Freitag, 4. Januar 2019

Mehr Philosophie wagen?


aus spektrum.de, 3. Januar 2019|

Warum wir dringend mehr Philosophie brauchen
Replik auf Winfried Degens Polemik gegen das Philosophiestudium 

Von Stephan Schleim 

Kann ein Bäcker die Arbeit eines Schusters beurteilen? Oder eine Fußballerin die einer Tennisspielerin? Vielleicht teilweise. Aber man sollte sicher nicht nur eine fachfremde Person fragen, um einen vollständigen Eindruck zu bekommen.

Kürzlich schrieb Winfried Degen, nach eigenem Bekunden Nichtphilosoph, einen “Brief an einen jungen Philosophen.” Dieser richtet sich an einen jungen Mann in der Familie, vielleicht ist es ein Neffe oder ein Enkelsohn, der sich für ein Philosophiestudium entschieden habe. Deshalb sah sich Degen dazu veranlasst, mit seinem Brief “das Schlimmste zu verhindern” und seinem Familienmitglied wichtige Lebens- und Studiertipps zu geben.

Das Wohl des Arbeitsmarkts

Degens Brief steht unter der Prämisse, dass jeder “talentierte Mensch”, der an Stelle einer Natur- oder Ingenieurwissenschaft ein Studium in einem Fach wie Philosophie wählt, “ein schwerer Verlust für unser Land” sei. Schließlich bedrohe doch der Mangel an guten Fachkräften die deutsche Wirtschaft. Der informierte Leser vermutet jedoch seit Längerem, dass das mit dem ewig beklagten Fachkräftemangel zumindest teilweise geschickte arbeitgeberfreundliche Propaganda ist:

Einerseits haben Arbeitgeber nämlich immer ein Interesse daran, dass sich auf ihre Stellen besser zehn, zwanzig oder gar hundert Menschen bewerben anstatt nur zwei oder drei; ab wann können wir sinnvollerweise von einem Mangel sprechen? Andererseits lässt sich mit dem Horrorszenario eines Wirtschaftseinbruchs wegen unbesetzter Stellen womöglich auch ein späteres Renteneintrittsalter rechtfertigen (Fachkräftemangel: Mehr Schein als Sein?). Arbeiten bis 70 für den Wirtschaftsstandort Deutschland?

Ich will hier nicht die herrschende Arbeitspolitik diskutieren. Dafür bin ich auch gar nicht qualifiziert. Ich will nur darauf hinweisen, dass Degens Brief schon in seinen Voraussetzungen zweifelhaft ist. Ähnlich verhält es sich mit seinem Loblied auf das Taxifahren, das viel nützlicher sei als Philosophieren. Das passt schon allein aus dem Grund nicht gut in Degens Bild, weil die von ihm so hochgelobten Absolventen der Natur- oder Ingenieurwissenschaften mit ihren Apps wie Uber das traditionelle Taxifahrertum in den nächsten Jahren wahrscheinlich platt machen werden.

Wenn wir also den Philosophiestudenten als Verlust für die Wirtschaft ansehen, dann können wir neue Apps ebenso als Verlust für das traditionelle Personenbeförderungssystem ansehen. Worauf ich hinaus will: Es ist alles eine Frage des Standpunkts. Des Einen Nutzen kann schnell des Andern Schaden sein. Warum Degens Standpunkt der Beste ist und für junge Menschen, die ein Studienfach wählen, verbindlich sein soll, begründet der Autor jedenfalls nicht.

Halten wir daher fest: Was Winfried Degen voraussetzt, ist vielmehr eine Hypothese, die man erst einmal belegen müsste. Und mit den Beispielen hakt es auch ein wenig. Dabei sind wir noch nicht einmal auf seine stillschweigende Voraussetzung eingegangen, dass Wirtschaftswachstum wichtiger als Bildung und persönliche Entwicklung ist.


Und die Jugend mit dem Argument überzeugen zu wollen, bei der Studienwahl den Interessen der deutschen Wirtschaft dienen zu müssen, erinnert mich eher an düstere Zeiten. Zeiten, in denen der Wunsch des Individuums gegenüber einem wie auch immer verstandenen Allgemeinwohl nicht viel zählte. In Ländern wie China soll es ja heute noch so zugehen. Ich weiß nicht, ob es die Menschen dort viel glücklicher macht, sich für das Land aufzuopfern. Sie tun es wahrscheinlich vor allem, weil sie anders bestraft würden oder ihre Lebensgrundlage verlören.

Ist nun aber die Philosophie so ein “unnützes Unternehmen”, wie Degen es behauptet? So unnütz, dass er sich dazu veranlasst sieht, seinen jüngeren Familienangehörigen S. von dem Wunsch abzubringen, in der Stadt B. Philosophie zu studieren. Und wenn der sich nicht ganz davon abbringen lasse, dann könne man vielleicht noch Schadensminimierung betreiben. ...

Beispiel Deutscher Idealismus

Aber zurück zu Winfried Degens Text. Erkenntnistheorie, Bewusstseinsphilosophie – davon erfährt man in seinem Brief kein Wort. Als Beispiel für philosophisches “Geschwätz” – das Wort fällt in seinem Text achtmal – zieht er lieber den Philosophen Hegel heran. Dem hält er dann eine Kritik Schopenhauers entgegen. Wobei “Kritik” hier eigentlich das falsche Wort ist: Es ist vielmehr ein persönlicher zerriss ohne inhaltliche Argumente.

Ich bin nun beileibe nicht dazu in der Lage, Hegel zu verteidigen. Dazu hätte ich auch gar keine Lust. Man sollte hier aber historisch hinzufügen, dass dieser Philosoph sich gerne auf die Seite der Mächtigen stellte. Das war im frühen 19. Jahrhundert der damals noch siegreiche Kaiser Napoleon, den Hegel in seiner Philosophie als “Weltseele” verherrlichte, später dann das aufstrebende preußische Königreich.

Der fast 20 Jahre jüngere Schopenhauer ließ es in seiner Berliner Zeit (1820-1831) dennoch auf einen Machtkampf mit dem schon sehr populären Hegel ankommen. So setzte er etwa seine Vorlesungen zeitgleich zu denen des berühmten Konkurrenten. Dass im Ergebnis fast niemand zu Schopi kam, während sich Hegel voller Hörsäle erfreute, überrascht dann eigentlich nicht. Jedenfalls handelt es sich bei dem Duell der beiden nicht nur um einen Streit der Philosophien, sondern auch der Männer. Oder sollte man besser sagen: Großer Egos? Das muss man bei Schopenhauers Äußerungen über Hegel berücksichtigen.

Wie dem auch sei, sich nach dem Prinzip pars pro toto – ein Teil steht für das Ganze – an einem schon lange verstorbenen Vertreter des angestaubten Deutschen Idealismus abzuarbeiten, also an Hegel, und damit die Philosophie insgesamt als unnützes Geschwätz zu brandmarken, ist kein Beispiel für gutes Argumentieren, also auch nicht für gute Philosophie. Vielmehr nennt man dieses Vorgehen einen Strohmann: Man sucht sich entweder einen schwachen Diskussionsgegner oder entstellt den Standpunkt des Anderen so sehr, dass er sich leicht abfackeln lässt. Das verrät aber viel mehr über die Denk- und Arbeitsweise des Abfacklers als des (scheinbar) Abgefackelten.

Nützliche Philosophie

Überhaupt bezieht sich Degen im ganzen Text nur einmal auf einen Philosophen von außerhalb des deutschen Sprachraums, nämlich kurz auf John Locke. Repräsentativ ist das sicher nicht. Das ist ein zweites schwerwiegendes Problem in der Polemik gegen die Philosophie. Dass aber von Degen im Prinzip nur Hegel, die Logik und Sprachphilosophie – zu letzteren beiden komme ich noch – herangezogen werden, ist aber doch recht schräg:

Denn damit sind in einem Artikel, der wohlgemerkt die Nutzlosigkeit der Philosophie beweisen soll, gerade die nach allgemeinem Verständnis nützlichsten Teile der Disziplin ausgeklammert: nämlich Lebensphilosophie, die an heutigen Unis kaum noch gelehrt wird, dem bereits erwähnten Schopenhauer aber mit seinen “Aphorismen zur Lebensweisheit” schon zu Lebzeiten einige Popularität bescherte, Politische Philosophie und vor allem die Ethik beziehungsweise Moralphilosophie! Wenn Degen also schlussfolgert, die Philosophie sei nutzlos, liegt das vielleicht auch schlicht an seiner beschränkten Auswahl.

Doch damit nicht genug. Als Beispiel für gute Philosophie zieht der Autor dann nämlich ausgerechnet die Logik heran. Diese setzt er seinem Familienangehörigen, wenn der sich schon nicht vom Philosophiestudium abbringen lässt, so doch ganz oben auf die Empfehlungsliste. Dieser Schachzug überrascht nun in zweierlei Weise: Erstens weiß Degen nämlich von der begrenzten mathematischen Begabung des jungen S., während die Logik – zusammen mit der Philosophie der Mathematik – ausgerechnet der mathematischste Teil der Disziplin ist. Zweitens ist die Logik, ebenso wie die reine Mathematik, gerade nicht für ihre Nützlichkeit bekannt.

Damit ist beileibe nicht gesagt, dass die Vermittlung logischen Denkens oder reiner mathematischer Kenntnis kein wichtiges Bildungsziel sein kann. Gerade wegen ihrer Schönheit und Nutzlosigkeit im wirtschaftlichen Sinne könnte sie eine l’art pour l’art sein, ein reines Vergnügen als Selbstzweck. Und in diesem Sinne entspräche das Logikstudium der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Schule (altgriechisch scholé), nämlich zweckfreier Mußestunden aus purer Leidenschaft. Für den jungen S. wäre es aufgrund seiner Begabungen aber wohl eher eine Tortur.

Warum ist aber Logik nicht nützlich? Vielleicht kann man hier von einer Unschärferelation sprechen: Je mehr man sich dem Bereich der Logik annähert, desto mehr muss man von konkreten Inhalten abstrahieren. Reine Logik ist schlicht Manipulation von im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslosen Symbolen nach vorgegebenen Regeln. Das heißt, man gewinnt logische Wahrheit um den Preis der Inhaltsleere. Als nützliches Anhängsel der Logik könnte man allenfalls die Argumentationstheorie bezeichnen.

In der Praxis kommt man damit aber meistens zu dem Ergebnis, dass heutige Reden, etwa von Politikern, gerade nicht sauber argumentieren. Degen tut das ja selbst nicht, wie wir schon gesehen haben. Und mit ihnen auch ein Großteil der vom Autor so hochgehaltenen Natur- und Ingenieurwissenschaften, die vor allem statistische Korrelationen berichten, die irgendetwas nahelegen sollen. Mit gutem Willen könnte man das vielleicht noch als “Schluss auf die beste Erklärung” bezeichnen. Dafür müsste man sich aber mal eingehender mit Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie beschäftigen, denen Degen keine einzige Zeile widmet.

Zur Sprachphilosophie will ich mich hier im Interesse der Kürze nicht näher äußern. Nur so viel sei gesagt: Degen widmet der Diskussion der Bedeutung des Satzes “Der Ball ist rund” gut ein Drittel seines langen Artikels. Damit ist er selbst philosophisch tätig, also Philosoph. Wenn sein junger Familienangehöriger schon vor Studienbeginn von Degen als “Philosoph” bezeichnet wird, dann ist der auf hohem Niveau philosophierende Autor Winfried Degen sicher auch einer.

Somit handelt er sich das Problem eines Selbstwiderspruchs ein: Entweder ist Philosophie nutzloses Geschwafel, dann steht aber auch sein eigener Text unter Schwafelverdacht. Oder Degens sprachphilosophischer Teil ist nützlich, dann widerspricht er aber seiner Kernthese von der Nutzlosigkeit der Philosophie. Das nennt man dann einen “performativen Selbstwiderspruch”: Indem man etwas tut, widerspricht man gerade dem, was man eigentlich belegen will. Im Übrigen empfand ich die Diskussion der Bedeutung von “Der Ball ist rund” als ein gutes Beispiel für die Erklärung der Funktion von Sprache und in diesem Sinne als nützlich.

Philosophie und Hirnforschung

... Es ist aber doch so, dass die Neurowissenschaften noch gar nicht über die richtigen Kategorien verfügen, den Menschen als fühlendes und denkendes Wesen zu beschreiben, geschweige denn hier viel Neues beizusteuern. Und wo sie es versuchen, da ergänzen sie psychologische Theorien in aller Regel um ein paar statistische Korrelationen mit Gehirndaten, die für sich selbst nichts erklären, sondern vielmehr wieder der Psychologie bedürfen, um erklärt zu werden. Und zur Analyse der Beziehung dieser Erklärungsebenen zueinander kommt schließlich die Wissenschaftstheorie und Philosophie des Geistes ins Spiel. 

Im Übrigen war die für die Hirnforschung äußerst peinliche Willensfreiheitsdiskussion der letzten zwanzig bis dreißig Jahre das beste Beispiel dafür, dass sich der Mensch auf dieser Ebene noch gar nicht verstehen lässt, wenn das überhaupt jemals der Fall sein wird. Mit historischer Kenntnis, die Degner wiederum für nutzlos hält, hätte man auch gewusst, dass ähnliche Argumente in ähnlicher Weise schon im 19. Jahrhundert angeführt – und überzeugend zurückgewiesen wurden. Führende Hirnforscher haben uns schlicht alten Wein in neuen Schläuchen verkauft. War das nützlich? Vielleicht für ihren Geldbeutel.

Wie erklärt man das Sehen?

Degner versucht sich aber auch selbst in gewagter Weise als Neurophilosoph: Dort nämlich, wo er das Sehen erklärt. Einmal davon abgesehen, dass hier wohl kaum jemand bestreiten würde, dass Wahrnehmungspsychologie und Neurophysiologie dafür die wichtigsten Disziplinen sind, stellt sich die Frage, wie sich diese Beispiele auf das Verstehen des Denkens übertragen lassen. Darum ging es dem Autor doch gerade. Sehen ist etwas Anderes als Denken. Doch die Antwort hierauf bleibt er schuldig.

Stattdessen handelt er sich Probleme ein, wo er beispielsweise behauptet, wir Menschen sähen mit den Augen und hörten mit den Ohren. Man kann wohl mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es sich hier um einen mereologischen Fehlschluss handelt, also um einen Teil-Ganzes-Fehlschluss. Das Sehen ist eine Leistung des ganzen Wahrnehmungsapparats, wenn nicht gar des ganzen Menschen, und nicht nur des Auges. Das Auge selbst “sieht” gar nichts, sondern registriert Lichtreize. Dabei muss man berücksichtigen, dass “registrieren” im vorherigen Satz eine Metapher ist.

Zum Glück haben Wissenschaftler aber das Auge und andere Teile des Wahrnehmungsapparats so gut verstanden, dass wir die Metapher ziemlich gut einlösen können: Bestimmte Lichtreize führen zu bestimmten elektrischen Reizen der Sehsinneszellen, also in Stäbchen, Zäpfchen und ein paar Ganglienzellen.

Dass aber beispielsweise das Farbensehen keine Eigenleistung des Auges und seiner Sinneszellen ist, wissen wir schon deshalb, weil die wahrgenommene Farbe auch von den Farben der Umgebung abhängt und nicht nur von der Wellenlänge des Lichts. Hier kommt es auf höherer Ebene des Gehirns zu einer Integrationsleistung. Wer das noch nicht kennt, der möge selbst im Internet nach Wahrnehmungstäuschungen des Farbensehens suchen. Zwölf faszinierende Beispiele gibt es hier.

Ein noch deutlicheres Beispiel sind sogenannte bistabile Reize: Zeigt man einer Versuchsperson etwa auf dem einen Auge eine rote, auf dem anderen aber eine blaue, sich drehende Scheibe, dann sieht die Person – nach Lehrbuch – immer nur abwechselnd entweder die rote oder die blaue Scheibe. Mir persönlich fällt auch ein diffuser Zwischenzustand auf, doch darum geht es hier nicht. Vielmehr zeigt es, dass obwohl die Augen permanent im degenschen (also falschen) Sinne dasselbe “sehen”, die Person abwechselnd mal das Eine, mal das Andere sieht.

Den argumentatorischen Ast, auf dem er sitzt, sägt Winfried Degen aber nur einige Zeilen später selbst ab, wo er schreibt: “Sehen heißt die Sinnesdaten, die Impulse aus der Netzhaut interpretieren. Und diese Interpretation hängt selbstverständlich von Deiner Erfahrung und Deinen Kenntnissen ab.” Wie bitte, das Auge, von dem es gerade noch hieß, dass es sieht, interpretiert nun auf einmal auch, es hat Erfahrungen und Kenntnisse? Nein, nein und nochmals nein.

Neurophilosophische Fehlschlüsse

Ähnlich schief geht die Empfehlung, die Bedeutung von Aussagen wie “Der Ball ist rund” durch Untersuchungen im Hirnscanner zu erfassen. Der Autor selbst räumt ein, dass jeder Mensch (und jedes Tier, das hierzu in der Lage ist, wie etwa sein Hund) wahrscheinlich andere Erfahrungen von Bällen hat. Das wirft die Frage auf, was uns die Untersuchungen unterschiedlicher Repräsentationen von Bällen in den Gehirnen unterschiedlicher Versuchspersonen über das Wesen von Bällen zeigen soll. Und welche Versuchspersonen repräsentieren einen “Ball an sich”, welche haben ein falsches Ballkonzept? Sind das etwa keine wissenschaftstheoretisch-philosophische Fragen, die der Forschung nutzen?

So ähnlich, wie Degen es vorschlägt, hat das übrigens der renommierte Hirnforscher Semir Zeki vom University College London für das Wesen des Schönen versucht. Ein Unterfangen, das, nebenbei erwähnt, der Autor selbst für ausgeschlossen hält: “…was wir als schön empfinden – darüber wird in der Wissenschaft nicht gesprochen.” Zeki redet in diesem TEDx-Vortrag über die Neurowissenschaft des Schönen ganze dreizehn Minuten über nichts Anderes. Und das ist nicht nur Hobby eines älteren Herrn, sondern basiert auf Publikationen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften.

Die Arbeitsweise dieser Forschung ist aber gerade keine Glanzleistung der Hirnforschung, was meine Psychologiestudierenden im dritten Studienjahr in aller Regel schon ganz gut selbst feststellen können. Wo Degen aber empfiehlt, ein Philosoph, der das Denken erklären will, solle auch ein paar Psychologiekurse besuchen, da kann ich ihm nur zustimmen. Die kann sein Familienangehöriger, der junge S., gerne auch beim nicht mehr ganz so jungen S. belegen, nämlich bei mir. Das geht bis auf Weiteres aber nur in der Stadt G. und nicht in B.

Ich will zum Schluss kommen und muss auch noch das Versprechen des Titels einlösen, warum Philosophie meiner Meinung nach dringender nötig ist denn je. Ich hoffe, dass bis hierhin klar geworden ist, dass Philosophie eine Schulung des kritischen Denkens ist, mit der man die Bedeutung von Wörtern und Aussagen hinterfragen kann; mit der man die Gültigkeit von Argumenten überprüfen kann; dass sie Orientierungswissen geben kann; dass sie uns etwas über die Möglichkeit und Bedingtheit wissenschaftlicher Forschung lehren kann.

Warum die Ethik so wichtig ist

Weiter oben habe ich aber auch einmal kurz die Ethik erwähnt, also die Teildisziplin der Philosophie, die sich mit dem richtigen Handeln beschäftigt. Um den breiten gesellschaftlichen Nutzen dieser Form von Philosophie zu verdeutlichen, will ich der Einfachheit halber den Dieselskandal “Made in Germany”, also die Täuschungen des Volkswagenkonzerns diskutieren. Damit ist weder gesagt, dass nicht auch andere Firmen täuschen, noch, dass alle Mitarbeiter von Volkswagen täuschen würden.

Was ich an diesem Skandal psychologisch so interessant finde, ist die täuschende Intelligenz, vielleicht könnte man auch sagen: Täuschungsintelligenz, die Volkswagen in manche seiner Autos gebaut hat. Die im Abgastest niedrigeren Messwerte wurden ja dadurch erzeugt, dass das Auto “erkannte”, dass es sich in einer Testsituation befand. Das konnte natürlich nur deshalb gelingen, weil diese gesetzlich reguliert, also hinreichend standardisiert ist. In dieser Situation verhielt sich das Auto dann anders als auf der Straße, sodass die Messwerte zwar niedriger ausfielen aber nicht mehr realistisch waren.

Es geht nun nicht darum, dass im vorherigen Absatz Metaphern vorkamen. Autos können nichts erkennen und ob sie sich irgendwie verhalten, das ist auch noch eine offene Frage. Mir geht es darum, dass es sich hier um eine Täuschung höherer Ordnung handelte: Es wurden nicht nur irgendwelche Messwerte gefälscht, sondern die Autos wurden so programmiert, dass das Täuschungsprogramm zur rechten Zeit aktiviert wurde.

Natürlich steckt hinter diesen Vorgängen menschliche Intelligenz: Es muss Manager gegeben haben, wahrscheinlich mit Kenntnissen aus der Betriebswirtschaftslehre, die die Täuschung im Interesse der Gewinnerzielung entschieden haben. Und es muss Natur- oder Ingenieurwissenschaftler gegeben haben, also Angehörige der laut Degen so “nützlichen” Klasse, die die Täuschung so implementiert haben, dass sie funktionierte und über Jahre hinweg nicht auffiel. Bis irgendwelchen Prüfern dann doch einmal Unregelmäßigkeiten auffielen, die die Täuscher nicht vorhergesehen hatten.

Diese Angehörigen des Volkswagenkonzerns wussten während der gesamten Planungs- und Ausführungszeit und natürlich auch die ganze Zeit danach, dass sie nicht nur ihre zukünftigen Kunden, sondern auch ihre Kollegen täuschten und belogen. Die Kollegen, die die angeblich sauberen Dieselfahrzeuge mit Stolz zusammenbauen und schließlich verkaufen.

Die Täuscher wussten zudem oder mussten zumindest wissen, dass dem Vertrauen und Wert des Konzerns großer Schaden zugefügt würde, sobald die Sache auffliegt; dass daran Arbeitsstellen und Existenzen mutmaßlich tausender Menschen hingen, von den Gesundheitsfolgen durch die Schadstoffbelastung ganz zu schweigen.

Die verantwortlichen Personen wussten also, dass sie täuschen, und dass dies gravierende Folgen haben würde. Dennoch taten sie es.

Mein abschließender Punkt ist jetzt, dass diese Form der Täuschung vom Standpunkt der Ethik aus, ganz gleich, welche etablierte ethische Theorie man heranzieht, ein völlig inakzeptabler Vorgang ist. Es ist etwa schwer vorstellbar, dass ein Vertreter der schon in der Antike beliebten Tugendethik, die Falschheit dieses Handelns verstünde und es dennoch täte. Ein tapferer Tugendethiker bei Volkswagen hätte vielmehr den ganzen Beschiss auffliegen lassen, zumindest anonym. Mit Kants strenger Pflichtethik, für die Lügen ein absolutes No Go ist, brauchen wir hier gar nicht erst zu argumentieren.

Doch selbst ein plumper philosophischer Utilitarismus, der besser ist, als die alltagssprachliche Verwendung des Wortes vermuten lässt, könnte sich nicht zur Rechtfertigung dieser Täuschung heranziehen lassen: Denn die negativen Folgen für die Allgemeinheit stehen in keinem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen. Das Handeln der Täuscher war keine utilitaristische Tat, sondern eine rein egoistische. Und reiner Egoismus ist das Gegenteil von Ethik.

Worauf die Wirtschaft hinausläuft

Nun hatten wir in den letzten Jahrzehnten schon so viele Skandale und Krisen, dass die Wirtschaft, auch die deutsche Wirtschaft, der Winfried Degen so das Wort redet, sich ihre eigene Lösung ausdenken durfte: Sie heißt nicht Ethik, sondern Compliance. Ausgedacht haben sie sich zweifellos gut bezahlte Personen, Personen also mit einer “nützlichen” Ausbildung. Und Compliance ist, das hat der frühere Bundesrichter Thomas Fischer einmal sehr schön dargelegt, nicht Ethik. Sie ist vielmehr die Kunst, im Wettbewerb so zu täuschen, dass man dafür hinterher nicht belangt werden kann.

Zweifellos hatte auch der Volkswagenkonzern eine gut funktionierende Compliance-Abteilung.

Das war jetzt nur ein Beispiel für die Funktionsweise der Wirtschaft, an deren Wohlergehen sich laut Degen junge Menschen heute bei der Studienwahl orientieren sollen. Allgemeiner formuliert ist die Moral meiner Geschichte aber: Macht nur weiter so, ihr gut bezahlten Betriebswirte, Ingenieure und Techniker, mit der wettbewerbs- und gewinngetriebenen Ausbeutung der Rohstoffe, Natur-, Tier- und Menschenwelt. Irgendwann gibt es dann schlicht keine Probleme mehr zu lösen, weil es dann keine lebensfähige Welt mehr gibt.

Wer jetzt noch nicht verstanden hat, warum Philosophie heute dringender denn je ist, bei dem weiß ich auch nicht mehr weiter. Ich versuche es aber gerne noch einmal persönlich im Diskussionsforum.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint parallel auf Telepolis – Magazin für Netzkultur.


Nota. - Dazu möchte ich zunächt einmal nur dies anmerken: Sich über die Ethik ein Bild zu machen anhand der Philosopiegeschichte - anhand der Geschichte von den vergeblichen Versuchen, sittliche Entscheidungen aus logischen Grundsätzen abzuleiten -, ist höchst empfehlenswert. Es kann nämlich nur zu der Erkenntnis führen, dass Ethik keine Regelwissenschaft ist und dass Moralität sich in einem einzigen Satz zusammen- fassen lässt: Handle so, wie es dir dein Gewissen vorschreibt, dann handelst du recht. Das ist das Resultat der Philosophie - nämlich der kritischen Philosophie.
JE

 

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