Ausser Kupferstechern, Malern, Verlegern und Kaufleuten
finden sich in der Merian-Dynastie auch Professoren der Mathematik, der
Physik und Chemie – und die Naturforscherin Maria Sibylla Merian, unten
rechts im Bild, das Matthäus Merian d. J. 1641 von seinem Vater und den
Seinen gemalt hat.
aus nzz.ch, 19. Juli 2014, 05:30
Wissenschafter-Dynastien in der frühen Neuzeit
Gelehrige Sprösslinge
In den Universitäten der frühen Neuzeit waren Dynastien von Wissenschaftern keine Seltenheit. Das ist keine Neuigkeit – doch über die Psychodynamik in solchen Gelehrtenfamilien weiss man bis jetzt wenig. Wer ihr nachspürt, begibt sich auf die Suche nach Familiengeheimnissen.
In den Universitäten der frühen Neuzeit waren Dynastien von Wissenschaftern keine Seltenheit. Das ist keine Neuigkeit – doch über die Psychodynamik in solchen Gelehrtenfamilien weiss man bis jetzt wenig. Wer ihr nachspürt, begibt sich auf die Suche nach Familiengeheimnissen.
Es gab eine Zeit, als sich in weitverzweigten Akademikerhaushalten zahlreiche Sprösslinge um das Familienerbe drängten. Das ist lange her. Heute würde es befremden, wenn ein Luhmann-Sohn den Soziologie-Lehrstuhl seines Vaters erklimmt, ein Koselleck junior dort anfängt, wo der Senior aufgehört hat. Aber im 16. oder 17. Jahrhundert war das normal. In Basel etwa verknüpfen sich die Namen Amerbach, Zwinger, Bernoulli, Buxtorf, Burckhardt, Iselin oder auch Merian jeweils mit einer solchen gelehrten Dynastie. Allein die Bernoullis sind Legion: Jöchers Gelehrten-Lexikon bemüht sich redlich, all die Johanns, Nikoläuse und Jakobs auseinanderzuhalten, die deshalb als Johann I, Johann II, Jakob I, Jakob II usw. durchnummeriert werden. Und fast alle sind sie Mathematiker, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, so wie alle Buxtorfs Hebraisten sind.
Eine psychologische Perspektive
Ähnlich sieht es in Leipzig aus. Dort gibt es zum Beispiel die Familie Carpzov mit ihrem schicken Haus direkt am Markt. Stammvater war Johann Benedikt Carpzov d. Ä., ein Professor der Rechtswissenschaften und eine eindrückliche Persönlichkeit. Seine fünf Söhne, Benedikt d. J., August, Christian, Konrad und Johann Benedikt I waren grösstenteils ebenfalls Juristen, allerdings tanzte Johann Benedikt aus der Reihe, der Theologe wurde. Während die Juristensöhne nach Frankfurt an der Oder, Wittenberg, Magdeburg und Coburg ausweichen mussten, konnte der Ausnahmezögling Johann Benedikt im heimischen Leipzig bleiben. Er wurde dort wiederum Stammhalter von nicht weniger als vier Söhnen, die alle Karriere machten: August Benedikt, Friedrich Benedikt, Johann Benedikt II und Samuel Benedikt, der ihn dann wieder mit Enkeln wie Johann Benedikt III usw. beschenkte. In dieser Linie hielten sich Theologie und Jurisprudenz bereits die Waage.
Man hat sich angewöhnt, von «Familienuniversitäten» zu sprechen, weil in der altständischen Gesellschaft die Weitergabe der Professuren oft ähnlich funktionierte wie bei Handwerkern oder in Betrieben: Man liess den Sohn oder die Söhne das eigene Gewerbe weiterführen, denn dann konnte man sowohl die Firma, die Werkstatt und den Hof weitervererben als auch das Know-how an die eigenen Sprösslinge weitergeben. Für Professoren bedeutete das: Man unterrichtete die eigenen Kinder im Fach, für das man stand, und man gab den Bücherschatz, die «Hardware» des Forschens, an die eigene Linie weiter. Was aber heisst das genau für den Wissenstransfer in der Familie? Die Geschichtsschreibung hat viele prosopografische Studien über Familienuniversitäten betrieben, aber sie hat bisher kaum nach der Familiendynamik gefragt, die solche dynastischen Verhältnisse mit sich brachten. Wie verläuft der Wissenstransfer in Professorendynastien in psychologischer Sicht? Welche Spannungen gab es zwischen Vater und Sohn, die beide das gleiche Fach am gleichen Ort lehrten, oder zwischen Brüdern, die die Disziplinen unter sich aufteilten? Was kann die Universitätsgeschichte von der Familientherapie lernen, die Familien als Systeme betrachtet, deren interne Interaktionen auf bewusste und unbewusste Weise stets miteinander verbunden sind?
Wie hat man sich eine solche Dynastie vorzustellen? War es eine Freude, in ihr, mit all den Möglichkeiten, aufzuwachsen – oder auch eine Last, eine Hypothek (wie die in der Thomas Mannschen Kaufmannsfamilie Buddenbrook zu tragende)? Wann spätestens musste man ausscheren, wie viele schwarze Schafe gab es? Das ist meist aus den Gelehrten-Lexika nicht so einfach zu eruieren, denn schwarze Schafe merzt man aus der Erinnerung aus. Schwarze Schafe wie Johann Leyser aus der Wittenberger Professorendynastie der Leyser, Abkömmlinge vom Theologen Polykarp Leyser d. Ä. – den wir von Lucas Cranach porträtiert kennen – und von dessen Sohn Polykarp II, einem Superintendenten in Leipzig.
Dieser Johann Leyser war sozusagen mit so viel kulturellem, symbolischem und familiärem Kapital gemästet, dass er vor Selbstbewusstsein schier platzte. Selbstbewusstsein führt gelegentlich zu steilen Thesen, und die wiederum lassen das Wissen, das doch in der Familientradition gehütet worden ist, plötzlich prekär werden. Leyser war Rektor des berühmten Internats Schulpforta bei Naumburg, aus dem später Fichte und Nietzsche hervorgingen. Aber er war so sehr von theologischen Argumenten überzeugt, dass er sich zu der Behauptung verstieg, Männer dürften nicht nur polygam leben, sondern müssten es sogar – nach dem Imperativ der Bibel, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Es sei geboten, mehrere Frauen gleichzeitig zu haben. Dieser Chauvinismus hatte als Kehrseite eine extreme Frauenfeindlichkeit, die Leyser dazu verlockte, die angeblichen Diskussionen der Synode von Macon im Jahre 585 aufzuwärmen, Diskussionen darüber, ob Frauen überhaupt Menschen seien. Dieses Thema war durch Valens Acidalius' Satire «Disputatio nova contra mulieres, qua probatur eas homines non esse» in vieler Munde, zumindest auf der Ebene von Pennälerscherzen. Johann Leyser aber meinte es ernst, bierernst. Er wurde von der Schule geworfen, ging nach Dänemark, wurde dort ausgewiesen, ging nach Schweden, dann nach England, in die Niederlande und schliesslich nach Frankreich und kam immer mehr auf den Hund. Was ist da passiert?
«Mehrgenerationenkonto»
Man muss wohl den psychologischen Begriff «Mehrgenerationenkonto» bemühen, um solche extremen Entwicklungen zu verstehen. Nach ihm übertragen sich Schuld, Heimlichkeiten oder Belastungen in der Familie auf Kinder und Kindeskinder. Frauenhass, Masslosigkeit, Idiosynkrasie – das sind verzerrte Charakterzüge bei Leyser, die wohl nur als Reaktion auf familiäre Enge, hohe Erwartungen und wenig Ausdrucksmöglichkeit verständlich werden. Zugleich entsprechen ihnen so etwas wie «epistemische Laster» – das Gegenteil von erkenntnisbezogenen Tugenden –, insofern sie zu seltsamen und übertriebenen Anwendungen der gelehrten Potenziale führen.
Ganz ähnlich ist auch der Fall des Adrian Beverland gelagert, der (ganz ist es nicht gesichert) ein Spross der Amsterdamer Philologenfamilie Vossius war. Gerhard Johannes Vossius ist wohlbekannt als liberal-calvinistischer Gräzist, Historiker, Rhetorikexperte und Religionswissenschafter. Sein hochbegabter ältester Sohn – wohl auch Lieblingssohn – war Dionysius. Er konnte schon mit vierzehn das gesamte Alte Testament auf Hebräisch lesen, lernte Syrisch und Aramäisch und publizierte mit sechzehn zum Arabischen. Dann aber starb er plötzlich, mit nur einundzwanzig Jahren. Der Vater musste umsatteln und setzte auf den sechs Jahre jüngeren Isaac, aber schon das lief nicht mehr völlig «gerade». Isaac hatte seinen eigenen Kopf, auch er war voller Selbstbewusstsein, hielt sich – bei aller Gelehrsamkeit – nicht an bürgerliche Massstäbe, kam erst mittags aus dem Bett, lebte mit seiner Haushälterin zusammen und nahm, wenn er in den Gottesdienst gehen musste, einen der erotischen Lyriker der Lateiner wie Catull oder Properz mit auf die Kirchenbank.
Sein Neffe Adrian Beverland trieb diesen Spagat ins Extrem: Auf der einen Seite war er unglaublich gelehrt, insbesondere in der antiken Literatur, auf der anderen Seite blasphemisch bis ins Äusserste, so sehr, dass er wegen seiner «sexuellen» Interpretation vom Sündenfall in den Kerker geworfen und dann aus den Niederlanden verwiesen wurde. Es scheint, dass sich ein Mehrgenerationenkonto so «aufladen» kann, dass die Verlockung, gegen Regeln zu verstossen, übermächtig wird. Antinomismus und gleichzeitige familienbedingte gelehrte Früherziehung bilden dann eine explosive Mischung. Wenn die wissenschaftlichen Fähigkeiten atemberaubend sind, so sind es auch die Abweichungen von der sittlichen Norm, die unter ihrem Deckmantel geschehen.
Doch es muss nicht immer so extrem sein. Wie sieht es mit Konkurrenzen und mit Wissensteilungen unter Brüdern und Neffen aus? Als familiäre Wissensteilung kann man die Zerspaltung von Gelehrsamkeit in unterschiedliche Disziplinen bei gleichzeitigem ähnlichem Zugriff bezeichnen, gleichsam das Aufteilen der Beute unter Familienangehörigen – vielleicht mit gelegentlichem Wegbeissen und Knurren, um im Bild zu bleiben. Nehmen wir hier die Ludolfs, eine Familie voller hochbegabter Wunderkinder aus einem Erfurter Ratsherrengeschlecht: Der Stammvater war ein Kaufmann im Färberwaid-Handel, aber er hatte Nachfahren, die die politische und händlerische Weltläufigkeit sozusagen auf akademische Weise veredelten. Hiob Ludolf, sein einer Sohn, wurde der Begründer der Äthiopistik, als er in Gotha zusammen mit einem Abessinier die erste altäthiopische Grammatik verfasste. Mit dem Gothaer Herzog zusammen entwarf er Pläne für eine Äthiopienexpedition, um die Nachfahren des Priesterkönigs Johannes zu finden. Er war auch gewandt in Arabisch, Koptisch, Syrisch und vielen anderen Sprachen. Zu seinem eigenen Sohn Christian hatte Ludolf ein schwieriges Verhältnis. Als er starb, verbrannte dieser Sohn auf einer Wiese ausserhalb Frankfurts all die hinterlassenen Papiere seines Vaters. Offenbar wollte er sich von der Last von dessen Erbe befreien.
Konkurrenz
Hiob Ludolfs Bruder Georg Heinrich hatte zwei Söhne, die in die gleichen Fussstapfen traten. Der eine, Heinrich Wilhelm Ludolf, ist bekannt durch sein Porträt aus den Jahren um 1700, auf dem er seine muskulösen tätowierten Unterarme zeigt. Er wurde schon als Kind von seinem Onkel Hiob unterrichtet und war wie dieser ein Sprachengenie. Er lernte vom Onkel vor allem Hebräisch und Arabisch, eignete sich aber darüber hinaus auch Englisch, Französisch, Latein, Italienisch, Alt- und Neugriechisch, Türkisch und Äthiopisch an. Im Haus des Onkels lernte er Philipp Jacob Spener kennen, den Initiator des Pietismus. So kam er zum Waisenhaus in Halle, für das er später eine Orientreise unternahm. Vorher aber, 1692 bis 1694, reiste er für Dänemark und England durch Russland, bis weit nach Sibirien hinein, und lernte Land und Leute kennen. Hatte der Onkel die erste äthiopische Grammatik geschrieben, so tat es ihm nun der Neffe gleich, indem er die erste russische Grammatik verfasste – eine gelungene Wissensteilung: den gleichen Triumph noch einmal erreichen, aber in einer anderen Unterdisziplin.
Und die Konkurrenz im Haus war gross. Heinrich Wilhelms zwölf Jahre jüngerer Bruder Georg Melchior Ludolf hatte schon als Neunjähriger einen freien lateinischen Vortrag über das griechische Staatswesen gehalten, mit vierzehn bezog er die Universität. Danach profitierte er wieder von Familienbeziehungen, indem sein anderer Onkel, Johann Jakob Schmid, ein «sachsen-eisenachscher Rat», ihn auf seine Gesandtschaft nach Wien mitnahm. Georg Melchior wählte trotz seinen Begabungen nicht die sprachliche Disziplin wie sein Bruder, sondern neigte sich zur anderen Seite der Familie, zur politischen des Eisenacher Onkels. Vielleicht war ihm im System der Familiendynamik nichts anderes übrig geblieben.
Eine familiendynamische Wissensgeschichte findet Grenzen zunächst dort, wo die Familien- bzw. die Universitätsstrukturen andere sind. In England beispielsweise gab es keine Familienuniversitäten; an Orten wie Cambridge und Oxford lebten die Professoren zölibatär, ihre Familie sollte das College sein. Aber auch dort, wo – wie in Mitteleuropa – die familiäre Rekrutierung der Universität fest verwurzelt war, stellen sich Fragen nach den Grenzen der Tradierung. Als sich ab dem 18. Jahrhundert das Verhältnis zur Tradition änderte und Innovation und Abweichung positiv verstanden wurden – veränderten sich damit auch die Dynamiken in den Akademikerfamilien? Und: Betrifft die Wissenstransmission wirklich immer die Vater-Sohn-Linie? Was geschah, wenn Professoren nur Töchter hatten oder der Sohn nichts taugte? Dann kamen interessante Vater-Schwiegersohn-Relationen ins Spiel. In Hamburg etwa lassen sich solche Relationen beobachten, die man fast in Diagrammen im Stile von Lévi-Strauss' Analyse der «Kreuzcousinen-Heiraten» nachzeichnen möchte: Der ultraorthodoxe Lutheraner Johann Friedrich Mayer verheiratet seine Tochter an seinen besten Schüler, Johann Albert Fabricius – der sich später als weitaus liberaler herausstellt –, und dieser verheiratet seine Tochter an seinen besten Schüler Hermann Samuel Reimarus, der sich am Ende als noch liberaler, nämlich als beissender Bibelkritiker entpuppt. Die Wissensweitergabe schliesst auch hier die Vererbung der Bibliotheken ein; Reimarus kann von den Schätzen seines akademischen «Grossvaters» profitieren – und sie gegen die Intentionen des Erblassers einsetzen. Hier zerbricht eine geistige Tradition, gerade weil der formale Wissenstransfer funktioniert.
Ein anderer Blick
So rhapsodisch, wie die verschiedenen Lebensläufe hier skizziert worden sind, muss die jeweilige psychologische Deutung spekulativ bleiben und einer detaillierten Begründung entbehren. Aber als Anregung mag der Durchgang genügen – als Anregung, Wissen, Wissenstransfer und Familienstruktur aufeinander zu beziehen. Die Wissenschaftsgeschichte hat Familientradition bisher immer als gegebenen Rahmen genommen, als Stärkung der Bande der Solidarität vorausgesetzt. Wenn man aber nun den Blick verändert und in den Familienbeziehungen auch Problematisches, auch eine Bürde erkennt, dann ändert sich dieses Bild völlig. Wissen ist immer dann prekär, wenn sein Transfer dysfunktional wird und zu Verzerrungen führt. Diese Verzerrungen ergeben in der familieneigenen Logik Sinn, doch sie können die Akteure in Schwierigkeiten bringen. Prekäres Wissen ist eben beides: inhaltlich brisant und in seinem Status fragil. Fragil wie auch manche der hier vorgestellten Familien, die doch auf den ersten Blick so imposant waren, Dynastien eben. Aber jede Dynastie hat ihre Familiengeheimnisse.
Prof. Dr. Martin Mulsow ist Direktor des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt und hat dortselbst den Lehrstuhl für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit inne. 2012 ist sein Buch «Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit» (bei Suhrkamp) erschienen.
Nota.
Die Wissensschaft hat im 17. Jahrhundert ihren Aufstieg in Europa genommen, weil und indem sie öffentlich war. Familiäre und andere Initiationsketten sind prekär können diesem Prinzip nicht lange widerstehen.
JE
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