Donnerstag, 31. Juli 2014

Der Geschmack von Fett.

Aus evolutionsbiologischer Sicht essen wir gern fettige Kost, weil sie kalorienreich ist und uns für karge Zeiten rüstet.
aus nzz.ch, 31. Juli 2014, 05:30

Fett ist Geschmackssache
Sechster Sinn für Fettiges



Wie nehmen wir Geschmäcker wahr? Darüber ist längst noch nicht alles bekannt. Nach gängiger Lehrmeinung erzeugen der Geruchs- und der Tastsinn den Fettgeschmack. Dies scheint jedoch nur die halbe Wahrheit zu sein.

AA Ob es an dem köstlichen Geschmack, dem unwiderstehlichen Duft oder der angenehmen Konsistenz liegt, dass wir Lust auf Fettiges haben, dürfte den meisten von uns egal sein – wir essen es einfach. Für Wissenschafter aber tut sich hier ein ergiebiges Forschungsfeld auf. Denn wie Schmecken funktioniert, ist längst noch nicht verstanden. Bis anhin steht noch nicht einmal fest, wie viele Geschmacksqualitäten wir wahrnehmen können. Als gesichert gelten fünf – süss, sauer, salzig, bitter sowie das herzhaft-fleischige Umami. Umstritten ist dagegen, ob es auch einen «sechsten Sinn» für fettig gibt. Nach gängiger Lehrmeinung sind für die Fettwahrnehmung vor allem der Geruchs- und der Tastsinn zuständig, die auf das Aroma und die Beschaffenheit fetthaltiger Nahrung ansprechen. Nun mehren sich aber die Hinweise, dass Menschen auch für Fette Geschmacksrezeptoren haben.

Nach Molekülen angeln

Am Geschmackssinn sind beim Menschen einige tausend Geschmacksknospen beteiligt. In Gruppen sitzen diese vor allem auf der Zunge. Sie bestehen jeweils aus mehreren länglichen Sinneszellen, die ähnlich angeordnet sind wie die Schnitze in einer Orange. Lange Zeit nahm man an, dass bestimmte Areale auf der Zunge für die einzelnen Geschmacksqualitäten zuständig sind – etwa die Zungenspitze für süss. Tatsächlich aber gibt es überall Knospen mit Sinneszellen für jeden Geschmack und lediglich geringe Unterschiede in der Empfindlichkeit.

Die Geschmacksrezeptoren sind in die Wand der Sinneszellen eingebettet und angeln im Speichel nach vorbeitreibenden Geschmacksmolekülen. Dockt ein Molekül an den passenden Rezeptor an, sendet die Zelle ein Signal aus, das über Nervenbahnen ans Gehirn weitergeleitet wird und dort das entsprechende Geschmackserlebnis erzeugt. Dazu trägt allerdings auch der Geruch bei.

Der Geschmackssinn sorgt für Genuss, ist aber vor allem für die Qualitätskontrolle der Nahrung wichtig. Er ermöglicht, Essbares von Ungeniessbarem oder gar Giftigem zu unterscheiden. Toxische Pflanzen oder Verdorbenes schmecken oft bitter oder sauer. Süss und Umami stehen dagegen für Kohlenhydrate beziehungsweise Proteine und versprechen Energie. Sie verführen zum Essen. Dies war einmal ein evolutionärer Vorteil – als Nahrung noch eine knappe Ressource war. Daher scheint es naheliegend, dass Menschen auch einen Sinn für das besonders gehaltvolle Fett haben sollten.

Bei Mäusen hatten Forscher um Philippe Besnard von der Université de Bourgogne in Dijon bereits im Jahr 2005 einen Geschmacksrezeptor für Fett beschrieben. Im Versuch verglichen sie das Fressverhalten normaler Mäuse mit dem von Artgenossen, denen der Rezeptor namens CD36 aufgrund einer Mutation fehlte. Dabei zeigte ausschliesslich die erste Gruppe eine Vorliebe für fettreiche Kost. Die mutierten Nager hingegen frassen gleich viel fetthaltiges und fettarmes Futter – sie schmeckten offenbar keinen Unterschied. Mittlerweile wurden bei Nagetieren verschiedene solcher Fett-Sensoren gefunden.

Forscher unter der Leitung von Maik Behrens vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (Dife) begaben sich daraufhin beim Menschen auf die Suche. Sie fahndeten gezielt nach dem GPR120-Rezeptor, der von Mäusen bekannt war und zudem im menschlichen Magen-Darm-Trakt vorkommt. Dort ist er am Fettstoffwechsel beteiligt. Mithilfe molekularer Methoden identifizierten die Forscher GPR120 erstmals auch im Mund. Ausserdem fanden sie heraus, dass der Rezeptor auf langkettige Fettsäuren reagiert. In Geschmackstests waren das genau diejenigen Stoffe, die den typischen Fettgeschmack hervorriefen. Diese Ergebnisse wurden 2011 publiziert.

Unklar war allerdings noch, wie die Fettsäuren aus der Nahrung freigesetzt werden. Denn bei Nahrungsfetten handelt es sich meist um Triglyceride. Sie bestehen aus einem Glycerinmolekül, an dem drei Fettsäuren hängen. Diese sperrigen Verbindungen können an die Rezeptoren nicht andocken. Daher sind Enzyme notwendig, um die Bindung zwischen dem Glycerin und seinen Fettsäureanhängseln aufzubrechen. Im Mäusespeichel kommen solche Lipasen reichlich vor; beim Menschen war man dagegen nicht fündig geworden. Dies ist Behrens' Team nun aber gelungen. «Die Lipasen sind im Gesamtspeichel nicht nachweisbar, sondern werden offensichtlich lokal in der Nähe der Geschmacksknospen ausgeschüttet», sagt Koautor Thomas Hofmann von der Technischen Universität München. Daher seien sie erst jetzt entdeckt worden.

Die Forscher wiesen die fettspaltenden Enzyme nun direkt auf der Zungenoberfläche nach. Dazu legten sie Probanden Filterplättchen auf die Zunge, die mit Triolein – dem Triglycerid der Ölsäure – getränkt waren. Nach spätestens zweieinhalb Minuten wurden die Plättchen wieder entfernt und analysiert. Auf den Filtern fand sich umso mehr freie Ölsäure, je länger sie auf der Zunge verblieben waren – die Lipasen hatten mehr Zeit, um das Fett zu zerlegen. Waren die Filter zusätzlich mit einem Lipase-Hemmstoff getränkt, verlief der Abbau deutlich langsamer. Weitere Untersuchungen zeigten, dass die Enzyme in direkter Nähe zu den Geschmacksknospen gebildet werden.

Lipasen sorgen für Geschmack

Eine Fettverkostung ergab, dass die Lipasen tatsächlich für das Geschmackserlebnis «fettig» erforderlich sind: Probierten die Versuchsteilnehmer Triolein zusammen mit dem Lipase-Hemmer, so nahmen sie den Geschmack schwächer wahr. Ausserdem gab es Personen, die für den Fettgeschmack empfindlicher waren als andere. Bei ihnen waren die fettspaltenden Enzyme besonders aktiv.

Ob manche Menschen deswegen besonders viel Fett essen, weil sie den Geschmack erst bei höheren Konzentrationen registrieren, ist derzeit noch offen. «Denkbar wäre auch der umgekehrte Fall, nämlich dass der Geschmackssinn durch hohe Fettzufuhr mit der Zeit nachlässt», sagt Hofmann.

Der endgültige Beweis für den sechsten Sinn steht ebenfalls noch aus. Um diesen zu erbringen, müssen die Forscher die Sinneszellen mit den Fettrezeptoren nachweisen und zeigen, dass deren Signale ans Gehirn weitergeleitet werden, wo sie das Geschmackserlebnis «fettig» hervorrufen. Diesen Nachweis hat man für die fünf anderen Geschmacksqualitäten bereits erbracht. Als Letztes im Jahr 2002 für Umami.

Das Gedächtnis ist wandlungsfähig.

aus nzz.ch, 30. Juli 2014, 05:30


Wie das Gehirn aktualisiert
Die Unschärfe unseres Gedächtnisses
Eine Erinnerung wird bei jedem Abrufen für kurze Zeit instabil. Dadurch kann das Gedächtnis aktualisiert werden, ist gleichzeitig aber auch manipulierbar. Dies hat für Gerichtsverfahren und die Psychotherapie Konsequenzen.

von Johannes Gräff

Ein Kind, das sich die Finger an einer heissen Herdplatte verbrennt, wird sich zeit seines Lebens an dieses Ereignis erinnern, so hoffen die Eltern. Aber was geschieht mit der Erinnerung, wenn das Kind beim nächsten Küchenbesuch beobachtet, dass seine Eltern die Herdplatte zwar berühren, sich aber nicht daran verbrennen, da diese nicht eingeschaltet ist?

Eine bis zur Jahrtausendwende vorherrschende Theorie auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung besagte, dass sich ein einmal geformtes Gedächtnis über die Zeit nicht mehr verändert, vorausgesetzt, seine Wichtigkeit ist gross. Weil es für das Kind existenziell wichtig ist zu lernen, sich nicht zu verbrennen, würde es sich gemäss dieser Theorie also immer daran erinnern, dass Herdplatten heiss sind.

Im Jahr 2000 jedoch publizierte eine Forschergruppe um den Neurobiologen Joseph LeDoux von der New York University eine seither vielzitierte Studie, die diese Theorie infrage stellt. Dafür benutzten die Forscher Ratten und eine Substanz, welche die für die Gedächtnisbildung wichtige Proteinsynthese blockiert. Erhielten die Ratten diese Substanz, unmittelbar nachdem sie sich an ein schmerzhaftes Erlebnis erinnert hatten – man setzte die Tiere in eine Kiste, in der sie einige Tage zuvor einen Stromschlag erfahren hatten –, verschwand die Angst vor der Kiste. Die Tiere entwickelten also kein nachhaltiges Angstgedächtnis bezüglich der Kiste. Wurde die gleiche Substanz jedoch ohne Wiedersehen der Kiste verabreicht, reagierten die Tiere weiterhin äusserst ängstlich auf diese.

Aus diesen Beobachtungen schlossen die Forscher, dass sich ein einmal geformtes Gedächtnis durch dessen Hervorrufen, also durch den Vorgang des Sicherinnerns, verändern lässt. Da dieser Prozess auf ähnlichen neuronalen Vorgängen beruht wie die ursprüngliche Gedächtnisbildung, die in der Fachsprache Konsolidierung genannt wird, wurde er als Rekonsolidierung bezeichnet. Demnach erlaubt es die Rekonsolidierung, das ursprüngliche Gedächtnis mit aktuellen Informationen auf den neuesten Stand zu setzen. So lernt das Kind etwa, dass eine Platte nur heiss ist, wenn sie angeschaltet ist.

In den Jahren nach dem Erscheinen dieser Studie entbrannte auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung ein intensiv geführter Streit zwischen Rekonsolidierungsbefürwortern und -gegnern. Denn einerseits war es mit LeDoux' Versuchsanordnung nicht möglich, ausschliesslich diejenigen Nervenzellen zu manipulieren, die für die Gedächtnisbildung verantwortlich waren – es könnte sich bei dieser Beobachtung also um einen unspezifischen Effekt handeln. Andererseits könnte eine Aktualisierung des Gedächtnisses auch mit einer zweiten, neuen Gedächtnisspur erklärt werden: Diese würde durch die neuen Gegebenheiten hervorgerufen und existierte parallel zur ursprünglichen Gedächtnisspur.

Erinnerung künstlich abrufen

Einen ersten stichhaltigen Beweis für die Rekonsolidierungstheorie lieferte 2012 eine Arbeit des Hirnforschers Mark Mayford vom Scripps Institute in Kalifornien. Dazu entwickelten die Forscher genetisch modifizierte Mäuse, in denen bestimmte Nervenzellen, die bei der Bildung einer Erinnerung involviert sind, mit einer passenden Substanz zu einem beliebigen Zeitpunkt aktiviert werden können. Auf diese Weise konnten die Forscher eine bestimmte Gedächtnisspur künstlich reaktivieren.

Die Forscher trainierten die Mäuse dahingehend, eine Angsterinnerung an eine Kiste A zu entwickeln. Dabei wurde eine bestimmte Gruppe von Neuronen aktiviert und mit einem Rezeptor markiert. Wurden die «A-Neuronen» danach künstlich reaktiviert, zeigten die Tiere tatsächlich eine typische Angstreaktion, selbst wenn die Kiste A nicht gegenwärtig war. Das System erlaubte es also, künstlich eine Erinnerung hervorzurufen.

In einem weiteren Experiment zeigte man den Tieren dann eine ihnen unbekannte Kiste B, vor welcher sie keine Angst hatten. Aktivierte man nun aber gleichzeitig die «A-Neuronen» in der B-Kiste und testete danach die Angstreaktion der Tiere auf die ursprünglich angsteinflössende A-Kiste, reagierten sie weniger ängstlich als zuvor. Wurden die «A-Neuronen» in der B-Kiste hingegen nicht reaktiviert, veränderte sich die Angstreaktion der Tiere nicht. Die Reaktivierung der ursprünglichen Gedächtnisspur in der als sicher eingestuften B-Kiste ermöglichte es demnach, die ängstliche Erinnerung abzuwandeln. Diese Experimente demonstrieren, dass eine abgerufene Erinnerung von aussen manipuliert werden kann.

Die gewonnene Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen: Wenn sich eine Erinnerung bei jedem Hervorrufen verändern lassen kann, wie zuverlässig sind dann noch Zeugenaussagen vor Gericht? Metaanalysen haben ergeben, dass falsche Zeugenaussagen mehr als 75 Prozent aller anhand von später erfolgten DNA Tests revidierten Verurteilungen zugrunde liegen. Könnte es also sein, dass sich die Erinnerungen von Zeugen durch das wiederholte Abrufen bei der Befragung beeinflussen lassen? In Anbetracht der Labilität der Erinnerung scheint ein gewisses Risiko zu bestehen.

Therapeutischer Nutzen

Bei der Behandlung von traumatischen Erinnerungen ist die Labilität dagegen ein Vorteil. Die erfolgreichste Behandlungsmethode ist die verhaltenstherapeutische Konfrontationstherapie. Dabei werden Patienten in einer sicheren Umgebung wiederholt mit dem Angst-Auslöser konfrontiert. Seit langem war bekannt, dass ein erfolgreiches Sich-in-Erinnerung-Rufen dieses Auslösers ausschlaggebend für den Erfolg oder Nichterfolg einer Konfrontationstherapie ist – eine empirische Erkenntnis, die durch die neuesten Resultate der Gedächtnisforschung unterstützt wird.

Der Grundsatz der Veränderlichkeit einer Erinnerung bedeutet letztlich aber auch, dass sich eine Erinnerung nie ganz in ihrer ursprünglichen Form fassen lässt, weil sie beim Versuch dabei zwangsweise durch die jeweiligen Umstände zum Zeitpunkt des Sicherinnerns beeinflusst wird. Somit könnte es sein, dass die grösste Errungenschaft unseres Gedächtnisses, nämlich die Fähigkeit zur sukzessiven Integration neuer Informationen, gleichsam auf seiner grössten Schwäche fusst: einer dem Gedächtnis inhärenten Unschärfe.


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE     

Mittwoch, 30. Juli 2014

"Religion ohne Gott"?

Ist religiös, wer den Carina-Nebel schön findet? Ronald Dworkin glaubte es.
aus nzz.ch, 30. Juli 2014, 05:30                                                                                                    Carina-Nebel


Ronald Dworkins «Religion ohne Gott»
Die leuchtende Schönheit des Universums



Nicht wenige Philosophen wenden sich, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, den «letzten Dingen» zu. Ist das verwunderlich? Nein, denn erstens sind Philosophen auch nur Menschen, und zweitens entzündet sich philosophisches Denken ohnehin an der staunenswerten Tatsache, dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts – ebenso wie an der herausfordernden Erfahrung, dass das, was entsteht, auch wieder vergeht. Auch der eminente amerikanische Moral- und Rechtsphilosoph Ronald Dworkin, den niemand mit dem Evolutionsbiologen und fundamentalistischen Atheisten Richard Dawkins verwechseln wird, hat sich in den letzten Jahren seines Lebens verstärkt mit Fragen der Religion und der Theologie befasst. Davon zeugt sein letztes Buch: «Religion without God», das vergangenes Jahr, wenige Monate nach seinem Tod, erschienen und seit kurzem auch in deutscher Übersetzung zu haben ist. Es gibt den – vom Autor noch selbst überarbeiteten – Text wieder, der die Grundlage für die «Einstein Lectures» bildete, die Dworkin im Dezember 2011 an der Universität Bern hielt.

Eine «Macht»

Der Titel nimmt die Pointe vorweg: Religion ist für Dworkin etwas, das keines Gottes – keiner Gottesvorstellung und keines Gottesglaubens – bedarf. Auch Atheisten können mithin religiös sein, und nach des Autors Auffassung sind es viele auch – diejenigen nämlich, die, obgleich sie an keinen Gott glaubten, dennoch überzeugt seien, es gebe im Universum so etwas wie eine «Macht», die «grösser als wir» sei. Religion, so definiert Dworkin eingangs und vorläufig, sei eine umfassende Weltsicht, getragen von der Überzeugung, dass allem ein «objektiver Wert» innewohne, dass «das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat». Später kommen noch die empfundene Schönheit dieser Ordnung und eine angesichts all dessen verspürte «unausweichliche Verantwortung» hinzu, das eigene Leben «auf gute Weise zu führen» und dasjenige anderer «entsprechend zu achten».

Dworkin nennt, was er vor Augen hat, «religiösen Atheismus» oder «gottlose Religiosität» – und ebendas verleiht seiner These, der Glaube an einen Gott sei nur eine der «möglichen Manifestationen oder Konsequenzen» dieser Weltauffassung, einen reizvollen Schwung: Gottesglaube als variierende Fortsetzung oder Ausschmückung einer an sich «gottlosen» Bewunderung des Alls und einer ebenso «atheistischen» Ehrfurcht vor dem Leben.

Von Albert Einstein, in dessen Zeichen die Berner «Lectures» stehen, hat Dworkin sich offenkundig auch zu seinem Thema inspirieren lassen. Das einschlägige Einstein-Zitat lautet: «Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.» Der erwähnte Evolutionsbiologe Dawkins versucht in seinem Buch «Der Gotteswahn», Einsteins Überschwang zu bremsen und die Formulierungen des Physikers darauf festzulegen, dass sie auf nichts «Übernatürliches» zielten, sondern allein auf die Naturgesetze. Dieser Deutung widerspricht Dworkin – zu Recht.

Auch wenn die Suche nach einem von dogmatischen Glaubenssätzen und theologischen Ansprüchen entlasteten Religionsbegriff nicht untypisch für unsere Zeit und ihren Trend sein mag, die Wellness-Zone «spirituell» zu erweitern – das Motiv, das sich in Ronald Dworkins Gedankenskizze abzeichnet, ist ein anderes. Der Philosoph möchte etwas zur Eindämmung der neuen Religionskriege beitragen, die er als «Kulturkriege» einschätzt und deren gefährlichste Frontlinie er (zumindest wohl in den Vereinigten Staaten) zwischen «Strenggläubigen» und jenen Atheisten à la Dawkins verlaufen sieht, die in der Religion den Grund aller erdenklichen Übel ausgemacht zu haben wähnen. Um Befriedung ging es Dworkin, der leider nie Richter am Supreme Court der USA geworden ist, stets, wenn er in gesellschafts- und rechtspolitischen Kontroversen das Wort ergriff. In der Auseinandersetzung um die Frage der Abtreibung versuchte er etwa, zwischen Gegnern und Befürwortern einer Freigabe zu vermitteln, indem er – verknappt gesagt – beiden Seiten bescheinigte, je auf ihre Weise dem Leben mit Ehrfurcht zu begegnen.

Den Weg zu der Brücke, auf der «religiös» gestimmte Atheisten und Gottgläubige einander friedvoll begegnen können sollten, versucht Dworkin (im ersten Teil des Buches) ganz ähnlich zu ebnen. Sein erklärtermassen «ökumenischer Vorschlag» umfasst neben der angedeuteten Erweiterung des Religionsbegriffs eine Unterscheidung, die er mit Blick auf die «herkömmlichen, theistischen Religionen» trifft: Deren Weltbild setze sich aus zwei Komponenten zusammen; die eine sage, was der Fall sei, beispielsweise, dass ein allmächtiger Gott die Welt erschaffen habe (Dworkin nennt sie verwirrenderweise die «wissenschaftliche» Komponente); die andere bestimme, was sein solle – sie lege die Werte und Normen fest, nach denen Anhänger dieser Religionen zu leben hätten. Unter diesen Wertvorstellungen und Verhaltensregeln gebe es auch solche, die nicht von dem Glauben an einen Gott abhingen.

Argumentationstechnisch entfaltet würde das alles noch diffiziler, zumal dann, wenn der moralphilosophische Unterbau in den Blick rückte, den Dworkin in seinem Opus magnum «Gerechtigkeit für Igel» (2012) errichtet hat. Aber man sieht auch so, worauf er mit der Operation hinauswill: Er sortiert Aspekte, die «gottesfürchtige» und «gottlose» Religiosität trennen, und solche, die sie verbinden. Sodann behauptet er, dasjenige, was die beiden Parteien trenne, sei «weit weniger wichtig» als das, was sie verbinde, und Letzteres sei «der Glaube an Werte» und deren «objektive» Realität – ein Glaube, der sich für ihn in allen religiös nicht unmusikalischen Gemütern regt, die die Schönheit des Alls bewundern und dem Leben mit Ehrfurcht begegnen. – Dass die bewunderungswürdige Schönheit des Universums nicht allein im Auge des Betrachters liege, ist Thema insbesondere des zweiten, gedanklich eher tastenden denn zugreifenden Teils. Dworkin spürt darin der Empfänglichkeit der Astrophysiker für die Eleganz des Unvermeidlichen nach, die sich in mathematischen Beweisen oder in der Hoffnung auf eine alles erklärende «Grand Unified Theory» bekunden könne. Am Ende glaubt er sagen zu können, die wissenschaftliche Hypothese, dass das Universum letzten Endes vollständig verstehbar sei, gehe mit der religiösen Überzeugung einher, «dass es vor wirklicher Schönheit erstrahlt» – zumindest für die, die Schönheit für etwas Reales hielten.

Religionsfreiheit, Lebenskunstwerk

Auf vertrauterem Terrain bewegt Dworkin sich im dritten Kapitel des Buches, in dem er das verfassungsrechtliche Problem der Religionsfreiheit und ihres Schutzes traktiert. Dies Problem wird nicht kleiner, sondern grösser, wenn unter «Religion» nicht nur Gottesglaube verstanden wird: Zwar sei es falsch, unvernünftig und schwer zu rechtfertigen, ausschliesslich theistische Religionen jenes Schutzes teilhaftig werden zu lassen. Ebenso abwegig aber erscheint es Dworkin jedoch, alle Weltanschauungen, die unter einen erweiterten Religionsbegriff fallen könnten – es wären naturgemäss auch «wilde und überspannte» dabei –, gleichermassen rechtlich zu schützen. Sein «radikaler» Vorschlag – Dworkin formuliert ihn hier nicht zum ersten Mal – ist nun, die Religionsfreiheit nicht mehr als «spezielles» Recht zu begreifen, das mit einem starken Schutzschirm gegen staatliche Eingriffe ausgestattet ist, sondern als ein «allgemeines» Recht, als eines, das so etwas wie «ethische Unabhängigkeit» garantiert, es aber erlaubt, die vom ihm verbriefte Freiheit in bestimmten Fällen einzuschränken, etwa wenn andere Rechtsgüter schwerer wiegen.

Auch in dieser Sache mögen die technischen – rechtstechnischen – Details auf sich beruhen. Im Ergebnis führt der Vorschlag, die Religionsfreiheit mit einem etwas kleineren Schutzschirm zu versehen, indes nicht dazu, dass Dworkin das schweizerische Minarettverbot akzeptieren müsste. Er erkennt darin vielmehr eine – ungerechtfertigte – «pauschale Ablehnung der Kultur und der Religion des Islams» und eine «Kriegserklärung an das egalitäre Ideal ethischer Unabhängigkeit».

Das religionsphilosophische Vermächtnis Dworkins lässt viele Fragen offen – und manche Behauptung bleibt Behauptung; so insbesondere die des Eröffnungssatzes: «Religion ist etwas Tieferes als Gott.» Auch ist nicht deutlich, was in dem friedenspolitischen Szenario einer Verständigung zwischen «gottesfürchtigen» und «gottlosen» Religiösen mit den Irreligiösen (den harten Naturalisten etwa) geschehen soll, denen auch das Universum und die Natur nichts sagen. Was sie Ronald Dworkin sagen, wird in einem kurzen vierten, dem letzten Kapitel des Buches noch um eine Facette bereichert. Tod und Unsterblichkeit sind das Thema, und der Autor lässt durchblicken, dass er geneigt ist, der romantischen Vorstellung Kredit einzuräumen, wonach die Sterblichkeit die Menschen herausfordere, aus ihrem Leben ein Kunstwerk zu machen und «etwas Gutes zustande zu bringen». In Dworkins Augen muss es nicht unbedingt ein grosses Lebenskunstwerk sein, das es uns ermöglichen könnte, dem Tod mit einer gewissen Gelassenheit entgegenzublicken.

Ronald Dworkin: Religion ohne Gott. Aus dem Amerikanischen von Eva Engels. Suhrkamp, Berlin 2014. 146 S., Fr. 33.90.


Nota.

Religio heißt die Verbindung zweier zunächst Getrennter. Erstens nämlich die Verbindung des endlichen, sinnlichen Menschen mit seiner unendlichen und übersinnlichen Übermacht. Dadurch zugleich aber zweitens der endlichen Menschen untereinander. Die Verbindung setzt Verbindlichkeit des einen gegen alle andern. Die gemeinsame Unterwerfung vereint die Gläubigen zum auserwählten Volk, zur Kirche, zur umma, zur Gemeinde. Der Akt der Unterwerfung (islam] und Verbindung heißt Bekehrung. Sie ist die ständige Herausforderung des Gläubigen an die Heiden: Folge mir! Es ist ein Gebot ihrer gemeinsamen Moral, dass sie sie immer wieder stellen.

Ohne diese an die Wurzel der Existenz reichende Spitze ist Religion nichts wert. Ein Wellnisprodukt wie ein Badezusatz oder Popmusik. Man merkt es Uwe Justus Wenzel an, dass er des Buchs, das er rezensiert, nicht froh geworden ist.

"Der Autor lässt durchblicken, dass er geneigt ist, der romantischen Vorstellung Kredit einzuräumen, wonach die Sterblichkeit die Menschen herausfordere, aus ihrem Leben ein Kunstwerk zu machen und «etwas Gutes zustande zu bringen»." Nicht die Sterblichkeit, sondern die Achtung vor sich selbst: Ein Leben, das sein Maß nicht außer sich sucht, ist ohne Würde. Man kann sein Leben natürlich ohne Würde zubringen. Es ist eine reine Geschmackssache. Geschmack hat man oder hat man nicht, darüber lässt sich nicht streiten. Bekehren muss man keinen, weil es gar nicht geht. Man kann ihn hier locken, da beschämen. Was er daraus macht, steht ganz in seinem freien Ermessen. Verbindlich ist da gar nichts. Ich unterstehe keinem Gebot und kann mich auf nichts herausreden. Mit andern Worten, ohne höhere Macht gibt es keine Religion und braucht man keine Religion.
JE



Dienstag, 29. Juli 2014

Schwarmeinfalt.

Wie von Geisterhand dirigiert.
aus nzz.ch, 29. Juli 2014, 14:00

Der kollektive Tanz der Stare
Ordnung begünstigt schnelle Entscheidungen



Einem Schwarm von Staren zuzuschauen, ist ein unvergessliches Erlebnis. Wie aus dem Nichts ändern die Vögel jäh ihre Flugrichtung, ohne dass der Zusammenhalt der Gruppe dabei verloren geht. Seit Jahren schon fragen sich Wissenschafter, welche Mechanismen dem kollektiven Verhalten der Stare zugrunde liegen und warum dieses so robust ist. Forscher aus Italien, den USA und Argentinien haben nun eine Antwort parat. Mit einem System von drei Kameras konnten sie die räumliche Bewegung von jedem einzelnen Vogel in einem Schwarm aufzeichnen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse stehen im Einklang mit einer von den Forschern formulierten Theorie der kollektiven Bewegung.¹

Anhand der rekonstruierten Flugbahnen der einzelnen Vögel konnte die Gruppe um Andrea Cavagna von der Sapienza-Universität in Rom ein Ranking erstellen, welcher Vogel zu welchem Zeitpunkt seine Richtung geändert hatte. Wie die Forscher feststellten, hat die Entscheidung zum Richtungswechsel einen lokalen Ursprung und breitet sich dann rasch über den gesamten Schwarm aus. Damit ist klar, dass die Vögel nicht auf einen äusseren Stimulus reagieren.

Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Information kann zwar von Schwarm zu Schwarm variieren. In allen Fällen wächst die zurückgelegte Distanz der Information jedoch linear mit der Zeit. Ebenso wichtig für den Zusammenhalt des Schwarms ist eine zweite Beobachtung. Obwohl die Information zur Richtungsänderung über viele Zwischenstationen wandert, scheint sie sich kaum abzuschwächen. Im Schwarm herrschen also ganz andere Verhältnisse als beim Spiel «stille Post».

Zur Erklärung dieser Merkmale griffen die Forscher auf ein häufig verwendetes Modell der kollektiven Bewegung zurück: Demnach versucht jeder Vogel, seine Geschwindigkeit in Betrag und Richtung an die seiner nächsten Nachbarn anzupassen. Er bewegt sich also unter dem Einfluss einer Kraft, die von seinem sozialen Umfeld produziert wird. Mit diesem Ansatz erlitten die Forscher allerdings Schiffbruch. Es liess sich weder die lineare Ausbreitung der Information reproduzieren noch die geringe Dämpfung.

Das bewog die Forscher, nach einem besseren Ansatz zu suchen. Geleitet von Symmetrieüberlegungen erweiterten sie ihre Theorie um einen Trägheitsterm, der den Widerstand der Vögel gegen Änderungen ihrer Winkelgeschwindigkeit berücksichtigt. Im Unterschied zur alten Theorie kopieren die Vögel nun nicht mehr die Richtungen, in die ihre unmittelbaren Nachbarn fliegen; sie kopieren vielmehr, wie abrupt die Nachbarn ihre Flugrichtung ändern. Mit dieser erweiterten Theorie liessen sich die wesentlichen Merkmale der Informationsausbreitung reproduzieren.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, der für die Theorie spricht. Aus ihr lasse sich ableiten, dass sich die Information über Richtungswechsel umso schneller in einem Schwarm ausbreiten könne, je geordneter dieser sei, sagt Asja Jelić, eine der Hauptautorinnen der Veröffentlichung. Diese Vorhersage werde durch die Daten bestätigt.

Für die Autoren hat dieser Zusammenhang zwischen Ordnung und Ausbreitungsgeschwindigkeit der Information eine tiefere Bedeutung. Sie glauben, dass Schwärme einen Zustand hoher Ordnung annehmen, weil dadurch die kollektive Entscheidungsfindung beschleunigt und der Zusammenhalt des Schwarms gestärkt wird.

¹ Nature Physics, Online-Publikation vom 27. Juli 2014.



Nota.

Haben Sie mal was von der Piratenpartei gehört? Ach, schon wieder vergessen! Na, diesen einen kleinen Verdienst hat deren Untergang doch gehabt: Der Blödsinn von der Schwarmintelligenz, durch die aus einem Sauhaufen ganz von allein ein kluger Mann werden kann, ist (Er zu Recht!) ein für alle Mal diskreditiert. Die Ordnung muss vorher dagewesen sein, damit sie sich "von allein" immer wieder einstellen kann. Na, vielen Dank auch! haben sie sich gesagt, und sind der Sauhaufen geworden, der sie anfangs gar nicht gewesen sind.
JE

Montag, 28. Juli 2014

Oder doch kein Müll.

aus scinexx

Müll-DNA: Kopien sind kein Zufall
Zell-Signalwege regulieren auch scheinbar funktionslose Abschnitte des Erbgutes

Genetischer Datenmüll oder Langzeit-Speicher? Von etwa drei Vierteln der vermeintlich funktionslosen DNA des menschlichen Erbguts werden dennoch RNA-Kopien erstellt – mit bislang unbekannter Funktion. Aber auch diese Kopien werden durch Signalwege in der Zelle reguliert und sind alles andere als Nebenprodukte, wie deutsche Forscher herausgefunden haben. Sie vermuten, dass diese nichtkodierende RNA entscheidend an der Regulation zellulärer Prozesse bis hin zur Entstehung von Krebs beteiligt ist.

Nur rund zwei Prozent unseres Erbgutes dienen als Bauplan für Proteine, die als molekulare Maschinen und Baustoffe den Großteil der wichtigen Funktionen im Körper übernehmen. Dazu entsteht zunächst eine RNA-Kopie des entsprechenden DNA-Abschnitts, die dann in die entsprechende Proteinstruktur übersetzt wird. Die restlichen 98 Prozent sind in vieler Hinsicht rätselhaft: Während manche Abschnitte bei der Regulation der Kopien anderer Gene beteiligt sind, ist vom größten Teil dieser nicht-kodierenden DNA nicht einmal bekannt, ob er überhaupt eine Funktion hat – verbreitet ist daher auch der Ausdruck "Müll-DNA".

Weiße Flecken auf der Genom-Landkarte

Aber ist diese vermeintlich nutzlose DNA tatsächlich unnötiger Ballast? "Das ist eine der zentralen Fragen, die die Genomforschung derzeit umtreibt", sagt Jörg Hackermüller vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). "Auf der Genom-Landkarte sind noch große weiße Flecken – hier gibt es noch viel zu entdecken." Überraschend war bereits die frühere Erkenntnis, dass auch von einem beachtlichen Teil der Müll-DNA RNA-Kopien erstellt werden – sogar mehr als von den kodierenden Bereichen des Erbguts.



Daraus entwickelte sich eine lebhafte Diskussion, ob diese Kopien lediglich durch Zufall oder Fehler bei der Regulation entstehen, beschreibt Hackermüller. Er selbst hält das für unwahrscheinlich: "Ich zweifle daran, dass die Natur so verschwenderisch mit Ressourcen umgeht und so große Mengen an RNA sinnlos herstellt."

Unerwartetes Ausmaß nichtkodierender RNA

Diese Ansicht untermauern die neuen Ergebnisse von Hackermüller und seinen Kollegen: Für ihre Studie untersuchten sie systematisch, ob die nicht-kodierenden RNA-Kopien auch durch übliche Signalwege in der Zelle beeinflusst werden. Dazu analysierten sie die Reaktionen von Zellen auf zwei Signalwegen, die auch bei Wachstum und Unterdrückung von Tumoren entscheidend sind.


Das Ergebnis überraschte die Forscher: Bis zu 80 Prozent der durch die gezielten Signalwege erzeugten RNA-Kopien waren nichtkodierend. "Ein solches Ausmaß hatten wir nicht erwartet", sagt Hackermüller. "Das spricht nicht für ein Zufallsprodukt – höchstwahrscheinlich kommt der nichtkodierenden RNA eine ähnlich wichtige Funktion zu wie der proteinkodierenden RNA."

Neu entdeckte Riesen-RNA

Weiterhin haben die Forscher eine neue Art von nichtkodierender RNA entdeckt, die sogenannte Makro-RNA. Sie ist um das 50- bis 200-Fache größer als übliche proteinkodierende RNA. "Bemerkenswert ist, dass Teile dieser Makro-RNA von den Säugetieren bis hin zu den Vögeln und Reptilien konserviert sind", sagt Horn. "In aggressiven Formen eines Gehirntumors werden mehrere Makro-RNAs zudem deutlich aktiver produziert als in Tumoren mit guter Prognose."


Dies seien Hinweise auf die wichtige Rolle der Makro-RNAs in zellulären Abläufen, so die Forscher: Sie sind so wichtig, dass sie in großen Teilen des Tierreichs nahezu unverändert vorkommen, und eine Fehlregulation hat fatale Folgen bis hin zu Krebs.

Ein zelluläres Gedächtnis?

Hackermüller vermutet, dass sich nichtkodierende RNAs in der Zelle ansammeln und so als eine Art zelluläres Langzeitgedächtnis funktionieren könnten: "Dies könnte auch erklären, warum die körperlichen Auswirkungen durch Belastung mit schädlichen Umweltsubstanzen häufig erst Jahre später auftreten." Damit könnte beispielsweise die Immunantwort der Zellen unterschiedlich ausfallen.

In zukünftigen Untersuchungen wollen Hackermüller und sein Team daher prüfen, welchen Einfluss Umweltschadstoffe auf das Vorkommen nichtkodierender RNAs in Immunzellen haben.
(Genome Biology, 2014; doi: 10.1186/gb-2014-15-3-r48)

(Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), 24.07.2014 - AKR)


Nota.

Vielleicht ist die Natur ja keine Haushälterin, sondern eher eine Schlampe, und denkt: Nur nichts wegwerfen, man weiß nie, wozu sich das nochmal brauchen lässt. Das könnte mir gefallen: Der Alte würfelt und die Natur zockt.
JE 

Sonntag, 27. Juli 2014

Zu neunzig Prozent genetischer Müll?


Nur 8,2 Prozent unserer DNA ist funktional
Genetiker in Oxford behaupten, dass über 90 Prozent unserer Erbsubstanz "wertloses Gerümpel" ist, das sich im Laufe der Evolution angesammelt hat

Oxford – Auch mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende des Human Genom Projekts gibt es auf der Landkarte unserer Erbsubstanz immer noch große weiße Flecken. Eine der wichtigsten Fragen ist dabei die, wie groß der Anteil der DNA ist, die vermeintlich nutzlos ist – oder vielleicht doch eine noch unbekannte Funktion hat.

Als "funktional" bezeichnen Genetiker jene Teile unserer DNA, welche direkt für die Bildung von Proteinen zuständig sind, die letztlich Form und Funktion eines lebenden Organismus bestimmen. Dafür sind in erster Linie die rund 23.000 Gene zuständig, aber nur einen kleinen Teil des Genoms ausmachen, nach bisherigen Schätzungen rund 5 Prozent. Doch was ist mit dem Rest, der sogenannten "Junk-DNA“?

80 Prozent funktionaler DNA...

Dieser Frage ging das Projekt ENCODE nach, das 2012 im Fachblatt "Nature“ zu Schluss kam, dass über 80 Prozent des menschlichen Genoms irgendeine andere biochemische Funktion haben müssen. Doch diese Studie wurde bald heftig kritisiert, da konkrete Hinweise auf diese Funktionen fehlten.

Nun gingen Forscher um Chris Pointing und Gerton Lunter (Oxford University) mit einer etwas anderen Methode dem Problem der "dunklen Materie“ unserer Erbsubstanz nach. Die Genetiker schauten sich konkret an, wie groß der Anteil der menschlichen DNA ist, der in den vergangenen 100 Millionen Jahren der Säugetier-Evolution kaum Veränderungen akkumulierte. Ihre Annahme: Nur jene Teile der DNA, die für wichtige Funktionen zuständig sind, würden im Laufe der Entwicklungsgeschichte gleich bleiben. 

...oder doch nur 8,2 Prozent?

Auf Basis des Genomvergleichs diverser Säugetiere – von Maus, Meerschweinchen, Pferd bis zum Menschen – kamen die Forscher im Fachblatt "PLoS Genetics“ zum Schluss, dass nur 8,2 des Genoms funktional sind. Der Rest hat sich im Laufe der Evolution angesammelt, sagt Gerton Lunter, "ganz ähnlich wie all das Gerümpel, das sich im Dachboden eines Hauses ansammelt, das aber niemand mehr braucht.“

Doch auch von diesen 8,2 Prozent der DNA sei nicht alles gleich wichtig, behaupten die Genetiker: Nur etwas mehr als ein Prozent der gesamten Erbsubstanz codiert für Proteine und ist damit für die Durchführung der entscheidenden biologischen Prozesse im Körper zuständig. Die übrigen rund sieben Prozent der Erbsubstanz dürften vor allem für das richtige Ein- und Ausschalten der Gene zuständig sein.

Medizinische Bedeutung

Das hat auch eine nicht zu unterschätzende medizinische Bedeutung: "Wenn ein Gutteil unserer DNA funktional wäre, dann müssten wir bei Genomanalysen unserer Patienten jeder Mutation Beachtung schenken“, sagt Chris Pointing. Das sei aber eben nicht der Fall. Wichtig seien eben nur DNA-Veränderungen auf diesen 8 Prozent. (tasch)



Abstract
PLoS Genetics: 8.2% of the Human Genome Is Constrained - Variation in Rates of Turnover across Functional Element Classes in the Human Lineage



Nota.

Solche Nachrichten muss man gaaanz vorsichtig weitergeben. Mein Lieblingsspruch 'Wissenschaft ist öffentliches Wissen' hat einen pikanten Nebensinn: Zu den Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs gehört heute, dass Forschungsergebnisse publiziert werden, bevor sie richtig - nämlich von konkurrierenden Wissenschaftlern - überprüft werden konnten. Man darf sicher sein: Wenn die vorgelegten Daten nicht völlig erschwindelt sind, werden sie zu einer laaangen wissenschaftlichen Kontroverse Anlass geben.

Und das ganz zu Recht. Denn das stockbürgerliche Dogma von der Natur als Haushälterin ist nur die Kehrseite des Kausalitätsdogmas. Keine Ursache ohne Folge, keine Folge ohne Ursache, zu jedem Topf ein Deckel, zu jedem Deckel ein Topf, keine Vergeudung, alles passt - das ist die bürgerliche Gesellschaft, wie sie die Nationalökonomie seit dem 18. Jahrhundert erträumt hat: ein Abbild von Gottes Plan! 

Und nun entpuppt sich die Natur selbst als eine einzige schamlose Verschwendung...
JE

Donnerstag, 24. Juli 2014

Können Menschenaffen symbolisieren?

 
aus derStandard.at,

Bei Bonobos wird zum Sex gewunken
Biologen beobachten bei Zwergschimpansen symbolische Handzeichen, die man bisher nur dem Menschen zugetraut hat

Neuenburg - Bonobos, die kleineren Verwandten der Schimpansen, sind bekannt dafür, dass sie soziale Spannungen am liebsten mit Sex lösen, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht oder Rangstufe. Etwa drei Viertel der Sexualkontakte zwischen den Individuen dienen nicht der Fortpflanzung. Eingeleitet wird Sex offenbar mit Handsignalen, berichten Forscher in "Current Biology".

Die Gesten zeugen nach Ansicht der Wissenschafter davon, dass die Primaten Zeigegesten vorsätzlich und in einem bestimmten Kontext einsetzen - eine Eigenschaft, die bis anhin nur dem Menschen zugetraut wurde.

Gesten mit semantischem Inhalt

Menschenaffen benützten häufig und zielgerichtet Gesten bei ihren sozialen Interaktionen, schreiben Emilie Genty und Klaus Zuberbühler von der Universität Neuenburg und britische Kollegen. Doch bisher habe der Beweis für einen semantischen Inhalt - also eine Bedeutung - der Gesten gefehlt.

Die Beobachtungen zeigten, dass Bonobos Artgenossen mit menschenähnlichen Gesten dazu auffordern, woanders zusammen Sex zu haben, schreiben die Forschenden. Das Verhalten ist ihrer Ansicht nach "intentional, ikonisch und deiktisch" - was in der Sprachwissenschaft bedeutet, dass die Gesten sowohl absichtlich, symbolisch (mit einer bestimmten Bedeutung) und auf einen Ort respektive einen Partner bezogen eingesetzt werden.

Die Geste weist in die Richtung, in die sich die - oder der - Gestikulierende gerne zurückziehen würde. Die Reaktion des Aufgeforderten zeuge davon, dass er (oder sie) die Bedeutung verstanden hat, schreiben die Forschenden. Sie konnten dieses Verhalten insgesamt 40-mal bei zehn Männchen und vier Weibchen mit Videos dokumentieren.

Fähigkeit mit uralten Wurzeln

Die Resultate sind mit der Hypothese vereinbar, dass sich die Fähigkeit, auf räumliche Dinge hinzuweisen, noch vor der Trennung der Abstammungslinien des Menschen und der anderen Primaten entwickelt hat. Sie war vermutlich bereits beim gemeinsamen Vorfahr präsent, schließen die Forschenden.

Menschliche Babys machen ihre ersten auf Personen oder Gegenstände gerichteten Gesten mit etwa zehn Monaten und die ersten symbolischen Signale mit zwölf Monaten. Die Fähigkeit, die Bedeutung von Symbolen zu erkennen, entwickelt sich jedoch nicht vor 26 Monaten, wenn das Kind die entsprechenden Wörter lernt. Symbole sind demnach kognitiv schwieriger zu erfassen. (APA/red)


Abstract
Current Biology: Spatial Reference in a Bonobo Gesture




Dienstag, 22. Juli 2014

Pi zu Tau?

aus Die Presse, Wien, 22. 7. 2014                  Archimedes.

Näher, mein Pi, zu dir! Was soll uns das Tau?!
Die Mathematik hat heute etwas zu feiern, was sie nie vollenden kann, die Annäherung an die Kreiskonstante.

"Hierauf legte er ein Meer an, zehn Ellen von einem Rand zum anderen. Eine Schnur von 30 Ellen umspannte es ringsum.“ Es war natürlich kein Meer, was Salomo da in seinen Palast bauen ließ (1.Könige 7, 23), es war ein Wasserbecken, und es hatte entweder keine zehn Ellen Durchmesser oder keine 30 Ellen Umfang. Das lag nicht an mangelnder Weisheit, sondern daran, dass das „Meer“ ein Kreis war, und so einer umschließt auch eines der größten Mysterien der Mathematik: In jedem Kreis, gleich wie klein oder groß, ist das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser gleich – aber wie groß es in absoluten Zahlen ist, lässt sich nicht sagen.

Und das, obwohl die größten Mathematiker in Ost und West seit Jahrtausenden unzählige Anläufe zur Bestimmung der Kreiszahl nehmen. Sie liegt ein Alzerl über 3,1, das wussten schon Babylonier und Ägypter, dann kam Archimedes auf 3,14 (und Folgestellen), später wurde der gleiche Wert aus Indien und China gemeldet, es gibt verschiedene Wege zu ihm, ganz ans Ziel führt keiner. Denn Pi – wenigstens der Name ist seit Euler eindeutig, er kommt von „peripheria“ (Randbereich) oder von „perimetros“ (Umfang) – ist eine irrationale und transzendente Zahl, sie kann weder in ganzen Zahlen noch in einer Bruchzahl noch als Wurzel ausgedrückt werden.

Deshalb nimmt sie auch nie ein Ende. Archimedes präzisierte bis auf sieben Stellen hinter dem Komma, manches spätere Mathematikerleben ging über Verfeinerungen dahin, dann kamen Computer zu Hilfe: Seit 2010 kennt man fünf Billionen Stellen, sie im Sekundentakt aufzusagen würde 158.549Jahre füllen, so steht es zumindest auf der Homepage der Wiener „freunde der zahl pi“ (pi314.at). Solche gibt es auch andernorts, um die Kreiszahl herum hat sich ein Kult etabliert, zunächst in den USA. Dort feiert man seit 1988 alljährlich den Pi Day – er findet nach Maßgabe der Zahl 3,14159 am 14.3. statt (3/14), exakt um 1.59 Uhr gibt es pie, Kuchen, runden natürlich, und im März 2009 beschloss das US-Repräsentantenhaus in einer Resolution (H.Res.224.EH), „die Einführung eines Pi-Tages und seiner Feier weltweit zu unterstützen“.

Das brachte Neider und Nörgler, die den alten König stürzen und einen neuen auf den Thron hieven wollten: „Ästhetisch ist Pi hässlich“, posaunte Michael Hart, Physiker und nach Eigendefinition „führender Anti-Pi-Propagandist der Erde“, im Tau Manifesto (tauday.com), es ist ellenlang und kreist darum, dass beim Kreis nicht der Durchmesser zähle, sondern der Radius. Nimmt man den, erhält man eine Kreiszahl namens Tau, sie ist naturgemäß exakt doppelt so groß wie Pi: 6,28 etc. etc. Auch Tau hat seinen Feiertag, den 28.6., an dem „gibt es doppelt so viel pi(e)“, lockt Hart.

Pi-Getreue können darüber nur lachen, zweimal Pi, und „pie“ haben sie schon selbst – damit schließt sich der Kreis dieses Berichts, der nicht dem Füllen eines runden Sommerlochs dient –, sie feiern auch den Tag der Annäherung an Pi. Dessen Rezept stammt wieder von Archimedes: 22 durch 7 – 22. Juli also, heute! Gute Annäherung!


Nota.

Auch ich kann mich zu den Pietisten zählen. Mich beruhigt Pi. Wenn es irgendworin aufginge, das Produkt von irgendwas wäre oder ein Quotient oder sonst ein hoher Funktionsträger der Mathematik - man würde wieder sagen, das habe ein intelligenter Designer ersonnen, alles passt zu allem, alles geht in allem auf. Aber Pi lässt sich auf nichts zurückführen, es ist bête comme un fait, sinnlos wie eine bloße Tatsache. Wenn da ein Designer hinterstecken sollte, kann er intelligent nicht wirklich gewesen sein. Vielleicht aber weise: Er wollte keine schlüssige Welt, er wollte dem Zufall eine Chance lassen. Das mag auch Atheisten beruhigen, es hätte schlimmer kommen können.
JE

Montag, 21. Juli 2014

Wahl-verwandt.

Lothar Sauer
aus scinexx

Freunde sind uns auch genetisch ähnlich
So viele DNA-Übereinstimmungen wie bei einem Cousin vierten Grades

Genetische Nähe: US-Forscher haben herausgefunden, dass Freunde sich genetisch verblüffend ähnlich sind. Ihre Übereinstimmungen entsprechen denen eines Cousins vierten Grades – obwohl sie nicht miteinander verwandt sind. Offenbar wählen wir unbewusst diejenigen Menschen als Freunde aus, die auch genetisch zu uns passen. Wie das gelingt, ist allerdings noch rätselhaft, wie die Forscher im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences" berichten.

Wir teilen die gleichen Interessen, haben ähnliche Vorlieben, lachen über die gleichen Dinge und bewegen uns wahrscheinlich auch in ähnlichen Kreisen: Dass wir mit unseren Freunden viel gemeinsam haben, ist nichts Neues. Manchmal gleichen wir ihnen sogar im Typ – ähnlich wie dies bei vielen Ehepaaren der Fall ist. Nicholas Christakis von der Yale University und James Fowler von der University of California in San Diego haben nun erstmals untersucht, ob es auch in punkto Genetik mehr Gemeinsamkeiten mit Freunden als mit Fremden gibt.

DNA von Freunden und Fremden

"Das ist unseres Wissens nach die erste genomweite Analyse von genetischen Korrelationen zwischen Freunden", so die Forscher. Sie nutzten für ihre Analyse Daten der sogenannten Framingham-Herz-Studie, bei der mehrere tausend Teilnehmer über mehr als 50 Jahre hinweg begleitet und untersucht worden sind. Dabei wurden sowohl Daten zu ihrer Lebensweise, ihrer Gesundheit, ihrem Erbgut als auch zu ihren sozialen Beziehungen erhoben – für die Forscher war dies ein echter Glücksfall.

"Wir kennen keinen anderen Datensatz, der sowohl Informationen zu Freundschaften als auch zu Genvarianten im Erbgut enthält", erklären Christakis und Fowler. Sie wählten 1.932 Teilnehmer der Studie aus, die mit jeweils einem oder mehreren anderen Probanden der Gruppe befreundet waren. Dabei wurden nur Freundschaftspaare ausgesucht, die nicht miteinander verwandt waren. Die Wissenschaftler verglichen nun die Übereinstimmungen von Genbuchstaben an insgesamt 466.608 Stellen im Erbgut – sowohl zwischen den Freunden als auch zwischen nicht befreundeten, zufällig ausgewählten Teilnehmerpaaren.

So ähnlich wie Cousins vierten Grades

Das Ergebnis war verblüffend, denn die Ähnlichkeiten unter Freunden reichen offenbar bis ins Erbgut hinein. "Wir haben mehr DNA mit den Menschen gemeinsam, die wir als unsere Freunde auswählen, als mit Fremden in der gleichen Population", sagt Fowler. Die genetische Ähnlichkeit geht dabei über das hinaus, was einfach durch gemeinsame Abstammung oder gleiche Volkszugehörigkeit erklärt werden kann.

Denn wie die Forscher ermittelten, entspricht die Übereinstimmung in der DNA in etwa derjenigen, die wir mit einem Cousin vierten Grades teilen würden. Oder anders ausgedrückt: etwa ein Prozent unserer Gene ist mit denen unserer Freunde identisch. Anhand der Gen-Übereinstimmungen konnte die Forscher sogar blind voraussagen, ob zwei willkürlich ausgewählte Gensätze zu einem Freundespaar gehörten oder zu zwei einander Fremden. 

Riechgene gleich

"Das ist wirklich bemerkenswert: Irgendwie schaffen wir es, aus der Myriade von Möglichkeiten genau die Menschen als Freunde herauszupicken, die uns so ähnlich sind wie Verwandte", sagt Christakis. Wie uns dies gelingt, ist bisher allerdings noch völlig noch unklar. Ein Hinweis ergab sich jedoch, als die Forscher nachschauten, welche Gene besonders oft bei Freunden übereinstimmen – und welche besonders selten.

So zeigte sich, dass Gene für den Geruchssinn überdurchschnittlich viele Ähnlichkeiten zeigten. "Individuen, die Dinge auf die gleiche Weise riechen, könnten sich zu ähnlichen Umgebungen hingezogen fühlen, wo sie sich dann treffen und anfreunden", so die Vermutung der Forscher. So sucht man vielleicht häufiger ein Café auf, weil einem der Kaffeegeruch besonders angenehm erscheint und knüpft dann dort Kontakte.

Immungenetisch möglichst unähnlich

Einen Hinweis auf den Nutzen dieser genetischen Ähnlichkeiten lieferte ein zweiter Fund: Diejenigen, die miteinander befreundet sind, haben meist ziemlich unterschiedliche Immungene, wie die Forscher berichten. Dadurch sind sie beispielsweise gegenüber jeweils anderen Krankheitserregern anfällig. "Sich mit Menschen zu umgeben, die uns in dieser Hinsicht unähnlich sind, könnte eine gute Anpassungsstrategie sein", erklären Christakis und Fowler.

Denn in einer Gruppe von gleich Anfälligen kann sich eine Infektion sehr schnell ausbreiten, oft werden dann alle krank. Sind aber nur wenige für den Erreger anfällig, hemmt dies die Ausbreitung. Die Wahrscheinlichkeit sich anzustecken sinkt. Unbewusst scheinen wir demnach nicht nur die Freunde zu wählen, die uns auch genetisch ähnlich sind, sondern auch gleich solche, die uns gesundheitlichen Nutzen verschaffen. Freundschaft ist damit einmal mehr eine echte Win-Win-Beziehung – und das bis in unsre Gene hinein. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2014; doi: 10.1073/pnas.1400825111)

(PNAS / University of California - San Diego, 15.07.2014 - NPO)


aus Der Standard, Wien, 15.7.2014

Freunde haben ähnliche DNA
Bisher konnten die US-Forscher Nicholas Christakis und James Fowler zeigen, wie sehr Glück oder Fettsucht über soziale Netzwerke vermittelt wird - Nun fanden sie heraus, dass Freunde auch auffällig ähnliche Gene besitzen

Washington/Wien - Es ist ziemlich erstaunlich, was Nicholas Christakis und James Fowler über "Die Macht der sozialen Netzwerke" (so der Titel ihres gemeinsamen Buches) herausgefunden haben. Die beiden US-Sozialwissenschafter konnten nämlich unter anderem zeigen, dass etwa Fettsucht, das Rauchverhalten oder Glück hochgradig sozial ansteckend sind. Mit anderen Worten: Was Freunde und Bekannte in unseren sozialen Netzwerken tun und fühlen, hat weitaus mehr Einfluss auf unser Leben, als wir vermutlich gerne zugeben möchten.

Eine wichtige Datenbasis für die Untersuchungen von Christakis, der an der Yale University forscht, und Fowler (University of California in San Diego) ist die Framingham-Studie, die seit 1948 die Bevölkerung der gleichnamigen US-Stadt unter die medizinische Lupe nimmt. Für ihre neueste Studie hat das Forscherduo insgesamt 1932 Teilnehmer der Studie auf 1,5 Millionen für SNIPs, also Marker für Genvariationen, untersucht und verglichen, ob und wie sich befreundete Personen genetisch ähnlicher sind.

Genetisch Cousins vierten Grades

Das Ergebnis der im Fachblatt "PNAS" veröffentlichten Analysen war eindeutig: Die DNA von Freunden weist größere Ähnlichkeiten auf als von fremden Personen. Sie entspricht in etwa der von Cousins vierten Grades oder von gemeinsamen Urururgroßeltern. Damit lassen sich auf Basis der DNA Freundschaften ähnlich gut vorhersagen wie Fettsucht oder Schizophrenie.

Für die beiden Autoren liegt der Grund für solche genetischen Ähnlichkeiten von Freunden im evolutionären Vorteil, den sie als "funktionelle Verwandtschaft" bezeichnen. In ganz einfachen Worten: Wenn einer Person bei einer ähnlichen Temperatur kalt ist wie ihrem Freund und Feuer macht, dann ist beiden geholfen.

Die beiden Autoren analysierten aber auch, wo die genetische Übereinstimmung von Freunden besonders hoch ist und wo besonders niedrig. Besonders hoch scheint die Ähnlichkeit bei  jenen Genen zu sein, die den Geruchssinn steuern. Die Formulierung "sich riechen können" bekommt dadurch eine genetische Bestätigung. Laut Fowler könnte man das dadurch erklären, dass Menschen mit ähnlichen Geruchspräferenzen sich an ähnlichen Orten aufhalten - also etwa Kaffeeduftliebhaber in Kaffeehäusern. Vermutlich stecke aber noch mehr Evolutionsbiologie hinter dieser auffälligen Affinität.

Besonders niedrig sei umgekehrt die Ähnlichkeit bei Genen, die das Immunsystem kontrollieren. Das könnte evolutionsbiologisch dazu dienen, die Verbreitung von Pathogenen zu unterbinden, vermuten die Autoren. Doch auch in dem Fall können sie über die dahinter liegenden Faktoren nur spekulieren.
Das vielleicht erstaunlichste Resultat der Studie sei schließlich, dass jene Gene mit den größten Übereinstimmungen unter Freunden auch jene Gene sind, die sich am schnellsten evolutionär verändern. Das wiederum deute darauf hin, dass sie soziale Umgebung selbst eine evolutionäre Kraft sei – und die Menschen so etwas wie ein "Metagenom" bilden, wie Christakis formuliert: "Es scheint, dass unsere Fitness nicht allein von unserer eigenen genetischen Konstitution abhängt, sondern auch von der unserer Freunde." (tasch)

Sonntag, 20. Juli 2014

Synapsen? Aber nicht ohne ihre Astrozyten.

aus derStandard.at,


Lernprozesse: 
Forscher untersuchten Rolle der Astrozyten
Wechselspiel mit den Synapsen im Mäuseversuch festgestellt

Genf - Während des ganzen Lebens verändert sich die Struktur des Gehirns durch Lern- und Erinnerungsprozesse. Schweizer und kanadische Forscher haben nun herausgefunden, dass nicht-neuronale Hirnzellen namens Astrozyten dabei eine stabilisierende Rolle spielen. Die Erkenntnisse wurden im Fachjournal "Current Biology" publiziert.

Die Grundlagen

Das Gehirnnetzwerk aus Nervenzellen und den Verbindungen zwischen ihnen wird fortwährend umstrukturiert. Damit gelernte Information sich verfestigen kann, müssen diese Nervenverbindungen stabilisiert werden. Signale zwischen Nervenstellen werden über Kontaktstellen, die Synapsen, von Zelle zu Zelle geleitet.

Diese sind umgeben von Helferzellen wie den sternförmigen Astrozyten, die komplexe Strukturen um die Synapsen bilden. Die Astrozyten spielen offenbar eine bisher unbekannte Rolle bei der Signalübertragung, wie nun ein Team der Universitäten Genf und Freiburg sowie des Montreal General Hospital herausgefunden hat.

Mäuse-Experiment

Die Hirnforscher um Dominique Muller vom Departement für Neurowissenschaften der Uni Genf haben Hirnzellen angeregt, indem sie die Tasthaare von Mäusen stimulierten. Die erhöhte Aktivität der Nervenzellen führte auch zu einer stärkeren Bewegung der Astrozyten.

Kontaktstellen zwischen Nervenzellen (rot) werden zum Teil von den Astrozyten (grün) umschlossen. 

Die Astrozyten reorganisierten ihren Aufbau rings um die Synapsen, was diese schützt und langlebiger macht. Den Forschern gelang es, diese synaptischen Strukturen kontrolliert zu beeinflussen und zu zeigen, dass dieses Phänomen nur bei Verbindungen zwischen Nervenzellen auftritt, die mit dem Lernen zu tun haben.

Die Folgerung

"Je mehr Astrozyten die Synapsen umlagern, desto länger leben die Synapsen", erklärte Erstautor Yann Bernardinelli. "So ermöglichen sie es, dass das Gelernte ins Gedächtnis übergeht." Die Studie deckt demnach einen wechselseitigen Prozess zwischen Astrozyten und Nervenzellen auf: Der Lernprozess beeinflusst den Aufbau der Astrozyten, die wiederum das Schicksal der Synapsen bestimmen.

Die Astrozyten scheinen also eine wichtige Rolle beim Prozess des Lernen und Erinnerns zu spielen. Eben dieser Prozess sei bei verschiedenen Gehirnerkrankungen wie Alzheimer, Autismus oder dem Fragile X-Syndrom gestört, betonen die Autoren. (APA/red,)