Mittwoch, 28. Dezember 2016

Wird Humboldt überschätzt?

Berliner Zimmer. Alexander von Humboldt in der Bibliothek seiner Wohnung in der Oranienburger Straße 67. Hier verbrachte der Gelehrte die letzten 17 Jahre seines Lebens. 1842 bezog der 73-jährige den Wohnsitz im Herzen der preußischen Metropole. aus Tagesspiegel.de, 28. 12. 2016, 11:10 Uhr  Alexander von Humboldt in der Bibliothek seiner Wohnung in der Oranienburger Straße

Alexander von Humboldt 
Überschätzter Universalgelehrter 
Eine neue Biografie verklärt den Naturforscher. Aber Humboldt irrte sich in manchem, und sein Einfluss auf die moderne Wissenschaft ist überschaubar.
 
Matthias Glaubrecht
 
Alexander von Humboldt (1769–1859) gilt als der moderne Forscher schlechthin und zugleich als der letzte große Universalgelehrte. Als erster Umweltaktivist und als Weltreisender und Weltbürger. Ein Superstar der Wissenschaft, dabei charismatisch, spitzzüngig und voller Grandeur. Fast alles an biologischen Disziplinen hat er angeblich angestoßen, die Ozeanografie, Pflanzengeografie und Ökologie in jedem Fall.

Als er 1802 am Chimborazo in Ecuador die Vegetationszonen durchquerte, die sich höhenbedingt wie abwechselnde Gürtel um den erloschenen Vulkankegel legten, begann seine Umgebung plötzlich auf ihn zu wirken, heißt es in der neuen Biografie von Andrea Wulf über den Gelehrten. Noch nie habe jemand Pflanzen so betrachtet. Er habe sie nicht als Bestandteile eines Klassifikationssystems registriert, sondern als Lebensformen eines bestimmten Standorts und Klimas. „Als Alexander von Humboldt nun am vermeintlich höchsten Punkt der Welt stand und auf die Bergketten schaute, die sich unter ihm ausbreiteten, begann er, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Die Erde erschien ihm als ein riesiger Organismus, in dem alles mit allem in Verbindung stand. Eine mutige, neue Sicht der Natur, die noch immer beeinflusst, wie wir heute unsere Umwelt sehen und begreifen.“

Bei Humboldt ist alles bio, öko, global und nachhaltig sowieso

Humboldt erkannte die Natur als „globale Kraft“, prägte unser Verständnis von Ökosystemen; er sei zudem der Begründer der Naturschutzbewegung und habe bereits vor zwei Jahrhunderten vor dem menschengemachten Klimawandel gewarnt. Behauptet Andrea Wulf. Bei ihr ist alles an Humboldt bio und öko, ganzheitlich und nachhaltig, global ohnehin. Humboldt habe „die Natur erfunden“ und mit seiner Vorstellung der Erde als einem einzigen Organismus der Gaia-Theorie um mehr als ein Jahrhundert vorgegriffen. Beinahe könnte man angesichts seiner zehntausendfachen Briefkorrespondenz glauben, er habe sogar das Internet vorausgedacht und die Globalisierung vorweggenommen. Alles ist Humboldt und Humboldt alles. Nie geht es eine Nummer kleiner.

Zugegeben: Nach Humboldt sind mehr Orte auf Erden benannt als nach irgendeinem anderen Forscher; beinahe hätte in den USA einst sogar der Bundesstaat Nevada den Namen des preußischen Gelehrten bekommen. Humboldt war seinerzeit allseits bekannt, wohl der berühmteste und fraglos einer der einflussreichsten Wissenschaftler, ein Kosmopolit von internationalem Rang.

Zugegeben auch: Mit seiner Geografie der Pflanzen – zusammenfassend dargestellt in seinem „Naturgemälde der Anden“, dem bekannten Querschnitt durch das Andenprofil mit horizontal gestaffelten Vegetationszonen – machte Alexander von Humboldt die Pflanzengeografie populär und trug zur späteren Begründung der Ökologie bei. Mit seiner stilbildenden Darstellung vom Andenvulkan Chimborazo wollte Humboldt nicht nur neue Arten, sondern vielmehr das harmonische Zusammenwirken physikalischer Faktoren und regional verschiedener Organismengruppen beschreiben. Er hat damit die Grundlage für unser Verständnis einer vernetzten Umwelt gelegt.

Für den preußischen Naturforscher hing alles mit allem zusammen

Humboldt begriff die Natur als Kosmos, in dem vom Winzigsten bis zum Größten alles miteinander verbunden ist. Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Susan Faye Cannon hat diese Sichtweise bereits 1978 als „Humboldtian Science“ bezeichnet, mit der neben empirischer Forschung auch eine neue Gesamtschau in die Naturkunde einzog.

Zwar hat die Kartografie der Pflanzenverbreitung ihre meist unterschlagenen Vorläufer. Doch waren Humboldts Aufzeichnungen einst derart präzise, dass sich damit unlängst minutiös die klimabedingte Höhenverschiebung der Pflanzenwelt um bis zu 500 Meter gipfelwärts nachweisen ließ. Und kein Zweifel: Humboldt war ein weitläufig gelehrter kritischer Intellektueller, der mit seinem Wissensnetzwerk die Tradition der französischen Aufklärung fortsetzte und sein in der Wissenschaft erworbenes Renommee wissenschafts- und kulturpolitisch über Preußen hinaus geltend machte.

Doch bei aller Verehrung – Humboldt wird maßlos überschätzt. Wulfs neue Biografie ist seltsam unzeitgemäß. Dass viel vom Gedankengut der Humboldt-Zeit noch immer allein ihm zugeschrieben wird, zeugt von einem hagiografischen Personenkult (wie ihn gerade auch die deutsche Akademie-Forschung betreibt). Humboldt wird nicht nur als Initiator beinahe aller naturkundlichen Disziplinen idealisiert, der durch seine Forschungs- und Denkanstöße bis heute unser Verständnis der Umwelt geprägt habe. Einmal mehr wird er als volksaufklärender „Weltwissenschaftler“, als „mobiler Forschungsreisender rund um die Welt“ und als Leitbild der Globalisierung stilisiert.

Die studierte Kunsthistorikerin und Journalistin Andrea Wulf hat ihre im vergangenen Jahr in den USA und England erschienene und sehr erfolgreiche Biografie „The Invention of Nature. The Adventures of Alexander von Humboldt“ vor allem für den angloamerikanischen Leser geschrieben. Dem ist Humboldt weit weniger vertraut als dem in Lateinamerika oder in seinem Heimatland. So sehr sich Humboldt mithin dort als vergessene Forscher-Ikone wiederentdecken ließ, so wenig angemessen ist dieser Anspruch hierzulande.

Dabei ist Wulfs Biografie keine runde Lebensgeschichte im eigentlichen Sinne. So unterhaltsam sich ihre Reise auf den Spuren ihres Helden zu den Schauplätzen der Humboldtschen Wissenschaft liest, an vielen wichtigen Stationen seines Lebens zeigt sie wenig Interesse. Einige Episoden werden breit dargelegt, dagegen schnurren andere Jahre auf wenige Zeilen zusammen. Entscheidend aber ist, dass Humboldts Ideen zum einen wichtige, bislang weitgehend unbekannt gebliebene Wurzeln haben, die auch Wulf nicht erwähnt. Zum anderen waren viele seiner Ideen keineswegs derart wirkungsmächtig, wie Wulf uns glauben machen will. Während Historiker beginnen, sich kritisch mit dem preußischen Gelehrten und seiner Epoche der „Humboldtian Science“ zu befassen, bedient Andrea Wulf eine aus der Zeit gefallene Wissenschaftsgeschichte, die nur Gipfel kennt, keine Gebirgsketten.

Natur als ewige Harmonie statt als steter Wandel

Humboldt hat tatsächlich bereits um 1800 die Umweltfolgen von Abholzung und Monokultur in Venezuela gesehen und davor gewarnt, dass Menschen ihre unmittelbare Umwelt zerstören, weil dies eine – wie wir heute sagen – ökologische Kettenreaktion auslöse, mit Auswirkungen auf kommende Generationen. „Alles ist Wechselwirkung“, schrieb Humboldt. Aber ein nennenswerter Einfluss auf die heutige Wissenschaft, die sich mit den globalen Konsequenzen des Klimawandels beschäftigt, darf getrost bezweifelt werden.

Humboldt war rückwärtsgewandt und in vielem noch sehr der Goethezeit verhaftet. Als Wissenschaftler wollte er die Natur einerseits vermessen, andererseits glaubte er, dass sie mit allen Sinnen zu erfahren sei. „Die Natur muss gefühlt werden“, schrieb er an Goethe, der ebenfalls überzeugt war, dass man die Natur nur so vollkommen verstehen könne. Humboldt beschrieb sie poetisch wie ein Dichter und stellte sie illuster wie ein Maler dar.

Auch lässt Wulf unter den Tisch fallen, wie grundlegend Humboldts Naturverständnis spätestens in seinem Todesjahr 1859, als Darwins epochales Werk „Über den Ursprung der Arten“ erschien, von dessen Theorie der Evolution durch natürliche Selektion abgelöst wurde. Statt natürlicher Harmonie des Kosmos, einer „Wohlgeordnetheit“ der Welt, sehen wir seitdem eine dynamische und sich stetig wandelnde, vor allem aber eine unerbittlich auslesende Natur. Humboldts Zeitgenosse Thomas Jefferson konnte noch behaupten, „die Haushaltung der Natur“ sei derart beschaffen, dass sie noch nie „eine ihrer Tierarten hätte aussterben lassen oder irgendein Glied ihrer großen Kette so schwach gebildet hätte, dass es zerbrochen wäre“. Mit Darwin wurde das Erlöschen der Arten so selbstverständlich wie die Entstehung neuer Arten durch natürliche Zuchtwahl. Und so angenehm uns mit Humboldt der Gedanke ist, es gäbe diese Harmonie in der Natur und der Mensch habe einstmals in Harmonie mit ihr gelebt – das eine wie das andere ist höchst zweifelhaft.

Statt einer Heroisierung Humboldts wird es Zeit, die geläufigen Erzählmuster seiner Biografie aufzubrechen und zu erkennen, dass der kosmische Ansatz von Humboldts Naturverständnis nicht zukunftsfähig war und sein Weltbild längst veraltet ist. Andrea Wulfs „Erfindung der Natur“ ist, nach der überzeichneten Romanfigur Kehlmanns, die weitere Erfindung eines Humboldt, den es so nicht gab. Den wahren Humboldt zu entdecken bleibt die Herausforderung.

Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Aus dem Englischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann, München 2016. 556 S., 24,99 €.

Der Autor ist Gründungsdirektor des Centrums für Naturkunde der Universität in Hamburg.


Dienstag, 27. Dezember 2016

Immer auf alles gefasst.

aus scinexx

Zwischenablage im Gehirn spart Zeit 
Dank Vorrat an DNA-Kopien lernen wir schneller 

Schlau vorgearbeitet: Um schneller auf neue Reize reagieren zu können, legen Neuronen einen Vorrat an DNA-Kopien in ihrem Zellkern an. Damit nehmen sie einen langwierigen Schritt des Anpassungsprozesses vorweg. Denn die bevorrateten Moleküle müssen bei Bedarf nur noch geringfügig modifiziert werden, bevor sie den Bauplan für neue Proteine bilden. Die Folge: Bis eine Nervenzelle im Gehirn mit einer neuen Funktion aufwarten kann, vergehen nur wenige Minuten - anstatt mehrere Stunden. 

Die Welt um uns herum ist komplex und verändert sich fortwährend - ständig sind wir mit Neuem konfrontiert. Eine der faszinierendsten Leistungen unseres Gehirns ist es, dieses Chaos zu ordnen und sich immer wieder auf Veränderungen einzustellen. Nur weil sich einzelne Nervenzellen, Synapsen und ganze Hirnareale flexibel anpassen können, sind wir lernfähig.

Doch warum sind die Nervenzellen des Gehirns überhaupt dazu in der Lage, sich bei Lernprozessen so rasch zu verändern? Das war Wissenschaftlern bislang ein Rätsel. Denn damit ein Neuron eine neue Funktion erwerben kann, müssen die dafür wichtigen Proteine zunächst durch einen ausgefeilten Kopiervorgang hergestellt werden. Dabei entsteht aus den Basisinformationen der DNA die sogenannte RNA. Diese Moleküle werden anschließend so modifiziert, dass daraus ein präziser Bauplan für die Produktion eines bestimmten Proteins entsteht - ein langwieriger Prozess.

RNA-Moleküle im Vorrat
 
Bis es durch einen neuronalen Reiz zur Neuproduktionen von Proteinen kommt, müssten demnach eigentlich mehrere Stunden vergehen. In der Realität verändern sich Neurone aber oft viel schneller. Wissenschaftler um Oriane Mauger von der Universität Basel haben nun das Geheimnis hinter der verblüffend raschen Anpassung gelüftet.

Das Team stellte fest, dass die Nervenzellen im Gehirn mit einem Trick arbeiten, um Zeit zu sparen: Sie produzieren bestimmte RNA-Moleküle einfach vor und beginnen sogar schon, diese teilweise zu zerschneiden. Die halbfertigen Moleküle landen dann im Zellkern und warten in einer Art Zwischenablage darauf, dass sie tatsächlich gebraucht werden.

Fünf Minuten statt zwanzig Stunden

"Das Kopieren der DNA, der sogenannte Transkriptionsprozess, wird von den Nervenzellen also bereits im Vorfeld erledigt", sagt Mauger. Trifft ein neuronaler Reiz auf die Nervenzelle, müssen die abgelegten RNA-Moleküle nur noch fertig gestellt werden. Das bedeutet eine immense Zeitersparnis. Denn die Transkription ist der mit Abstand zeitaufwendigste Schritt bei der Produktion neuer Proteine.

Für große Gene würde der Prozess vom Signal bis zur Fertigstellung eines Proteins normalerweise zehn bis zwanzig Stunden in Anspruch nehmen. "Dadurch, dass die RNA-Moleküle bereits in einer Rohform vorliegen, die nur noch vervollständigt werden muss, verkürzt sich das Ganze auf fünf Minuten", erläutert Mauger.

"Völlig neuer Regulationsmechanismus"

Erst diese Zwischenablage macht es möglich, dass Nervenzellen ihre Funktionen so rasch anpassen können. "Für uns hat diese Studie einen völlig neuen Regulationsmechanismus offenbart", sagt Mitautor Peter Scheiffele. "Die Ergebnisse liefern uns eine weitere Erklärung dafür, wie Nervenzellen insbesondere schnelle plastische Veränderungen steuern können." (Neuron, 2016; doi: 10.1016/j.neuron.2016.11.032)

(Universität Basel, 22.12.2016 - DAL)


Montag, 26. Dezember 2016

Ganz richtig im Kopf ist doch keiner.

aus Süddeutsche.de,

Normal im Kopf, das gibt es nicht 
Nur langsam erkennen Arbeitgeber, dass die Norm nicht das Nonplusultra ist. Beim Gehirn sind vermeintliche Fehler in bestimmten Berufen sogar von Vorteil.

Von Jeanne Rubner


Denise hasst es, wenn man ihr die Hand gibt. Das Gefühl von nackter Haut auf nackter Haut, das ist eklig. Dann schon lieber eine Umarmung, da ist zwischen ihr und dem anderen Menschen wenigstens ein bisschen Stoff. Denise hasst es auch, anderen in die Augen zu schauen, sie musste es mühsam lernen. Lügnerin nannten andere Kinder sie deshalb früher. Bis heute versteht Denise nicht, wie man Freunde findet. Und die meisten Witze kapiert sie auch nicht. 

Denise Linke hat Asperger, eine milde Form von Autismus. Das allerdings weiß sie erst seit ein paar Jahren. Als die heute 27-Jährige sich einmal die Ohren zuhielt, weil sie den vorbeifahrenden Krankenwagen unerträglich laut fand, riet ihr ein Bekannter, zum Arzt zu gehen. Nach vielen Tests und Gesprächen bekam sie die Diagnose. Neben Asperger leidet sie auch noch an ADHS, der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, beides kommt häufig zusammen vor. Inzwischen hat sie das Onlinemagazin N#mmer gegründet, eine Anspielung darauf, dass Autisten häufig gut mit Zahlen umgehen können.

"Wenn wir etwas mögen, sind wir super fokussiert"

Auch Denise mag Zahlen, die sind nüchtern, zuverlässig. Woher die Vorliebe für Ziffern und Nummern und die Abneigung gegen Körperkontakt, laute Krankenwagen oder Kaugeräusche ihrer Mitmenschen kommt, ist unklar. Aber fest steht, dass Autismus nicht, wie lange angenommen, eine Folge gefühlskalter Mütter oder von Impfungen ist. Etwas im Gehirn von Denise und anderen Autisten ist anders verdrahtet. Wenn ein Kind heranwächst, baut sich sein Gehirn ständig um. Neue Nervenfasern entstehen, aber viele Verbindungen werden auch gekappt. Bei Autismus ist die normale Entwicklung gestört, und Bereiche, die daran beteiligt sind, die Gefühle anderer zu erkennen, sind davon betroffen.

Aber dafür, sagt auch Denise, können sie sich ziemlich gut auf bestimmte Aufgaben konzentrieren. "Wenn wir etwas mögen, sind wir super fokussiert", so die junge Frau. Das ungewöhnlich verschaltete Gehirn von Menschen mit Autismus bringt ungewöhnliche Fähigkeiten mit sich. Mit ihrer Liebe für klare Regeln und für Details fällt es ihnen sehr viel leichter, Fehler in Softwarecodes zu finden als vermeintlich "normale" Menschen. Die Wirtschaft hat das inzwischen erkannt, Firmen wie SAP oder die speziell gegründete Berliner Auticon stellen gezielt Autisten ein.

Asperger, der Gehirnzustand der Nerds und Firmengründer

Man muss natürlich kein Autist sein, um in Physik oder Informatik zu reüssieren. Aber Studenten in Cambridge, die in Naturwissenschaften oder Technik eingeschrieben sind, haben öfter autistische Verwandte als Literaturstudenten, wie der britische Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen herausgefunden hat - und tragen damit zumindest die genetische Anlage für Autismus. Und in Internetkreisen gilt Asperger, die milde Autismus-Variante, als Gehirnzustand der Nerds und erfolgreichen Firmengründer. "The Geek Syndrom" nannte das Szene-Magazin Wired Asperger, die Krankheit der Computernerds.

Oder Raymond: Als eine Packung Zahnstocher herunterfällt, erkennt er auf einen Blick, dass 246 Holzstücke am Boden liegen. Der Autist, im Film Rain Man gespielt von Dustin Hoffman, kann nach einem Abend das gesamte Telefonbuch auswendig. Savant-Syndrom (Gelehrtensyndrom) heißen die besonderen Begabungen von Menschen, die unter einer Gehirnkrankheit wie Autismus leiden. Vor Kurzem haben zwei US-Ärzte ein weltweites Register von 329 Fällen zusammengetragen. Ein Betroffener etwa kann 22 514 Dezimalstellen der Zahl Pi aufsagen, ein anderer liest einen Text in weniger als zehn Sekunden und weiß danach, was auf der Seite stand.

Stärken und Schwächen kennen und gezielt einsetzen

Wenn sie einen Job suchen, gehen Savants aber oft leer aus. Für Arbeitgeber wiegen ihre Defizite schwerer als ihre Begabungen. Ein Fehler, findet Peter Falkai, Chef der Psychiatrischen Uniklinik in München. Einer seiner Patienten war schon als Kind ungewöhnlich kaltblütig. Als gelernter Sprengmeister hat er nie Angst und macht einen guten Job. Erst als er ein Team von Mitarbeitern leiten soll, ist er überfordert und beginnt zu trinken. Man muss die Stärken und Schwächen der Menschen kennen, sagt Falkai, und sie entsprechend einsetzen.

In kreativen Bereichen bescheren "Gehirnkrankheiten" hingegen leichter Erfolg. Manche Künstler haben beispielsweise eine ungewöhnliche Verschaltung der Sinnesnerven, die - ähnlich wie bei einem LSD-Trip - einen Sinnesrausch und -tausch erzeugen kann. Synästhesie ist in kreativen Kreisen zum Codewort für besondere Begabung geworden. Jeder vierte Künstler sagt, schon einmal synästhetische Erfahrungen gemacht zu haben. Beyoncé, Kanye West und Lady Gaga sollen Synästhetiker sein.

In den USA kümmert sich die American Synesthesia Association um ihre Belange. Gegründet hat sie Carol Steen. Die New Yorker Malerin, die für ihre farbenfrohen Ölbilder bekannt ist, sieht eine Fünf nicht einfach nur als Zahl, sondern als die Farbe Gelb. Der Wochentag Donnerstag ist burgunderrot, und die Glocke im Aufzug ihres Apartmenthauses bimmelt wie ein "unglaublich helles Magenta". Zahnschmerzen fühlen sich orange an. Eines ihrer Bilder ist eine leuchtend rote Fläche, gesprenkelt mit blauen Flecken und durchzogen von grünen Linien. Steen hat gemalt, was sie sieht, wenn sie bei der Akupunktur ist, um ihre Kopfschmerzen behandeln zu lassen und die Nadeln am Ende herausgezogen werden.

Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander

Als Carol Steen sieben Jahre alt war, erzählte sie einer Mitschülerin, dass der Buchstabe A das schönste Rosa sei. Die verstand gar nicht, was Carol meinte. Höchstens fünf von hundert Menschen sind Synästhetiker. Normalerweise werden Töne, Gerüche oder Lichtmuster in unterschiedlichen Bereichen im Kopf verarbeitet, das Gehirn funktioniert dabei ähnlich wie eine Postzentrale. Alle Briefe mit einer Einser-Postleitzahl kommen auf das eine Laufband, die mit einer Zwei oder Drei auf andere. Bei Synästhetikern aber werden ständig Briefe, die eigentlich nach Berlin sollen, nach Hamburg geschickt. Es gibt auch eine Form der Synästhesie, bei der Sprache oder Schrift Geschmacksempfindugen auslöst oder bestimmten Zahlen Charaktereigenschaften zugeschrieben werden (dann wird die Fünf zum Beispiel zickig).

Hirnforscher vermuten, diese beruhe darauf, dass zwischen Sinneszentren - etwa Farbzentrum und Hörzentrum - zusätzliche Nervenbahnen verlaufen. Wegen der üppigen Querverbindungen entstehen ungewöhnliche Assoziationen, zum Beispiel Wortfarben. Man könnte auch sagen, dass ein Teil der Sinnesnerven ständig miteinander redet. Diese Gehirnanomalie macht besonders kreativ, Sinneseindrücke lassen das Gehirn zu Hochform auflaufen - nur eben anders.

Ähnlich empfinden Menschen mit Schizophrenie. Sie leiden unter Halluzinationen, sehen Gegenstände, die es nicht gibt, und hören Stimmen von Menschen, die nicht in ihrer Nähe sind. Diese virtuellen Erfahrungen, die wir gern als "verrückt" bezeichnen, können die Betroffenen aber auch kreativ machen. Vermutlich litt Vincent van Gogh an schizophrenen Schüben. Wahnsinn und Genie liegen nah beieinander, das hat schon Aristoteles bemerkt.

Das Gehirn ist ein Organ, das keine Norm erfüllt.

Gehirnanomalien haben also durchaus ihre Vorteile. Auch für Kinder mit Tourette-Syndrom, die unter Tics leiden. Sie schreien oder stöhnen plötzlich, ihre Muskeln zucken, ohne dass sie etwas dagegen tun könnten. Aber dafür sind sie außergewöhnlich sprachbegabt. Sie können etwa Verben besonders schnell konjugieren oder Worte wiederholen.

Auch Fehler bei der Sinnesverarbeitung können sich positiv auswirken. Wer wegen eines Gendefekts gehörlos ist, weil das Hörzentrum keinen Input bekommt, dessen andere vier Sinne sind ungewöhnlich stark ausgeprägt. Die Amerikanerin Sue Thomas etwa war so perfekt im Lippenlesen, dass das FBI sie Ende der 1970er-Jahre engagierte, um die Gespräche von Verdächtigen auf Stummfilmaufnahmen anhand der Mundbewegungen zu "hören". Auch Blinde verlassen sich auf ihr Gehör, wenn sie sich in einem Raum orientieren.

Das Gehirn ist eben kein fest verdrahteter Computer, es wird ständig neu umgebaut und passt sich an seine Umwelt an. Auch einen Schlaganfall versucht das Gehirn auszugleichen, bestehende Nervenverbindungen können die Aufgaben von geschädigten Bereichen übernehmen. Dabei kann es durchaus zu kuriosen Folgen kommen. Zum Beispiel bei Sabine Kindschuh aus einem Dorf in Thüringen. Nach einem Schlaganfall sprach die damals 57-Jährige auf einmal mit Schweizer Akzent. Dieses Fremdsprachensyndrom ist seit über hundert Jahren bekannt, kommt aber äußerst selten vor: Die Betroffenen plaudern plötzlich in einer anderen Sprache oder einem fremden Dialekt. Doch was nach Sprachgenie aussieht, ist in Wirklichkeit eine Störung der motorischen Steuerung von Lippen, Zungenkörper und Zungenspitze. Die Folge: Worte werden anders ausgesprochen. Manche Patienten verlieren ihren Akzent wieder, wenn sich ihr Gehirn regeneriert.

Sabine Kindschuh spricht also Deutsch mit Schweizer Akzent. Denise Linke jongliert lieber mit Zahlen, als mit Menschen zu reden. Carol Steen sieht Zahlen als Farben. Die Gehirne all dieser Frauen sind außergewöhnlich, anders als der Durchschnitt. Krank sind sie deshalb nicht. Vielleicht sollten wir es uns abgewöhnen, von Gehirnkrankheiten, Anomalien oder Syndromen zu reden. Jedes Gehirn ist anders, individuell - und jedes hat seine ganz eigenen Stärken und Schwächen. Das Gehirn ist ein unglaublich flexibles Organ, das keine Norm erfüllt. Normal im Kopf, das gibt es nicht.


Nota. - Dass jeder Mensch ein bisschen anders ist, dass die Grenzen des Normalen ein wenig fließen, dass Genie und Wahnsinn bei einander liegen - das sind alles Alltagstrivialitäten, die niemand bestreitet, weil sonst das tägliche Zusammenleben äußerst strapaziös wäre.

Doch muss man sich klarmachen: Das gilt nicht nur für das Ungefähr unserer alltäglichen Begegnungen, sondern in einem strengen Sinn.

Nicht alle Lebern sind gleich, nicht alle Herzen, nicht alle Schilddrüsen, nicht alle Blinddärme. Aber alle von ihnen - nein, der letzte
nicht - haben im Organismus eine bestimmte Funktion, und wenn sie die in auffälliger Weise nicht erfüllen, sind sie krank.

Für unser Gehirn - so, wie es heute ist, unsere stammesgeschichtlich jüngste Erwerbung - gilt das nicht. Welche genau die Funktionen sind, die es zu erfüllen hätte, kann kein Anatom, kein Neurologe, kein Hirnforscher und kein Irrenarzt uns sagen; denn ab wann ein Organismus nicht mehr funktionsfähig ist, ist bei uns längst nicht mehr eine biologische, sondern eine soziokulturelle Frage; und im äußersten Falle eine technologische. Was bei uns irre, was genial und was stinknormal ist, ist vielfältig historisch bedingt - auch das in dieser Abstraktheit eine Trivialität, doch mit den Trivialitäten ist es, wie Friedrich Schlegel einmal bemerkte, so, dass man gerade die Binsenwahrheiten immer wieder mal aussprechen muss, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass sie doch Wahrheiten sind.
JE

Freitag, 23. Dezember 2016

Erlebte Zeit und die innere Uhr.

aus nzz.ch,

Wie das Gehirn die Zeit misst 
Schon wieder ist ein Jahr rum. Je älter man wird, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Wie die subjektive Zeitwahrnehmung entsteht, ist nicht restlos geklärt, aber es gibt Theorien dazu.
 
von Lena Stallmach

Die Zeit ist unberechenbar, zumindest in der eigenen Wahrnehmung. Einmal rast sie einem davon. Ein andermal scheint sie stillzustehen, besonders dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann. Ist man in Eile, können drei Minuten an der Ampel eine halbe Ewigkeit dauern. Amüsiert man sich, vergehen drei Stunden wie im Flug. Daraus könnte man schliessen, dass auf das eigene Zeitgefühl wenig Verlass ist. Das trifft aber nur bedingt zu, denn die meisten Menschen können die Dauer kurzer Zeitintervalle gut einschätzen, wenn sie ihre Aufmerksamkeit darauf lenken. Sie müssen demnach eine relativ genaue innere Uhr besitzen.

Seit Jahrzehnten suchen Forscher nach einem solchen Zeitmesser im Gehirn. Dabei zeigt sich, dass es wahrscheinlich nicht eine zentrale Uhr gibt, sondern eher mehrere in verschiedenen Hirnregionen und für verschiedene Aspekte der Zeitwahrnehmung. Wahrscheinlich seien unterschiedliche Systeme beteiligt, wenn man Zeitintervalle von Sekunden, Minuten oder rückblickend Stunden sowie Jahre beurteile, sagt Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg.
 
Die Zeit verkürzt sich im Rückblick

Rückblickend nimmt man die Zeit oft ganz anders wahr als im Moment. Typischerweise dehnt sie sich, wenn man eine langweilige Tätigkeit ausübt. Werden Menschen aber im Nachhinein gefragt, wie lange sie damit beschäftigt waren, unterschätzen sie die Dauer oft, weil sie in der Zeit nichts erlebt haben. Mit dem gleichen Phänomen erklärt Wittmann, warum viele Menschen mit zunehmendem Alter das Gefühl haben, dass die Jahre immer schneller vergehen.

Als Teenager oder im Alter der Zwanziger mache man ständig neue Erfahrungen, das erste Mal betrunken, der erste Kuss, die erste eigene Wohnung usw. Diese hochemotionalen Erlebnisse prägten sich stark ins Gedächtnis ein. Mit fortschreitendem Alter entwickelten die meisten Menschen mehr Routine, sie gingen der gleichen Arbeit nach, hätten einen etablierten Freundeskreis. Weil man weniger einschneidende Erinnerungen aus einem Jahr mache, erscheine es im Rückblick kürzer.
 
Drogen beschleunigen die Zeit

Erinnerungen scheinen also eine Messeinheit der rückblickenden Zeitmessung darzustellen. Für die momentane Zeitwahrnehmung sucht man dagegen noch nach einer solchen Einheit. Laut einer Theorie, die in verschiedenen Varianten seit etwa 50 Jahren kursiert, gibt es im Gehirn ein System, das wie ein Taktgeber regelmässig Impulse generiert. Diese werden in einer Zentrale oder vielleicht auch mehreren Zentralen zusammengezählt und repräsentieren ein bestimmtes Zeitintervall. Der Hirnbotenstoff Dopamin scheint diesen Taktgeber zu beeinflussen und steigert die Impulsrate, so dass die innere Uhr schneller abläuft.

Studien zeigen, dass Drogen wie Kokain und Methamphetamin, die das dopaminerge System anregen, die innere Uhr beschleunigen. Tiere und Menschen schätzen dann eine Dauer tendenziell länger ein, weil sie mehr Impulse in dieser Zeit erhalten. Dabei schreibt man den dopaminergen Neuronen in einer Hirnregion in der Mitte des Gehirns, dem Striatum, eine zentrale Rolle zu.
 
Die Rolle von Nervenzellen tief im Gehirn

Kürzlich publizierten Forscher eine Studie mit Mäusen, in der sie zeigten, dass dopaminerge Nervenzellen in einer tief im Gehirn liegenden Region namens Substantia nigra ebenfalls die Zeitwahrnehmung steuern, aber auf eine ganz andere Weise, als es das Dopamin-Modell vorhersagt.

Joe Paton vom Champalimaud Centre for the Unknown in Lissabon und sein Team trainierten Mäuse darauf, kurze Pausen zwischen zwei Tönen zu unterscheiden. Je nachdem, ob die Zeitintervalle kürzer oder länger als 1,5 Sekunden dauerten, bekamen die Tiere an unterschiedlichen Fenstern in der Käfigwand eine Belohnung. Da sie nur belohnt wurden, wenn sie sofort das richtige Fenster aufsuchten, erhielten sie jeweils unmittelbar eine Rückmeldung über ihre Zeitschätzung.

Nachdem die Mäuse nach einigen Wochen gelernt hatten, die Zeitintervalle zu unterscheiden, massen die Forscher währenddessen die Aktivität der dopaminergen Nervenzellen in der Substantia nigra. Diese schien bei der Zeitwahrnehmung entscheidend zu sein. Die Forscher konnten das «Zeitgefühl» der Tiere sogar manipulieren: Wenn sie die dopaminergen Nervenzellen in der Substantia nigra aktivierten, unterschätzten die Mäuse die Zeit tendenziell, wenn sie die Zellen hemmten, überschätzten sie sie.

Zwar ist das genau die entgegengesetzte Wirkung, wie man sie, ausgehend von dem postulierten Dopamin-Modell, erwarten würde. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass es sich beim Dopamin-System um ein kompliziertes Netzwerk handelt, in dem die Nervenzellen verschiedener Hirnregionen aktivierend und hemmend aufeinander einwirken.

Auf jeden Fall zeigten die Forscher mit ihrer Manipulation, dass die dopaminergen Neuronen in der Substantia nigra die Zeitwahrnehmung im Bereich von einer bis zwei Sekunden ziemlich direkt steuern. Sie gehen davon aus, dass es sich beim Menschen ähnlich verhalten könnte. Dafür spreche, dass Parkinsonpatienten, bei denen die dopaminergen Neuronen in der Substantia nigra absterben, oft auch eine gestörte Zeitwahrnehmung hätten, schreiben sie.
 
Körperempfindungen als Taktgeber

Wenn es aber um längere Zeitintervalle von mehreren Sekunden geht, ist beim Menschen laut Wittmann eine andere Hirnregion bei der Zeitwahrnehmung massgebend: die Insula. Sie gehört zum Kortex und liegt direkt unter der äusseren Hirnrinde. Hier laufen alle Informationen über den Zustand des Körpers ein, wie zum Beispiel das Gefühl für Kälte, Hunger, der Herzschlag, aber auch, wie man auf dem Stuhl sitzt und ob der Fuss gerade einschläft. In der Insula werden diese Signale mit Informationen aus der Umwelt zusammengebracht, und so entsteht ein Gefühl für den Körper in Raum und Zeit.

Deshalb kam der Neuroanatom Bud Craig von der Arizona State University aus theoretischen Überlegungen darauf, dass dieser kontinuierliche Eingang von Signalen aus dem Körper ein Gefühl für die Zeit vermitteln könnte. Laut dieser Theorie, die er 2009 publizierte, wären die Körpersignale die Impulse oder die Messeinheit für die Zeitwahrnehmung. Tatsächlich zeigte Wittmann ein Jahr später, dass die Insula bei der Zeitwahrnehmung aktiv ist. Bei Probanden, die Zeitintervalle von 9 und 18 Sekunden schätzen sollten, stieg die Aktivität in der Insula über die gesamte Zeitdauer an und brach jäh ab, wenn das Ende erreicht war. Als würden dort die eingehenden Signale zusammengezählt und bei Erreichen eines bestimmten Werts gestoppt.
 
Aufmerksamkeit beeinflusst die innere Uhr

Laut Wittmann können zwei Mechanismen hier die subjektive Zeitwahrnehmung beeinflussen: die Aufmerksamkeit und der Erregungszustand des Körpers. Beide verändern die Zahl der registrierten Impulse und können somit die Uhr langsamer oder schneller laufen lassen. Je weniger man abgelenkt ist, desto eher achtet man auf seinen Körper, und desto mehr Signale gehen ein und umgekehrt. Bei Emotionen wie Angst oder Freude werden dagegen Hormone ausgeschüttet, die über das vegetative Nervensystem den Erregungszustand des Körpers verändern und so die Impulsrate verändern. Besonders eindrücklich ist dies in einer «Schrecksekunde», wenn der Eindruck entsteht, dass alles in Zeitlupe abläuft.

Beim Dopamin- und beim Insula-Modell handelt es sich um zwei der gängigsten Hypothesen darüber, wie das subjektive Zeitgefühl entsteht. Wie es sich tatsächlich verhält, bleibt rätselhaft.

Montag, 19. Dezember 2016

Weltschaum.

„Er zählt augenzwinkernd nach, wie viele Sandkörnchen es gibt, und zwar nicht nur an den Ufern der Meere, sondern im gesamten Universum.“ Carlo Rovelli über Archimedes und dessen Werk „Die Sandzahl“.
aus Die Presse, Wien, „Er zählt augenzwinkernd nach, wie viele Sandkörnchen es gibt, und zwar nicht nur an den Ufern der Meere, sondern im gesamten Universum.“ Carlo Rovelli über Archimedes und dessen Werk „Die Sandzahl“.

Im Sand der Raumzeit 
„Was ist Wirklichkeit?“, fragt der Physiker Carlo Rovelli – und zeichnet eine Welt der Quantengravitation, in der es nur so wimmelt und vibriert.

 

„Die Welt ist anders, als sie uns erscheint“, schreibt der italienische Physiker Carlo Rovelli in seinem neuen Buch namens „Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint“. Große Worte, großer erkenntnistheoretischer Anspruch. Der auf den zweiten Blick viel naiver ist, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Er impliziert, dass die Physik Zuverlässiges über das wirkliche Wesen der Dinge oder gar der Welt aussagen könne; der Quantentheorie etwa bescheinigt Rovelli einen „Vorstoß ins innerste Wesen der Dinge“.

Spätestens seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ sollte man solche Ansprüche skeptisch sehen. Man könnte sie mit John Lennons Worten abschmettern – „Nothing is real, and nothing to get hung about“ –, aber das wäre vielleicht ungerecht. Denn was Rovelli antreibt, ist die schönste Idee der Physikgeschichte: dass man zwei Theorien vereinen kann und daraus eine neue Theorie erhält, die reicher, weiter und stärker ist als die beiden, aus denen sie entstanden ist.

Das erfolgreichste Beispiel ist die Theorie des Elektromagnetismus: In ihr führte James Clerk Maxwell in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts die Elektrizität und den Magnetismus zusammen, und das ist nicht nur mathematisch sehr schön, sondern es erhellt die Welt ganz wörtlich bis heute, denn es erklärt das Licht als elektromagnetische Welle.

Vereinigung der Kräfte.  

Nicht ganz so perfekt ist die Theorie, die hundert Jahre später den Elektromagnetismus und die schwache Kernkraft zusammenführte; bestenfalls skizzenhaft kennen die Physiker eine Theorie, die die daraus kombinierte „elektroschwache Kraft“ und die dritte Kraft, die starke Kernkraft, vereint, zu einer Grand Unified Theory (GUT). In einem Quantenfeld natürlich, denn so gehört es sich, seitdem uns die Quantentheorie beigebracht hat, dass nicht nur alle Materiestücke, sondern auch alle Felder quantisiert sind, aus kleinsten Körnern bestehen.

Doch das größte offene Rätsel ist, ob und wie die vierte Kraft, die Gravitation, dazu passt. Albert Einstein hat sie in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie neu erklärt: als Eigenschaft der Raumzeit. Diese selbst ist in Einsteins Theorie das Feld, „ein sich bewegendes und schwingendes Etwas, das Gleichungen gehorcht“, wie Rovelli es ausdrückt. Will man dieses Feld in einer Quantenfeldtheorie beschreiben, muss man also annehmen, dass die Raumzeit selbst aus kleinsten, grundsätzlich nicht weiter teilbaren Stückchen besteht. „Unterhalb eines bestimmten Maßstabs ist der Raum nicht mehr zugänglich, ja es gibt nicht einmal mehr etwas Existentes“, schreibt Rovelli in einer seiner Formulierungen, die schaumig sind wie die Welt, wie er sie sich vorstellt.

Erschaffung des Raums

 „Die Welt besteht aus Vibrieren und Wimmeln“, schreibt er etwa, „Raumquanten gehen im Schaum der Raumzeit auf“, oder: „Die Welt ist ein Gewimmel aus elementaren Quantenereignissen im Meer eines uferlosen dynamischen Raums, der wie die Wellen des Meeres wogt.“ Ebendieses „mikroskopische Wimmeln von Quanten“ würde den Raum und die Zeit „erschaffen“, erklärt er; ein paar Seiten davor hat er formuliert: „Die Dinge (Quanten) liegen nicht im Raum, sondern im Umfeld der anderen Dinge. Der Raum ist das Gewebe ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen.“

Gewiss, es mag mathematische Konzepte der Nachbarschaft geben, die schwächer, der Anschauung ferner, allgemeiner sind als unsere alltagserprobte Vorstellung von räumlicher Nachbarschaft; aber wer von Wimmeln und Vibrieren oder von einem Umfeld spricht, spricht von einem Raum, wenn auch vielleicht von einem abstrakten. Wir können gar nicht anders: Wir können uns keine Dinge außerhalb von Raum und Zeit vorstellen, schon gar nicht Objekte, die den Raum und die Zeit erst aufbauen. Das hat Kant gemeint, wenn er von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen sprach: Wir haben keinen Zugang zu „Dingen an sich“, die außerhalb von Raum und Zeit liegen; wer über solche spricht, betreibt Metaphysik und nicht Physik.

Kant habe „unrecht mit der Ansicht, dass Raum und Zeit Erkenntnisformen a priori seien“, schreibt Rovelli nassforsch. Genauso sicher weiß er: „Wir können feststellen, ob eine Theorie richtig oder falsch ist.“ Es wäre vielleicht doch gut, zumindest von Ordinarien der Physik zu verlangen, dass sie sich mit Karl Poppers Wissenschaftstheorie befasst haben...

Natürlich hat auch die Superstringtheorie, die große Konkurrentin der von Rovelli (und z. B. auch Roger Penrose) vertretenen Theorie der Schleifenquantengravitation (Loop Quantum Theory), ihre konzeptuellen Schwächen. In ihr ist etwa die Raumzeit, in der die Strings wuseln sollen, zumindest im Ansatz ganz klassisch starr und flach. Dafür fordert sie überschüssige Dimensionen, die sich erst einrollen müssen. Diese sowie die aberwitzig vielen Universen, auf die ihre Interpreten gekommen sind, haben die theoretische Physik in ein postmodernes Wunderland gestürzt. Klar, dass es vergnüglich zu lesen ist, wenn Rovelli gegen die Superstringtheorie polemisiert. Da hört er sogar „die Stimme der Natur“ rufen: „Hört auf, von neuen Feldern und exotischen Teilchen, zusätzlichen Dimensionen, weiteren Symmetrien, Paralleluniversen, Strings und vielem mehr zu träumen.“

Immerhin keine Unendlichkeit.  

Erfreulich sind auch Rovellis Warnungen vor fahrlässigem Umgang mit dem Begriff des Unendlichen. Tatsächlich scheint die Annahme, dass auch Raum und Zeit aus kleinsten Quanten bestehen, die Unendlich- keiten zu beseitigen, die die Quantenfeldtheorie von jeher belasten. Auch von den Unendlichkeiten im Großen, die etwa der Kosmologe Max Tegmark in seinem Buch „Unser mathematisches Universum“ ad absurdum getrieben hat, will Rovelli erfrischenderweise nichts wissen: „Wenn wir eingehend die Natur befragen, scheint sie uns zu sagen, dass nichts unendlich ist.“

Das Universum sei „ein schier uferloses, aber endliches Meer“, erklärt Rovelli – und stellt sich in die Tradition der „Sandzahl“ des Archimedes: „Wir zählen die Raumkörnchen, aus denen der Kosmos besteht. Ein [un?]überschaubarer, aber endlicher Kosmos. Wirklich unendlich ist einzig unser Unwissen.“ Das ist zwar eine etwas humorbefreite Paraphrase eines alten Einstein-Sagers, aber darauf kann man sich mit ihm einigen, in dieser Welt der Erscheinungen.


Nota. - Das Labor ist nicht die Wirklichkeit, sondern künstlich wie eine Theaterkulisse. Wirklich ist, was erscheint. Wirklich ist, dass die Sonne morgens im Osten aufgeht und abends im Westen untergeht. Ich kann es bezeugen, ich habe es selber gesehen.

Rein wissenschaftlich gesehen, ist leben Stoffwechsel und Fortpflanzung. Das lässt sich in unendlich viele biochemische Mikroprozesse auflösen. Was leben "wirklich ist", wird sich dabei aber nicht erfahren lassen.  

Der Philosophie wurden vor zweieinhalb Jahrhunderten von Kant ihre Grenzen gezogen. Dass sie sie über- schritte, kann man der gegenwärtigen Philosophie nicht vorwerfen; eher schon, dass sie sie nicht einmal ausfüllt. 

Hat der Naturwissenschaft je einer ihre Grenzen gezeigt? Hirnforschung, Molekularbiologie, Mikro- und Makrophysik - nirgends genieren die Forscher sich zu spekulieren, und manch einer wartet dazu nicht ein- mal den Tag seiner Emeritierung ab. 
JE


Donnerstag, 15. Dezember 2016

Aufrecht gehen und aufrecht rennen.

Gehen mit der Ferse zuerst - typisch Mensch.
aus scinexx

Warum wir mit den Fersen zuerst auftreten
Forscher enthüllen Vorteile der menschlichen Gehtechnik

Scheinbares Paradox: Anders als viele Säugetiere tritt der Mensch beim Gehen zuerst mit den Fersen auf – und geht nicht ausschließlich auf den Ballen. Auf den ersten Blick ist das ein Nachteil: Denn im Vergleich zu den Zehenspitzen-Gehern scheinen wir dadurch unsere effektive Beinlänge zu verkürzen. Doch jetzt haben Forscher herausgefunden: Es ist sogar genau umgekehrt. Der Gang mit der Ferse zuerst "verlängert" demnach unsere Beine.

Der Mensch unterscheidet sich von anderen Säugetieren auch dadurch, dass er aufrecht auf zwei Beinen läuft. Doch der menschliche Gang ist aus einem weiteren Grund einzigartig: Anders als viele tierische Vierbeiner treten wir beim Gehen zuerst mit der Ferse auf anstatt mit den Zehen - bereits unsere frühen Vorfahren praktizierten diese Art zu laufen, wie 3,6 Millionen Jahre alte in Vulkanasche konservierte Fußabdrücke belegen.

"Menschen sind sehr effiziente Läufer. Doch der Schlüssel für einen effizienten Gang sind in der Regel lange Beine", sagt James Webber von der University of Arizona. "Hunde und Katzen etwa gehen deshalb auf ihren Ballen und heben die Fersen vom Boden ab. Auf diese Weise verlängern sie praktisch ihre Gliedmaße. Wir aber bringen unsere Fersen auf den Boden und machen unsere Beine damit physikalisch kürzer als sie wären, wenn wir auf Zehenspitzen stünden."

Gehen für die Wissenschaft

Für die Wissenschaftler war dieses scheinbare Paradox unerklärlich: Während wir beim Rennen genau jenen Trick anwenden, den auch etliche Säugetiere für sich entdeckt haben, tun wir dies beim Gehen nicht. Nur auf den Ballen aufzukommen scheint beim Gehen für uns unnatürlich zu sein. Um dieses Rätsel zu ergründen, beobachteten Webber und seine Kollegen Probanden auf dem Laufband.

Für das Experiment sollte die eine Hälfte der Teilnehmer normal gehen, die andere mit den Zehen zuerst auftreten. Dabei zeigte sich: Die Zehengeher bewegten sich langsamer als die, die konventionelle Schritte machten. Außerdem mussten sie sich rund zehn Prozent mehr anstrengen, um die gleiche Leistung wie ihre Mitstreiter zu erzielen.

Wie ein umgekehrtes Pendel

Doch warum funktioniert der konventionelle Gang für uns so viel besser? Die Forscher haben eine Erklärung dafür - und tatsächlich hat sie ebenfalls mit der Länge der Beine zu tun. Wenn der Mensch geht, erläutert das Team, bewegt er sich wie ein umgekehrtes Pendel oder wie ein Metronom. Der Körper schwenkt dabei über dem Punkt, an dem der Fuß auf dem Boden auftrifft.

"Menschen landen auf der Ferse und drücken sich von den Zehen wieder ab", erläutert Webber. Machen wir einen Schritt nach vorne, bewegt sich der zentrale Druckpunkt zwischen diesen beiden Punkten entlang des Fußes. Der Schwenkpunkt des gedachten Pendels liegt dabei auf der Höhe des Mittelfußes - und zwar nicht auf, sondern einige Zentimeter unter dem Boden.

Verlängerte Beine

Genau das ist der entscheidende Punkt, wie die Wissenschaftler betonen: Es bedeutet, dass unsere "virtuellen" Gliedmaße länger sind als unsere wirklichen Beine. "Es passiert unterhalb des Bodens - aus mechanischer Sicht ist es, als hätten wir verlängerte Beine", sagt Webber. Tatsächlich ist dieser Verlängerungstrick effektiver als die Verlängerung via Zehengang. Das zeigen die Laufdaten der Probanden deutlich: Der normale Gang bringt demnach einen Vorteil von rund fünfzehn Zentimetern Beinlänge.

Das offenbarte auch ein weiteres Ergebnis des Experiments: Erhöhte sich die Geschwindigkeit des Laufbands, begannen die Zehengänger früher zu rennen als die konventionellen Geher. Das mache ebenfalls deutlich, dass das Gehen mit den Zehen zuerst für Menschen weniger effizient ist, so das Team.

Vom Gehen zum Rennen

"Der Mensch hat offenbar eine neue Strategie entwickelt, um seine Beine beim Gehen noch weiter zu verlängern als andere Tiere", sagt Webber. "Es dreht sich immer noch alles um die Beinlänge. Doch dabei kommt es nicht nur darauf an, wie weit unsere Hüfte vom Boden entfernt ist. Auch die Füße spielen eine entscheidende Rolle - und das wurde bisher oft übersehen."

Tatsächlich waren unsere Vorfahren wohl noch besser an schnelles Gehen angepasst als der moderne Mensch. Denn frühe Zweifüßler hatten vergleichsweise lange Füße: Sie erreichten etwa 70 Prozent der Länge ihres Oberschenkelknochens, beim heutigen Menschen sind es 54 Prozent. Die Forscher glauben: Als der Mensch sich auf das Jagen von Beutetieren spezialisierte, verlegte er sich vom Gehen aufs Rennen. Seine Füße und Zehen schrumpften deshalb.

"Damals wurde es wichtiger, ein guter Renner zu sein anstatt ein sehr schneller Geher", sagt Webber. "Doch trotz der geschrumpften Füße hat der moderne Mensch seine Fersentechnik beim Gehen beibehalten - und das aus gutem Grund. Denn sie ist noch immer sehr effektiv, wie unsere Ergebnisse zeigen." (The Journal of Experimental Biology, 2016; doi: 10.1242/jeb.138610)

(University of Arizona, 13.12.2016 - DAL)

Samstag, 10. Dezember 2016

Warum der Affe nicht spricht.

 
aus derStandard.at, 9. Dezember 2016, 20:04


Warum Affen nicht reden
An Kehlkopf, Zunge und Lippen scheitert es nicht, hat Tecumseh Fitch (Uni Wien) mit Kollegen herausgefunden. Schuld ist wohl "nur" das Affenhirn

Wien – Es gibt nicht allzu viele Eigenschaften, die der Mensch exklusiv besitzt und nicht mit den anderen Menschenaffen teilt. Der vielleicht wichtigste Unterschied, der uns bleibt, ist die Sprache: Menschenaffen können zwar alle möglichen Zeichen erlernen und damit kommunizieren. Doch das Erlernen neuer Laute ist ihnen nicht möglich.


Die Forschung ging bis jetzt davon aus, dass die mangelnde Sprachfähigkeit von Schimpansen und anderen Primaten auf Begrenzungen in der Vokalanatomie, also der Beschaffenheit von Kehlkopf, Zunge und Lippen, zurückzuführen ist. Doch diese Annahme, die sich auch in Lehrbüchern findet, dürfte nach neuesten Erkenntnissen eines internationalen Forscherteams um den Kognitionsbiologen Tecumseh Fitch (Uni Wien) und Asif Ghazanfar (Uni Princeton) falsch sein.


Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen


Für ihre Studie, die im Fachblatt "Science Advances" erschien, haben die Forscher die Vokalanatomie von Makaken mit Röntgenstrahlen durchleuchtet, um jene Veränderungen im Mund und Hals von Makaken zu beobachten, während sie Laute von sich gaben, fraßen oder auch nur ihren Gesichtsausdruck variierten. Damit konnten sie ein Computermodell des Vokaltraktes der Affen erstellen, aus dem die Forscher auf die theoretisch erzeugbaren Laute schließen konnten.

 
Und dieses Modell brachte eine große Überraschung: Es zeigte nämlich, so Tecumseh Fitch, "dass es für Affen ein Leichtes wäre, viele verschiedene Sprachlaute zu produzieren, um daraus tausende unterschiedliche Worte zu formulieren". Der Kognitionsbiologe und sein Team gingen sogar einen Schritt weiter und fragten sich, wie diese Sprache der Affen klingen könnte, wenn sie unter der Kontrolle eines menschlichen Gehirns stünde. In der Folge erstellten sie Beispiele dieser künstlichen Affensprache.


Makaken haben alle anatomischen Voraussetzungen


Diese Ergebnisse legen zum einen nahe, dass sich eine einfache Form der Sprache zu jedem Zeitpunkt der vormenschlichen Evolution hätte entwickeln können, denn die anatomischen Voraussetzungen sind schon bei Makaken gegeben. Zum anderen ist damit klar, dass die Sprachfähigkeit des Menschen eindeutig mit unserem Hirn zu tun hat.


"Jetzt ist die interessante Frage, was an unserem Gehirn so speziell ist", sagt Asif Ghazanfar. Da könnte das Gen FoxP2 ins Spiel kommen: Dieses "Sprachgen" unterscheidet sich beim Menschen in zwei bis drei Aminosäuren vom FoxP2-Gen der Menschenaffen. Womöglich machen bloß diese Aminosäuren den entscheidenden Unterschied. (tasch)


Volltext der Studie
Science Advances: "Monkey vocal tracts are speechready"


Nota. - Der Affe spricht nicht, weil er uch nicht lacht. Ich glaube, das eine gehört zum andern.
JE

 

Freitag, 9. Dezember 2016

Der Geist entstand aus einem Gendefekt.

aus nzz.ch, 8.12.2016, 11:46 Uhr

Kleine Mutation - grosses Gehirn
Offenbar hat der Einbau eines einzigen falschen Bausteins in ein Gen zum Grössenwachstum des menschlichen Gehirns beigetragen - und damit zu den kognitiven Höchstleistungen des Menschen.

von Katharina Dellai-Schöb 

Die Frage, wie sich der Mensch von anderen Tieren unterscheidet, beschäftigt die Wissenschaft seit langem. Die einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen basieren auf einem relativ grossen Gehirn, das sich im Lauf der Evolution unter anderem durch die vermehrte Bildung und Vernetzung von Nerven. zellen entwickelt hat. Eine winzige Mutation im Erbgut des Menschen soll dieses verstärkte Hirnwachstum ermöglicht haben, berichten Wissenschafter nun in der Fachzeitschrift «Science Advances».¹


Menschenspezifisches Gen

Unser Erbgut ähnelt in seinem Aufbau einer in sich verdrehten Strickleiter. Die «Holme» werden von einem Phosphat-Rückgrat gebildet und durch «Sprossen» aus vier verschiedenen Basen zusammengehal- ten. Mehrere hundert oder tausend dieser Basen ergeben ein Gen, das die Bauanleitung für ein Protein enthält. Bereits eine kleine Veränderung (Mutation) in einem Gen, etwa der Einbau einer «falschen» Base, kann grosse Auswirkungen haben.

So haben Experimente beispielsweise gezeigt, dass bestimmte Mutationen die Gehirnentwicklung beeinflussen: So fördern sie etwa während der Entwicklung des Neocortex die Bildung von Nervenzellen aus Vorläuferzellen, indem sie deren Vermehrung ankurbeln. Der Neocortex ist jener Teil der Grosshirnrin- de von Säugetieren, der für die kognitiven Fähigkeiten und komplexen Verhaltensweisen entscheidend ist. 

Verschiedene Vorläuferzellen im Neocortex eines Mäuseembryos (links) und eines menschlichen Fötus. (Bild: Florio et al. Sci. Adv. 2016;2:e1601941)

Das Gen ARHGAP11B kurbelt die Vermehrung der Vorläuferzellen im Neocortex natürlicherweise an. Dies haben Marta Florio vom Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden und ihre Kollegen gezeigt. Es kommt nur beim Menschen vor und tauchte in dessen Abstammungslinie rund eine Million Jahre nach der Abspaltung vom Schimpansen auf. Entstanden ist es durch eine teilweise Verdoppelung eines Gens mit dem Namen ARHGAP11A. Es weist jedoch nicht dieselbe Proteinaktivität auf wie sein «Vorläufer».

Fehlende Bausteine

Auf der Suche nach der Ursache für diesen Unterschied stellten die Wissenschafter fest, dass der sogenannten Boten-RNA von ARHGAP11B 55 Bausteine fehlen. Die Boten-RNA ist die «Blaupause» eines Gens, auf deren Grundlage das Genprodukt entsteht. Nun konnten Florio und ihr Team zeigen, dass diese Bausteine in der DNA-Sequenz des Gens durchaus noch vorhanden sind und demnach erst während der Bildung der Boten-RNA verloren gehen – und der Grund hierfür liegt offenbar in einer einzigen veränderten Base. Laut Florio führt diese nämlich dazu, dass eine molekulare Schere die 55 Bausteine aus der entstehenden Boten-RNA entfernt.

In einem weiteren Versuch stellten die Wissenschafter eine «Urversion» von ARHGAP11B ohne die Mutation her. Deren Boten-RNA enthielt die 55 Nukleotide und zeigte dementsprechend eine ähnliche Proteinaktivität wie die «A-Variante» des Gens, kurbelte aber nicht wie die moderne «B-Variante» die Vermehrung der neuronalen Vorläuferzellen an. Florio und ihr Team schliessen daraus, dass diese Fähigkeit nicht durch die Gen-Verdoppelung vor rund fünf Millionen Jahren zustande gekommen ist, sondern jünger sein muss. Erst die spätere Punktmutation habe die Vergrösserung des Neocortex und damit die Entwicklung der einzigartigen Hirnleistung des Menschen ermöglicht, erklären die Forscher.

¹ Science Advances, Online-Publikation vom 7. Dezember 2016.


Nota. - Seit Darwin und Mendl zu höherer Einheit versöhnt wurden, wissen wir, dass unsere Stammesent- wicklung aus lauter kleinen Webfehlern besteht, die von der gütigen Fee Selektion so zusammengesucht werden, dass wir immer größer, schöner und klüger werden: Das sind die Mutationen, genetische Irrläufer, die pro Generation zu Tausenden entstehen; 99 von 100 davon sind schädlich oder zumindest unnütz, und weil sie ihren Träger belasten, wird er sich - auf die Dauer! - nicht erfolgreich forpflanzen und stirbt aus, und sie mit ihm.

Die sich als nützlich erweisen, verschaffen ihrem Träger einen Fortpflanzungsvorteil und werden schnell zum Erbbestand der ganzen Gattung. Das nennen wir Evolution durch Selektion und erkennen darin eines unserer beliebtesten, weil vorteilhaftesten Naturgesetze: das Positive schlechthin.

Es ändert aber nichts daran, dass es sich um eine Auslese aus lauter Fehlern handelt, die sich nur darum als vortelhaft erweisen, weil sie irgendwann auf äußere Bedingungen trafen, unter denen sich ihre Nachteile in Vorteile verkehrten. Dieses 'Positive' ist eine Verkehrung von Verkehrtem, nämlich ein Negatives, dem gegen die Gesetze der Zufall zu Hilfe kommt! 

Insofern ist meine Überschrift reißerisch. Alles, was uns an uns lieb und teuer ist, verdanken wir solchen Gendefekten, daran ist nichts neu. Und doch wird die Frage, wo die Menschen ihren Geist herhaben, so behandelt, als suchten wir nach einem Topf voll Gold! Was wir suchen, ist eine Missgeburt, die durch einen Zufall auf einen Dunghaufen gefallen und ins Kraut geschossen ist. Und egal, ob gut oder schlecht - es war Zufall, kein 'Gesetz', es hätte unter normalen Umständen gar nicht dazu kommen dürfen. (Der Zufall dürfte in diesem Fall der aus ganz andern Ursachen erworbene aufrechte Gang gewesen sein.)
JE