Freitag, 25. Januar 2019

Wie das Gehirn verschiedene Sprachen lernt.


aus spektrum.de, 10. Januar 2019|

Sprachenlernen und die Evolution des menschlichen Gehirns 

Von Joe Dramiga 

Zoosemiotiker erforschen die verschiedenen Formen der tierischen Kommunikation. Einige von Ihnen haben versucht Hunden, Affen und Vögeln eine menschliche Sprache beizubringen. Nach langem Training lernten diese Tiere Wortassoziationen. Es gab kein Tier, das durch die bloße Exposition Worte und die mit ihnen verbundenen Bedeutungen gelernt hat – es wurde immer explizit und mühsam dafür trainiert. Das ist ein kritischer Unterschied zu dem Spracherwerb bei Kindern, die ab einem bestimmten Alter ohne irgend- eine Anleitung Sprache verstehen und erzeugen können. 

Diesen Unterschied erklärt eine Gruppe von Neurolinguisten damit, dass das menschliche Gehirn spezifi- sche Sprachmodule hat, die nur im menschlichen Gehirn vorkommen. Eine andere Gruppe vertritt die neuere Meinung, dass Sprache wie ein Trittbrettfahrer auf bereits existierende Mechanismen zurückgreift, unabhängig davon, ob sich diese für die neuen Funktionen (evolutionsbiologisch oder entwicklungsbiologisch) weiter spezialisiert haben oder nicht.

Dieses deklarativ-prozedurale (DP)-Modell des Sprachenlernens sagt voraus, dass, da Lexikon und Gram- matik einer Sprache erlernt werden müssen, das Lexikon stark vom deklarativen und die Grammatik stark vom prozeduralen Gedächtnis abhängig ist. Darüber hinaus sagt das DP-Modell voraus, dass sich bei einem Sprachenlerner das Grammatiklernen in der frühen Lernphase stärker auf das deklarative in der späten Lernphase stärker auf das prozedurale Gedächtnis stützen wird, weil das Lernen mit dem deklarativen Gedächtnis schneller erfolgt als mit dem prozeduralen Gedächtnis.

Semantisches und prozedurales Gedächtnis beim Sprachenlernen

Das semantische Gedächtnis, eine Form des deklarativen Gedächtnisses, beinhaltet das bewusste Faktenwissen. Es speichert unser Wissen über die Welt und die Sprache und ist im Gegensatz zum autobiografischen Gedächtnis nicht emotional gefärbt und frei von eventuellen Rahmenbedingungen, d. h. wir erinnern die Gegebenheit nicht in Verbindung mit einem Ort oder einem bestimmten Zeitpunkt. Das semantische Gedächtnis ermöglicht uns, “automatisch” zu erinnern, dass die Hauptstadt von Frankreich Paris ist. In der Regel erinnerst du dich aber nicht daran, wann, wo und von wem du diese Tatsache das erste Mal gehört hast. Das semantische Gedächtnis dient uns als mentales Lexikon. Dafür sind im Gehirn der Temporallappen und der Hippocampus wichtig.

“Diese Hirnsysteme sind auch bei Tieren zu finden – Ratten verwenden sie zum Beispiel, wenn sie lernen, in einem Labyrinth zu navigieren”, sagt Koautor Phillip Hamrick, “Unabhängig von den Änderungen, die diese Systeme zur Unterstützung der Sprache durchlaufen haben, ist die Tatsache, dass sie eine wichtige Rolle in dieser typisch menschlichen Fähigkeit spielen, bemerkenswert.”

Das prozedurale Gedächtnis ist das Gedächtnis für unbewusste Bewegungsabfolgen wie Laufen oder Fahrradfahren. Wenn wir einen Bewegungsablauf oft genug wiederholt und geübt haben, können wir ihn ausführen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Dafür sind im Gehirn vor allem das Kleinhirn und die Basalganglien zuständig.
 

Sprachforscher aus den USA, England und Australien haben das DP-Modell jetzt in einer Metaanalyse von 16 Studien statistisch überprüft und diese in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht [1]. In ihrem Artikel beschreiben sie, wie Kinder ihre Muttersprache und Erwachsene Fremdsprachen mit evolutionär alten Gehirnstrukturen lernen, die es bereits vor der Entstehung des Menschen gab und die auch für so unterschiedliche Aufgaben wie das Erinnern an Omas Geburtstag und Fahrrad fahren lernen verwendet werden – also nicht spezifisch für Sprache sind.
 

Die Ergebnisse zeigen, wie gut wir uns an die Wörter einer Sprache (oder Vokabeln bei Fremdsprachen) erinnern, hängt davon ab, wie gut wir mit dem semantischem Gedächtnis lernen können, mit dem wir uns das kleine Einmaleins merken.
 

Die Grammatikfähigkeiten, die es uns ermöglichen, Wörter gemäß den Regeln einer Sprache zu Sätzen zu kombinieren, zeigen ein anderes Muster. Die Grammatikfähigkeiten von Kindern, die ihre Muttersprache lernen, korrelierten am stärksten mit dem Lernen des prozeduralen Gedächtnisses, mit dem wir Aufgaben wie Fahrradfahren lernen. Bei Erwachsenen, die eine Fremdsprache lernen, korrelieren die Grammatikfä- higkeiten jedoch mit dem semantischen Gedächtnis in frühen Stadien des Fremdspracherwerbs, jedoch mit dem prozeduralen Gedächtnis in späten Stadien.
 

Die Korrelationen waren stark und wurden in Sprachen wie Englisch, Französisch, Finnisch und Japanisch und Aufgaben wie Lesen, Zuhören und Sprechen konsistent gefunden, was darauf schließen lässt, dass die Verbindungen zwischen Sprache und Gehirnsystem robust und zuverlässig sind.
 

Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen beim Sprachenlernen auf kognitive Allzwecksysteme angewiesen sind. Die Allgemeinheit dieser Systeme schließt jedoch nicht die gleichzeitige Existenz domänenspezi- fischer Substrate für die Sprache aus, entweder aufgrund einer ontogenetischen (Entwicklungs-) oder phylogenetischen (evolutionären) Spezialisierung innerhalb dieser Systeme oder aufgrund zusätzlicher spezialisierter Schaltungen.




Ein Schlüsselaspekt der Alphabetisierung besteht darin, die als “Phonem-Graphem-Entsprechung” bekannte audio-visuelle Abbildung festzulegen, wobei elementare Töne von Sprache (d. h. Phoneme) mit visuellen Darstellungen (d. h. Graphemen) verknüpft werden.
 
Evolution des Gehirns bei Wirbeltieren
 

Das Studium der Evolution der Gehirnbereiche, die dem semantischen und dem prozeduralen Gedächtnis zugrunde liegen, kann uns vielleicht neue Erkenntnisse über den Spracherwerb beim Menschen liefern. Evolutionsbiologen haben bisher drei wichtige Schlussfolgerungen aus der Evolution des Gehirns bei Wirbeltieren gezogen [2]:
 

1. Alle Wirbeltiere, mit Ausnahme der Kieferlosen (Agnathen), denen ein Kleinhirn fehlt, haben die gleiche Anzahl Gehirnglieder.
 

2. Die Gehirngröße hat bei einigen Mitgliedern jeder Wirbeltierklasse unabhängig zugenommen. Sowohl Vögel als auch Säugetiere haben ein Gehirn, das 6–10 Mal größer ist als das Gehirn von Reptilien der gleichen Körpergröße.
 

3. Zunahme der Gehirngröße hat häufig zu einer Zunahme der Anzahl neuronaler Zentren, einer Zunahme der Anzahl neuronaler Zellklassen innerhalb eines Zentrums und wahrscheinlich einer Zunahme der Verhaltenskomplexität geführt. Das auffälligste Beispiel für eine Zunahme der Nervenzentren mit Zunahme der relativen Gehirngröße fanden die Neurobiologen bei den Säugetieren. Von den Nagetieren zu den Primaten steigt die Anzahl der kortikalen Unterteilungen um das Fünffache.
 

Die meisten Neurobiologen nehmen an, dass die Komplexität des Gehirns und die Komplexität des Verhaltens irgendwie miteinander verbunden sind. Gehirne existieren, um Informationen zu verarbeiten, die es einem Tier ermöglichen, Probleme zu lösen, was wiederum zur Fitness dieses Tieres beiträgt. Mit zunehmender Größe des Gehirns nehmen auch die Anzahl der Nervenzellen und ihrer Verbindungen zu, wodurch die verfügbare Ausrüstung für die Informationsverarbeitung erweitert wird. Diese gesteigerte Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, ermöglicht es einem Tier, eine komplexere Wahrnehmungswelt aufzubauen, die wiederum erhöhte Möglichkeiten zur Problemlösung aufzeigen und dazu führen soll, dass Verhalten komplexer und anpassungsfähiger wird.
 

Pyramidenzellen eignen sich für Deep Learning
 

Die KI-Forscher Blake Richards und Jordan Guerguiev haben in der Fachzeitschrift eLife einen Algorithmus publiziert [3], der simuliert, wie Deep Learning in unserem Gehirn funktionieren kann. Das Netzwerk zeigt, dass die neokortikalen Pyramidenzellen von Säugetieren die Form und die elektrischen Eigenschaften besitzen, die sich für Deep Learning eignen.
 

“Die meisten dieser Neuronen sind wie Bäume geformt, mit “Wurzeln” tief im Gehirn und “Ästen” in der Nähe der Oberfläche”, sagt Richards. “Interessant ist, dass diese Wurzeln andere Eingaben erhalten als die Äste, die ganz oben im Baum stehen.”
 

Mit dem Wissen über die Struktur der Pyramidenzellen bauten Richards und Guerguiev ein Modell, das auf ähnliche Weise Signale in getrennten Kompartimenten empfing. Diese Kompartimente ermöglichten es simulierten Neuronen in verschiedenen Schichten, zusammenzuarbeiten und Deep Learning zu erreichen.
 

“Es handelt sich lediglich um eine Reihe von Simulationen, so dass wir nicht genau sagen können, was unser Gehirn tut. Es ist jedoch ausreichend, um weitere experimentelle Untersuchungen zu rechtfertigen, wenn unser eigenes Gehirn die gleichen Algorithmen verwendet”, sagt Richards. Langfristig hofft er, dass die KI-Forscher die großen Herausforderungen meistern können, beispielsweise durch Erfahrung lernen, ohne Feedback zu erhalten.

[1]. Phillip Hamrick, Jarrad A. G. Lum, Michael T. Ullman. (2018) Child first language and adult second language are both tied to general-purpose learning systems. Proceedings of the National Academy of S[ciences, 115 (7), 1487-1492.
[2]. R. Glenn Northcutt (2002) Understanding Vertebrate Brain Evolution; Integrative and Comparative Biology, 42 (4), 743–756.
[3]. Jordan Guergiuev, Timothy P. Lillicrap, Blake A. Richards. 2017 Towards deep learning with segregated dendrites. eLife, 2017

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