrifflich noch mathematisch fassbaren Intuitionen vertraue. Denn offenbar entsteht am Anfang einer jeden Aufgabe, die man sich in dieser Dimension stellt, der Anschein einer Überkomplexität von Verfahrensmöglichkeiten, die in rein rationaler Weise nicht zu reduzieren oder gar produktiv zu verarbeiten ist. Zu produktiven Lösungen führen allein idiosynkratische Wege, wie sie erfolgreichen Programmierern immer wieder einfallen – und ihren weniger talentierten Kollegen eben nur selten.

Die Denkform von Ingenieuren und Designern liesse sich deshalb als «Kontemplation» beschreiben, das heisst als eine fokussierte und zugleich entspannte Konzentration, die offen für das Unerwartete der eigenen Intuitionen und das unerwartete Andere ist. Kontemplation, das wissen wir aus der Tradition der Mystik, vollzieht sich am produktivsten in der Nähe zur Imagination, also in der Nähe zu Bildern und Visionen, die aus körperlicher Vertrautheit mit der Welt (eher denn aus abstrakten Begriffen) entspringen. Kontemplation und Imagination schliesslich gedeihen am besten unter der Rahmenbedingung einer Kopräsenz verschiedener Denkformen in wechselseitiger Offenheit – was genau es so schwer macht, die spezifischen Durchbrüche des riskanten Denkens je einzelnen Denkern zuzuschreiben.

Philosophen im Silicon Valley

Es mag wie ein Paradox wirken, dass der Stil des Denkens unserer Gegenwart, genauer: der Denkstil unter den neuen Ingenieuren, ausgerechnet an klassische Darstellungen des geisteswissenschaftlichen Denkens erinnert, etwa an einige Passagen aus Wilhelm von Humboldts Notizen für die Gründung von «höheren wissenschaftlichen Anstalten zu Berlin» aus den Jahren 1809/1810. Doch dieser Eindruck konvergiert nur mit einer sich verstärkenden Tendenz der neuen Technologien und Industrien, gerade geisteswissenschaft- lich gebildeten Bewerbern Stellen anzubieten. Unter den College-Absolventen der Stanford University hat Silicon Valley in den vergangenen Jahre tatsächlich nicht mehr Studenten aus den Ingenieursfächern eingestellt als aus der Philosophie, Geschichte oder Literatur.

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert-Guérard-Professor für Literatur an der Stanford University und Gastprofessor am Collège de France.


Nota. - Was er nicht ausspricht, aber durchklingen lässt: Wenn in den Ingenieursdisziplinen zusehends an die Stelle des diskursiven, definierte Begriffe durch geprüfte Methoden regelgerecht verknüpfende Denken die Intuition tritt, gerät die Vernünftigkeit unserer Weltauffassung selbst in Gefahr. Der franzsösische ingénieur stammt vom lateinischen ingenium ab, der eingeborenen Inspiration. Wir würden auf ein neues Geniezeitalter zusteuern, wo begeisterte Führerpersönlichkeiten eine unkontrollierte Macht ausübern, die der gesunde Menschenverstand der breiten Massen nur mit offenem Maul anstaunen kann.

Gumbrecht zählt sich sicher selber zu den Inspirierten, da macht ihn die Vorstellung eines Großen Comeback der Geisteswissenschaften nicht bange. Aber dass die Intuitionen auch durch eine wetteifernde scientic community schwerer zu kontrollieren sind als die rationellen Diskurse, wird er nicht bestreiten. Da kommt mehr Farbe, aber auch mehr Unberechenbarkeit in die Bude: Riskant, wie er richtig sagt.

Es war aber ein Irrtum, die Herrschaft der Vernunft mit Berechenbarkeit gleichzusetzen. Er hat ein Viertel- jahrtausend geherrscht, doch wäre es Zeit, ihn zu korrigieren. Die technische Anwendbarkeit ihrer Produkte ist nur die eine Dimension der Vernunft. Sie hat die westlichen Gesellschaften lange genug beherrscht. Sie ist das, was während der langen Geschichte der Arbeitsgesellschaft im allgemeinen und der kapitalistischen Produktionsweise im besondern von der Vernunft im Vordergrund stand; und das vorherrschende Motiv des Denkens war - der Naturwissenschaften wie der Philosophie.

Das konnte kaum anders sein, solange die überwältigende Mehrheit der in der Welt Tätigen mit technischen Anwendungen beschäftigt war, mit der Ausführung vorgegebener Projekte. Lat. proiectum bedeutet lexikalisch fast dasselbe wie gr. problema, und wenn beide Begriffe sich durch verschiedene Anwendung auseinander entwickelt haben, darf das im Rückblick nicht darüber täuschen, dass das Bild, das ursprünglich hinter beiden stand, das ist, was das deutsche Wort Vorstellung bezeichnet. Die Vorstellung ist das Gemeinte, das, worauf abgesehen wird, das, was dem Tätigen seinen Zweck vorgibt.

Der Begriff ist nur dessen marktgängige Verpackung, in der es weitergereicht und vor-geschrieben werden kann - dem, der es ausführen soll. Die Begriffe lassen sich zweckmäßig verknüpfen, sie lassen sich in Formeln tun und gegeneinader verrechnen. Die Begriffe beherrschen die technische Zivilisation.  

Müssen sie nicht die Hypertechnik der digitalen Welt erst recht beherrschen?

Nein, eben nicht. Je mehr die ausführenden Tätigkeiten von den Maschinen übernommen werden, umso weniger Verpackung wird nötig. Der Algorithmus, dumm und dürftig, tritt an ihre Stelle. Das
Vorstellen selbst, das bildhafte Entwerfen von Absichten, das Einbilden tritt in seine Erstgeburtsrechte zurück. 


Die Vernunft ist ursprünglich intuitiv, wörtlich: anschaulich, nämlich solange sie noch probiert. Der Begriff tritt nun in sein Zweitgeburtsrecht zurück: als Prüfstein. Das Erfinden ist eins, aber ohne Prüfung ist es nicht einmal die Hälfte. Je freier das bildhafte Vorstellen wird, umso nötiger wird die Kritik durch die Begriffe. Je einfallsreicher die ingeniösen Ingenieure werden, umso wichtiger wird die Kritische Philosophie. Sie trennt das Korn von der Spreu.
JE

 

Samstag, 19. November 2016

Philosophieren fürs Volk?

Raffael, Die Schule von Athen: Plato und Aristoteles.
aus nzz.ch,  

Richard David Precht über die Gegenwart 
«Der Philosophie steht eine neue grosse Zeit bevor»
Der deutsche Philosoph Richard David Precht lotet im Gespräch die schmale Grenze zwischen Tief- und Schwachsinn aus und erörtert, wozu das Nachdenken übers Leben in politischen Umbruchphasen dient. 

Interview von Claudia Mäder

Herr Precht, als Medienkonsumentin habe ich den Eindruck: So viel Philosophie war noch nie. In TV- und Radiosendungen, in Online-Foren, Zeitschriften und Bestsellern – überall wird philosophiert. Leben wir in goldenen Zeiten für die Philosophie? 

Ja. Gesellschaftliche Krisen- und Umbruchzeiten sind immer gute Zeiten für die Philosophie. Ihre beiden grössten Phasen hatte sie ja einmal in der klassischen Antike, und zwar just in dem Moment, als die attische Demokratie in die Brüche ging, und dann in der Aufklärung. Da ging es darum, den Übergang vom feudalen ins bürgerliche Zeitalter zu gestalten – das wäre ohne die Philosophie gar nicht denkbar gewesen. Und so kann es durchaus sein, dass wir derzeit Vergleichbares erleben und der Philosophie eine neue grosse Zeit bevorsteht.
 
Jetzt sind wir direkt auf einer beträchtlichen Flughöhe gelandet. In Ihren Büchern, die von der Liebe, dem Egoismus oder dem Umgang mit Tieren handeln, geht es ja vorab um konkrete lebensweltliche Fragen. Steht da nicht eher das Bedürfnis nach persönlichem Sinn als das Interesse an gesellschaftlicher Umgestaltung hinter dem Erfolg?


Bei der Sinnsuche kann ich gewiss niemandem behilflich sein! Mein Buch über das Bildungssystem zum Beispiel dreht sich sehr konkret um die Frage, wie man eine gesellschaftliche Struktur aufbricht, die dringend revolutioniert werden muss. Bildung ist ja übrigens ein klassisches Thema der Aufklärung – über genau diesen Gegenstand haben auch die damaligen Philosophen sehr intensiv nachgedacht. Und was die Titel angeht, die Sie ansprechen, so schreibe ich die nie in therapeutischer Absicht; die Philosophie ist keine Problemlösungsinstanz. Ich versuche lediglich, in gewissen Themenkomplexen etwas aufzuräumen und den Lesern Wege zu weiterführenden Gedanken zu weisen.

Schon das philosophische Aufräumen scheint mir eine etwas paradoxe Tätigkeit zu sein: Die Philosophie zeichnet sich doch durchs Zweifeln und Hinterfragen aus – und ist damit eher dazu angetan, die vielbeklagte Komplexität des Lebens zu vergrössern, statt zu reduzieren.

Ich will ja nie die Komplexität der Dinge reduzieren. Mein Ziel ist immer das, was ich als grundsätzliche Aufgabe der Philosophie erachte: die Menschen dazu zu bringen, gerne und reflektiert über ihr Leben nachzudenken. Und um das zu bewerkstelligen, habe ich den Anspruch, in meinen Büchern keinen einzigen Satz stehen zu haben, der nicht von einem «normalen» Menschen verstanden werden kann – egal, wie kompliziert die Materie ist.

Andere wissenschaftliche Disziplinen leben auch damit, dass sie nicht von «allen» verstanden werden. Wie weit kann die Philosophie auf die Allgemeinheit zugehen, ohne sich selbst abzuschaffen?

Sie schafft sich ab, wenn sie nicht auf die Allgemeinheit zugeht! Das hat sie ja seit ihren Ursprüngen getan: Platon hat Dialoge verfasst, in denen er Leute wie in einer Talkshow miteinander reden liess, und Aristoteles schrieb einen ganz einfachen Stil. Kant hätte das eigentlich auch gerne getan, er hat darunter gelitten, dass der Stil der «Kritik der reinen Vernunft» von seinem Kollegen Christian Garve schwer kritisiert wurde. Denn wenn etwas sehr unverständlich ist, dann verbirgt sich hinter dem Tiefsinn meistens Schwachsinn – diese Formulierung stammt von Kant! Natürlich gab es wie heute immer auch Philosophen, die sich quasi qua komplizierten Stils Exklusivität sichern wollten. Das ist aber eher eine ziemlich deutsche Aberration als eine Tradition in der Geschichte der Philosophie: Die allermeisten Philosophen wollten zu allen Zeiten auf so viele Menschen wie möglich wirken.

Ein Ziel freilich, das sie nie erreichten: Gerade in der Antike verfügten doch die wenigsten Leute über die Zeit, die es braucht, um sich den Luxus des Philosophierens leisten zu können.

Natürlich, es war immer eine privilegierte Schicht, die an der Philosophie teilhatte, und die verfügbare Zeit spielte eine entscheidende Rolle. Aber auch das kommt der Philosophie gegenwärtig vermutlich entgegen: Heute haben viele Leute sehr viel Zeit. Und in Zukunft werden noch viel mehr Leute noch viel mehr Zeit haben.

Nanu? Gemäss dem gängigen Diskurs leben wir doch in einer Gesellschaft, in der die dauergestressten Menschen vom stetig wachsenden Leistungsdruck zermürbt werden.

Ja, aber das wird verschwinden. Das ist ein Übergangsphänomen. 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung werden wohl weiterhin immer mehr arbeiten – aber ganz viele Leute werden gar keine Arbeit mehr haben: Wir werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gewaltig viele Berufsgattungen verschwinden sehen; all die höherrangigen Dienstleistungsberufe wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben.

Sind Sie da wirklich so pessimistisch?

Wieso denn pessimistisch? Das ist doch schön: Die Leute müssen nicht mehr arbeiten . . .

. . . und können sich ganz aufs Philosophieren konzentrieren. Wunderbar! Aber wer soll das finanzieren?

Ach, Finanzierung! Es wird viele Probleme geben, aber die Finanzierung gehört nun wirklich nicht dazu. Der Sinn der ganzen Rationalisierung, die in der Arbeitswelt vor sich geht, besteht ja in der Effizienzsteigerung. Eine Maschine arbeitet unendlich viel günstiger als ein Mensch, und sie kostet auch keine Sozialabgaben. Folglich können unglaubliche Gewinne gemacht werden, sprich: Geld wird hinreichend zur Verfügung stehen.

Sprich: Finanzierung ist gleichbedeutend mit Umverteilung, den einen nehmen und den anderen geben?

«Philosophie heisst, dem Leben einen Sinn geben.» - David Precht Philosoph, Talkshow-Gast, Dozent und Bestsellerautor (Bild: PD)«Philosophie heisst, dem Leben einen Sinn geben.» - David Precht, Philosoph, Talkshow-Gast, Dozent und Bestsellerautor

Natürlich, wenn die Gewinne vernünftig umverteilt werden, haben alle Leute genügend Mittel zur Verfügung. In der Schweiz haben ja jüngst immerhin schon gut 20 Prozent für das bedingungslose Grundeinkommen gestimmt. In spätestens zehn Jahren wird das in vielen westeuropäischen Ländern eingeführt, das garantiere ich Ihnen.

Eine steile These – und also eine heikle Garantie. Ich formuliere die Frage Ihren Präferenzen gemäss um: Sind Sie da wirklich so optimistisch? Die Rede vom Menschen, der durch die Maschine verdrängt und letztlich überflüssig wird, zirkuliert schon seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich ist die Arbeit jedoch nie verschwunden, sondern immer hat sie sich verlagert.

Ja, aber diesmal liegen die Dinge anders. Es gibt ja sogar ein ökonomisches Gesetz aus den 1950ern, das Solow-Modell, das besagt, dass jeder technische Fortschritt am Ende mehr Arbeitsplätze schafft, als er deren hinwegnimmt. Sehr oft und sehr lange hat das auch wirklich gegolten – was aber zum Beispiel auch damit zusammenhing, dass ständig neue Märkte erschlossen werden konnten; das ist heute nicht mehr der Fall. Und dazu kommt ein fundamentaler Unterschied: Hinter der ganzen Digitalisierung steht die Idee, effektiver und günstiger zu produzieren, und zwar weitgehend ohne den Menschen. Das ist etwas komplett anderes als das, was zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stattgefunden hat: Damals ging es noch um eine Umschichtung. Das heisst, aus Bauern wurden Fabrikarbeiter. Etwas Ähnliches passiert heute aber nicht – in welche Felder sollten Hausärzte oder Juristen denn plötzlich wechseln können?

Da sind Sie mir etwas zu voreilig: Dass auch sämtliche Denkprozesse von den Maschinen übernommen werden, scheint mir alles andere als ausgemacht.

Beim Denken bin ich auch skeptisch, aber bei Jura muss man nun wirklich nur selten denken! Die Juristerei ist ja letztlich nichts anderes als ein einziges grosses Ordnungssystem, das man ganz leicht durchrattern kann. Das gibt's auch bereits: Kennen Sie «Watson», die semantische Suchmaschine von IBM? Ein Computer, in den Sie jede normale juristische Frage eingeben können und daraufhin Ihre Expertise ausgedruckt bekommen. Natürlich wird es weiterhin Juristen geben, die sich mit komplizierten Dingen befassen, die kreative Lösungen verlangen. Aber der Feld-Wald-und-Wiesen-Jurist, der wird wie etliche andere Dienstleister verschwinden.

Angenommen, das stimmt: Was kann denn nun die Philosophie für diese neuen Zeiten bieten?

Nun, es wird für all die Menschen, für die keine Arbeit mehr da ist, künftig darum gehen, ihrem Leben jenseits der Erwerbsarbeitswelt einen Sinn zu geben. Das ist eine enorm anspruchsvolle Aufgabe, bei der die Philosophie nicht als Problemlöserin auftreten kann. Aber die Tatsache, dass es eine Tradition gibt, die sich seit langem im kreativen Nachdenken über das Leben übt, dürfte unter den neuen Umständen durchaus hilfreich sein.

Die ökonomische Situation verleiht der Philosophie also Auftrieb. Reden wir noch über die politische. Sie haben eingangs erwähnt, dass die Krise der Demokratie im antiken Griechenland mit einer Blüte der Philosophie einherging. Dass die Demokratie heute wieder in der Krise ist, dürften viele bestätigen. Aber spielt die Philosophie in dieser Situation noch irgendeine Rolle?

Sie spielt ganz sicher nicht mehr die gleiche Rolle: Gestalterisch wirken wie in der Antike oder in der Aufklärungszeit kann die Philosophie heute nicht mehr. Und dies aus dem einfachen Grund, dass die Politik selber nichts mehr gestaltet. Politik ist heute, völlig pragmatisch, darauf fokussiert, «Probleme zu lösen» – das Erarbeiten von Gestaltungsräumen, wozu die Philosophie durchaus etwas beizutragen hätte, ist in der Politik kein Thema mehr. Folglich kann sie nur noch unterschwellig darauf hinwirken, in der Bevölkerung ein kritisches Bewusstsein zu schaffen oder wachzuhalten.

Wenn die Politik doch pragmatisch wäre! Eher hat man den Eindruck, dass sie fernab von den Fakten operiert. Während die Philosophie Strömungen kennt, die einen «neuen Realismus» propagieren, feiern in der Politik subjektive Wahrheitsbegriffe – sprich: Lügen –, Verschwörungstheorien und dergleichen mehr fröhliche Urständ.

Ich glaube, das grösste Problem besteht darin, dass das, was wir «Realpolitik» nennen und was nahezu alle Politiker betreiben, dass das in Wahrheit keine Realpolitik ist. Realpolitik bedeutet heute, das zu machen, was gerade opportun ist – ohne strategisches Verständnis dafür, was das mittel- oder langfristig bedeutet. Das kann sehr gut dazu führen, dass wir in eine völlig falsche Richtung laufen. Nehmen Sie den Hyperkonsum als Beispiel: Man betreibt die totale Ausplünderung sämtlicher Ressourcen der Welt, damit wir unsere Wohnzimmer mit Dingen vollstellen können, von denen wir nicht einen Fünftel brauchen. Daran festzuhalten, ist keine Realpolitik; real wäre die Feststellung, dass der ganze Planet zugrunde geht. Und doch lautet die Losung jeder Partei, egal, ob sie links oder rechts steht: «Wir brauchen Wirtschaftswachstum.» Wie Lemminge laufen sie alle in dieselbe Richtung, und das Irrste ist, dass als irr gilt, wer die Richtigkeit dieser Richtung und also die vermeintliche Realpolitik infrage stellt.

Sie spitzen zu, denken sozusagen schrill. Eine Stufe bescheidener stellt sich die Frage: Wie kann die Philosophie oder der Philosoph politische Irrläufe heute stoppen oder mindestens beeinflussen?

Indem er immer und immer wieder die Hand hebt, sich äussert und das Bewusstsein der Leute schärft – denn ebendieses sickert irgendwann in die Politik ein. Die versucht ja über Meinungsforschung und Ähnliches dauernd herauszukriegen, was die Bürger fühlen, und genau dieses Fühlen und Denken der Leute kann man als öffentlicher Intellektueller ein ganz kleines bisschen mitbeeinflussen.

Passiert das genug? Man beklagt ja allenthalben gerade wieder sehr laut das Schweigen der Dichter und Denker.

Man kann das durchaus beklagen – aber auch ziemlich leicht erklären. Vorab bei den Dichtern: Wer sich wundert, weshalb wir keinen Grass und keinen Böll mehr haben, der verkennt die spezielle historische Situation, in der diese Stimmen aufgekommen sind. Zumindest in Deutschland lag das daran, dass fast die ganze Hochschulintelligenz durch das «Dritte Reich» diskreditiert war: In dieser Konstellation haben die jungen Kahlschlag-Autoren die Rolle moralisch-gesellschaftlicher Vertrauens- und Verantwortungspersonen übernommen. Das war im Prinzip aber eher ungewöhnlich und nicht traditionsgemäss das Kerngeschäft der Literaten. Dass sie eine Zeitlang ausgiebig öffentlich auftraten, war in meinen Augen eine Sonderentwicklung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg anbahnte und später wieder zerfiel.

Intervenierende Denker aus Sozial- und Geisteswissenschaften gab's daneben ja aber durchaus – oder hängen wir hier einem Mythos nach?

Nein, auf diesem Feld hat sich wirklich Fundamentales verändert. Müsste ich Ihnen zehn öffentlich bedeutende universitäre Geisteswissenschafter aus den 1960ern oder 1970ern aufzählen, würde mir das keine Mühe machen: All die Dahrendorfs, Mitscherlichs, Marcuses oder Becks, die wir hatten, entsprachen noch dem Rollenmodell der gesellschaftlich «Einwirkenden». Die gibt es heute nicht mehr. Und woran liegt das? An der Empirifizierung der Fächer. Am Computer.

Klingt gut. Aber konkret: Was heisst das?

Das heisst: Wer heute als Soziologe, als Medienwissenschafter oder als Politologe Professor werden will, muss messen. Darin besteht heute die intellektuelle Aufgabe, dafür kriegt man Mittel, und so kommt man weiter. Nicht mehr weiter kommt man, indem man spekulative Theorien über die Gesellschaft aufstellt, wie Niklas Luhmann das noch tat. Und in genau dieser Entwicklung liegt der Grund für das intellektuelle Schweigen. Denn mit Zahlen, die noch dazu innert Tagesfrist veralten, schafft man keine Geschichten, keine Paradigmen für die Gesellschaft. Man schafft mit ihnen bestenfalls einen Fundus, aus dem sich irgendein Staatssekretär für irgendeine Rede gelegentlich bedienen kann. Weiter reicht ihre Wirkung nicht.

Die Philosophie ist von dem sozialwissenschaftlichen Zahlenwahn ja nicht direkt befallen. Weshalb verhalten sich – auch – ihre Vertreter dennoch eher ruhig?

Die universitäre Philosophie leidet unter der Vorrangstellung einer spezifischen Richtung – der analytischen Philosophie –, die sich komplexen logischen Problemen auf der Meta-Ebene widmet. Das tut sie auf sehr intelligente Weise, das will ich gar nicht bestreiten – aber sie gibt damit keine Impulse für das Leben der Menschen. Folglich sind die allermeisten Hochschulphilosophen in der Öffentlichkeit gänzlich unbekannt. Und umgekehrt haben leider die wenigsten Professoren das Gefühl, dass sie der Allgemeinheit für das Geld, das sie verdienen, irgendetwas weitergeben müssten, was in die Nähe einer aktiven Gestaltung der Gesellschaft käme.

Sie reden nun schon fast selbst wie ein Politiker. Gehört das Einwirken auf die Gesellschaft etwa zur Existenzberechtigung des Philosophen?

Nein, das gehört es nicht. Aber es war die ursprüngliche Triebfeder, der Grund dafür, dass es die Philosophie überhaupt gibt. Ich rufe wieder Platon in Erinnerung: Wenn er Erkenntnistheorie betrieb, tat er das nicht um der Erkenntnistheorie willen, wie die analytische Philosophie das heute tut. Ihm ging es darum, die Polis zu reformieren – und zu diesem Zweck betrieb er Erkenntnistheorie.

Haben Sie sich schon einmal überlegt, in die Politik einzusteigen?

Natürlich nicht! Kennen Sie etwa ein gutes Beispiel für einen Philosophen-Politiker?

Nein, aber nachdem wir gerade heftig auf die Empirie eingedroschen haben, müsste für ein kleines Gedankenexperiment ja eigentlich Platz sein. Nicht zuletzt, weil gerade Platon es auch angestellt und die Figur des Philosophenkönigs entworfen hat. Hand aufs Herz: Würde es Ihrer Meinung nach dem Staat oder der Demokratie bessergehen, wenn er von Philosophen regiert oder geführt würde?

Interessant scheint mir vor allem, dass Platon den Vorschlag für den Philosophenherrscher in der Politeia gemacht hat, selber aber alle Chancen auf eine Politkarriere ausschlug. Gehabt hätte er sie durchaus, schliesslich kam er aus einer von Athens gewichtigsten Oligarchenfamilien. Er hätte die Rolle eines Perikles spielen können, hat aber zugunsten des Philosophendaseins darauf verzichtet. So viel zu Platon. Und was würde denn passieren, wenn heute irgendein bekannter Philosoph statt Angela Merkel in Deutschland das Kanzleramt besetzte? Die Welt würde dadurch kein bisschen besser, und zwar aus dem Grund, den wir bereits erörtert haben: weil Politik heute keine echte Gestaltungsaufgabe mehr ist.

Das ist ziemlich defaitistisch: Der politisierende Philosoph könnte ja gerade darauf hinwirken, die Politik wieder zur Gestaltungsaufgabe zu machen.

Dann stellen Sie sich die Sache bitte einmal konkret vor. Der Philosoph, der in die Politik will, müsste zuerst in eine Partei eintreten. Schon das würde mir zum Beispiel sehr schwer fallen: Ich wüsste nicht, in welche ich sollte. Und dann müsste er in dieser Partei auch noch akzeptiert werden – da hat ja keiner auf ihn gewartet –, und zwangsläufig müsste er sich herrschenden Meinungen unterwerfen, wenn er überleben wollte. Metaphorisch gesagt: Der Philosoph käme als Bergkristall in die Partei und wäre nach wenigen Wochen entweder zum Bachkiesel abgeschliffen oder wieder draussen.

Lassen wir Parteipolitik und Kanzleramt einmal beiseite und legen die Latte etwas tiefer: Die Frage, ob man mit der Teilnahme an den Geschäften nicht mehr erreicht als mit dem Verbreiten von Worten, stellt sich ja ganz grundsätzlich. Vor einiger Zeit haben Sie in einem Essay für einen ethischen Umgang mit Flüchtlingen plädiert. Ist es Ihnen je in den Sinn gekommen, direkt in die «Krise» einzugreifen und beispielsweise in einem Flüchtlingsheim auszuhelfen?

In den Sinn schon. Ich bin aber der Meinung, dass man entweder das eine oder das andere tun kann. Ich habe ja auch noch ein Leben – eine Beziehung, einen Sohn –, und wenn ich mir mein Arbeitspensum anschaue, wüsste ich nicht, wann ich noch Zeit für einen Einsatz im Flüchtlingsheim haben sollte. Ich könnte dann irgendetwas anderes von dem, was ich tue, nicht machen.

Klar, aber eben das ist ja die entscheidende Frage: Womit erzielt der mitten im Leben stehende Philosoph die grösste Wirkung, wie bewegt er am meisten?

Ich vermute, dass ich mit dem, was ich kann, etwa einem Essay in einer grossen Zeitung, mehr erreiche als mit einem persönlichen Arbeitseinsatz – ausser, ich würde ihn medial begleiten lassen, um den Leuten zuzurufen: Schaut her, ich mache das, macht das doch auch! Aber das würde man mir übel als Selbstdarstellerei auslegen, das wäre einfach zu peinlich. Das heisst nun aber umgekehrt bloss nicht, dass ich die Arbeit eines jeden in einem Flüchtlingsheim nicht für genauso wichtig oder für wichtiger halte als jene, die ich mache. Letztlich ist ja sehr schwer zu sagen, was man mit Reden und Schreiben wirklich erreicht. Ich würde das Ausmass dessen, was ich bewirke, nicht allzu hoch einschätzen. Aber nichts ist es vielleicht auch nicht.


Nota. - Als ich sah, dass Herr Precht der Neuen Zürcher ein großes Interview über Gott und die Welt gegeben hat, habe ich schonmal nach dem Schlüssel zu meinem Giftschrank genestelt. Aber nachdem ich es gelesen habe, finde ich zu meiner Überraschung gar nichts Beanstandenswertes; und allzu populär ist es auch nicht.

Zunächst einmal: Gerade zu dem Thema ist er völlig im Recht. Nicht nur ist das philosophische Fach ursprünglich entstanden, um tief in die Polis hineinzuwirken, und ein Philosophierer, der nicht auch und ganz besonders ein Polites ist, kann höchstens Fußnoten in die Welt setzen. Aber deshalb muss er nicht, ach, sollte er nicht selber Politiker sein, denn erstens ist das ein öffentlicher Beruf, und einen solchen hat der Philosophierer selbst schon; und zweitens - ja, so ist das heute - müsste er die Ochsentour in einer Partei auf sich nehmen, und dabei würde ihm das Philosophieren vergehen.

In wiefern soll der Philosophierer - nicht die Philosophie, das ist was anderes! - in die Polis wirken? Indem er möglichst viele Menschen, die dafür das Zeug und eine Ader haben, ins Philosophieren hereinzieht und verstrickt. Man muss und darf wohl hoffen, dass auch die dann ihren Platz in der Polis ausfüllen und dabei Kreise ziehen. Darum sollte er nicht durch vertrackte Ausdrucksweise den Zugang zu seinem Geschäft unnötig erschweren.

Das ist der exoterische Grund für einfache Schreib- und Sprechart. Aber sie hat auch einen esoterischen Grund, der schwerer wiegt. Die Mühe der schlichten Ausdrucksweise ist sowohl ein Mittel der Selbstprüfung, denn sie ist die Probe darauf, wie sicher man sich seiner Sache wirklich schon ist, als auch ein Denkschrittmacher, denn denken - und philosophieren zumal - ist vereinfachen. Nicht für die andern - für sich selbst muss der Philosophierer die einfache Sprache pflegen; sobald er nämlich so weit ist.

Nicht einverstanden bin ich, wenn ich nicht irre, mit dem, was Precht unter Philosophie selbst versteht. Er redet von der Krise der athenischen Demokratie und vom Zeitalter der Aufklärung, als 'die Philosophie' gestaltend in die Gesellschaft eingegriffen hätte, und meint, eine solche Rolle könne ihr heute wieder zufallen. Um mich zu überzeugen, dass sie damals etwas gestaltet hat und nicht vielmehr selber der Ausdruck einer Krise war, die sie selber verschärft hat, müsste er sich eine Menge einfallen lassen. Aber wichtiger ist, dass Philosophie heute etwas anderes ist als damals.

Zwischen damals und heute hatte die Philosophie nämlich ihre Kopernikanische Wende. Wenn sie vorher faktisch eher zersetzend wirkte, war ihr Selbstverständnis dennoch ein positives, sie wollte aufbauen. Aber seit Kant ist sie kritisch, sie zerstreut den falschen Schein.

Nein, ist sie nicht, aber hätte sie sein sollen. Die Kritische alias Transzendentalphilosophie hat nur ein paar Jahre lange geblüht (und wie!), aber dann haben gleich die Dunkelmänner wieder das Kommando übernommen. Heute ist die Situation so: Die eine Hälfte der Philosophie - die von Precht richtig angezeigte 'analytische' - ist unverhohlen positivistisch; die andere Hälfte ist philologisch-papiern. Bedeutung fürs Leben - sei's der Polis, sei's der Individuen - nehmen beide nicht in Anspruch.

Hat Philosophie, die nach Kant ihren Namen nur als kritische rechtfertigen kann, irgend einen ausgezeich- neten Ort in der Gesellschaft, an dem sie wirken könnte? Wirken, ohne positiv zu sein?!

Nein, einen ausgezeichneten Ort hat sie nicht. Ihr Ort ist überall. Sie verspritzt ihr Gift mit Vorliebe dort, wo es am meisten wehtut.
JE




Mittwoch, 16. November 2016

Toolmaking animal: der Kakadu.


Aus der Wellpappe bastelt sich dieser Goffin-Kakadu ein Werkzeug.
aus scinexx

Kakadus sind verblüffend einfallsreiche Bastler
Je nach Material nutzen die Vögel die jeweils passende Technik

Improvisation auf Vogelart: Goffin-Kakadus sind enorm flexibel und einfallsreich, wenn es ums Werkzeugmachen geht. Je nach Material verwenden sie ganz verschiedene Basteltechniken, um sich ihre "Futterangel" zu bauen. Selbst aus Wellpappe stanzen und schneiden sie sich mit dem Schnabel einen passenden Streifen heraus – ohne das jemals gelernt oder trainiert zu haben, wie Forscher im Fachmagzain "Biology Letters" berichten.

Die in Indonesien heimischen Goffin-Kakadus sorgten schon häufiger für Aufsehen mit ihren raffinierten Werkzeug-Künsten. Obwohl sie in ihrem natürlichen Lebensraum keine Werkzeuge nutzen, werden sie in Volieren zu geschickten Bastlern und Knoblern: Sie stellen sich Werkzeuge her, wägen ab, ob sich ein Arbeitsaufwand lohnt und können sogar ein fünfteiliges Schloss knacken.

Holz, Pappe und Bienenwachs

Unklar blieb aber bisher, ob die schlauen Vögel auch improvisieren können: Schaffen sie es, ihr typische Futter-Angel-Werkzeug auch aus anderem Material als den üblichen Holzstäbchen herzustellen? Um das herauszufinden, stellten Alice Auersperg von der Veterinärmedizinischen Universität Wien und ihre Kollegen die Kakadus auf die Probe.

Das Forschungsteam platzierte Futter hinter einem kleinen Loch in einer durchsichtigen Box. Um das Futter zu erreichen, mussten die Kakadus sich ein dünnes, längliches Werkzeug basteln. Als Rohmaterial dafür bekamen sie jeweils eines von vier Materialien zur Auswahl: Lärchenholz, einen Buchenzweig mit Blättern, Pappe und Bienenwachs.

Für jedes Material eine andere Strategie

Die Kakadus zeigten dabei ein verblüffendes Improvisations-Talent: "Das Erstaunliche daran war, dass sie sich für jedes Material eine andere Strategie zurechtlegten", sagt Auersperg. Beim Lärchenholz reichten ein bis zwei Bisse, um einen geeigneten Splitter herauszubrechen. Von den Buchenholzzweigen entfernten sie die Blätter und die störenden Seitenäste. Beim Bienenwachs scheiterten die Vögel – aus diesem Material ließ sich einfach kein Stäbchen formen.


Gab es nur Pappe als Rohmaterial, war anspruchsvolles Basteln gefragt – für die Vögel aber kein Problem: Zuerst nahmen die Kakadus die Kartonscheibe in die Krallen und führten sie zum Schnabel. Dann bissen sie mehrmals parallel entlang der Seitenkante in den Karton und perforierten ihn so. Anschließend schnitten sie das Stück mit der scharfen Spitze ihres Schnabels entlang der Löcher heraus. Es entstand ein Pappstreifen, der nahezu exakt die benötigte Werkzeuglänge besaß.

Fähigkeit zur Vorausplanung?

"Dass einzelne Kakadus auch aus dem Kartonstück ein Werkzeug fertigen konnten beeindruckte uns am meisten", sagt Auersperg. "Die Pappe hatte keine spezielle Struktur, sie mussten also die Form selbst festlegen und das Werkzeug eigenständig gestalten." Die Goffin-Kakadus überlegten sich demnach nicht nur eine Strategie, wie man aus der Pappe ein Werkzeug bastelt, sondern auch Form und Länge, die sie für die Futterbeschaffung brauchen.

Das Werkzeug aus dem Kartonstück passt genau in Form und Länge, um Futter durch ein kleines Loch in einer Futterbox zu erreichen.
Das Werkzeug aus dem Kartonstück passt genau in Form und Länge, um Futter durch ein kleines Loch in einer Futterbox zu erreichen.
"Wir wissen noch nicht, ob sich die Vögel ein Objekt vorstellen können, das noch nicht existiert und diesem Bild als Vorlage folgen, um etwas Neues zu bauen", erklärt Koautor Alex Kacelnik von der University of Oxford. Das müssen nun weitere Tests mit den schlauen Vögeln zeigen. Auch wie gezielt die Kakadus die Länge ihrer Pappstreifen an die Erfordernisse anpassen, wollen die Biologen noch genauer erkunden.

Arten wie der Goffin-Kakadu, der in seinem natürlichen Umfeld keine Werkzeuge nutzt und herstellt, sind für die Verhaltensbiologen besonders aufschlussreich. Denn sie folgen keinen erlernten oder vererbten Mustern, um spezielle Problem zu lösen. Die Goffin-Kakadus, wie andere Papageien, zeichnet jedoch eine hohe Intelligenz aus, sie sind flexibel und leistungsstark. Dadurch können sie spielerisch oder durch Beobachtung leicht dazulernen und dann neue Probleme lösen. (Biology Letters, 2016; doi: 10.1098/rsbl.2016.0689)

(Veterinärmedizinische Universität Wien, 16.11.2016 - NPO)


Dienstag, 15. November 2016

Monaden und prästabilierte Harmonie.

BILLARD - EPBF European Championship 2016, Ten-Ball
aus Die Presse, Wien,

arum diese seltsamen Monaden keine Fenster haben 
Seelenatome als Bausteine der Welt? 
Die Monadenlehre von Leibniz ist keine esoterische Spekulation, sondern eine wissenschaftliche Hypothese auf der Höhe der Physik ihrer Zeit – wenn nicht gar der heutigen.

Stoß, Druck, Geschwindigkeit – die Welt als Billardtisch: Das neue Weltbild der Physik stellte die Philosophie des 17. Jahrhunderts vor ein großes Problem. Wenn sich alles durch die Mechanik kleinster Materieteile erklären lässt: Wo bleibt da noch Platz für Gedanken, Empfindungen, Gefühle? Descartes versuchte als Erster eine Antwort: Materie und Bewusstsein sind verschiedene Sphären. Warum aber hebt sich der Arm, wenn wir das wollen? Die Sphären müssen wechselwirken. Dazu brauchen sie ein „Interface“, und der französische Philosoph vermutete es in der Zirbeldrüse – weil sie ein Teil des menschlichen Gehirns ist, das den Tieren, die er als reine Sachen sah, fehlt.

Diese Lösung musste aber verträglich mit der Physik sein. Die eben entdeckten, mathematisch formulierbaren Naturgesetze waren ein höchst metaphysisches Konzept: Gott hatte sie der Natur auferlegt. An ihnen zu rütteln, wäre also Gotteslästerung. Der Energieerhaltungssatz war damals bereits bekannt: Wenn zwei Teile elastisch aneinanderstoßen, bleibt die kinetische Energie in Summe gleich. Freilich ändert sich die Bewegungsrichtung der Teilchen – und darin sah Descartes den erlaubten Einfluss der Seele.


Zur Zeit von Leibniz war die Physik schon weiter, um den Impulserhaltungssatz: Auch die Richtungsänderung der Teilchen ist mechanisch determiniert. Leibniz versuchte deshalb einen neuen, radikalen Ansatz. Die selbstständigen Einheiten können nicht Materie sein, weil sich diese beliebig immer weiter teilen lässt. Die Welt ist vielmehr aus Monaden aufgebaut: aus Kraftzentren, ausdehnungslos, unteilbar und unzerstörbar. In ihrer höchsten Form, dem menschlichen Geist, sind sich Monaden ihrer selbst bewusst. Halbwach sind sie als Seelen, die er auch Tieren zuerkennt. Unbewusst schlummern sie in Steinen, die fallen, im Quecksilber, das auf Temperatur reagiert. Raum, Zeit, Materie sind hingegen nur Erscheinungen, ein Abbild der Monadenwelt. In ihm gelten streng die Naturgesetze, kausale Ursache und Wirkung. Die Monaden aber agieren nach ihren Zwecken, die von Gott programmiert und gesteuert werden. Damit trennt Leibniz, wie später Kant, die Naturwissenschaft sauber von der Philosophie. So will er beides bewahren, die Physik und die ganze ehrwürdige Metaphysik, von Aristoteles bis zu den Scholastikern.

Von der Materie bleibt nur Energie

Und das Leib-Seele-Problem? Zwischen Monaden gibt es keine kausale Wechselwirkung. Jede trägt die ganze Welt, alle Vergangenheit und Zukunft, schon in sich – freilich zum größten Teil unbewusst und aus ihrer je eigenen Perspektive. Sie brauchen also keinen Austausch: „Die Monaden haben keine Fenster.“ Warum aber hebt sich dann der Arm? Warum kränken wir uns, wenn uns jemand beleidigt? Weil Gott alles Geschehen in einer „präetablierten Harmonie“ koordiniert hat – wie bei Uhren, die nur deshalb exakt gleich laufen, weil sie von Anfang an gleich eingestellt wurden. Das mutet uns heute völlig abstrus an. Aber Leibniz hat auch das aktuelle, konträre Paradigma der Neurowissenschaft durchgespielt – und verworfen. Wenn wir einen rein mechanischen Geist als Maschine sehen, sie vergrößern und darin herumspazieren: Wir würden immer nur auf Materieteilchen treffen, die aufeinanderknallen, und nie auf einen Gedanken oder ein Gefühl. Die scheinbare Lösung löst nichts.

In gewisser Hinsicht spekulierte Leibniz sogar die moderne Elementarteilchenphysik voraus. Denn genau genommen sind Monaden nur ihrer inneren Form nach mathematische Punkte ohne Ausdehnung. Die Form verlangt nach Materie, einer Art physischen Hülle, die freilich infinitesimal klein ist. Das erlaubt auch Leibniz einen Übergangsbereich, freilich weniger simpel als die Zirbeldrüse: Wenn man Materie immer weiter teilt, bleibt am Ende nur noch Energie – was unserer heutigen vagen Vorstellung von Quarks und Strings ziemlich nahe kommt. (gau)