Large Hadron Collider (LHC) am Cern
aus derStandard.at,17. April 2018
Teilchenphysik: Der
schwere Abschied von der Supersymmetrie
Die Supersymmetrie wäre eine höchst elegante und "schöne" Erweiterung
des klassischen Standardmodells, aber keine ihrer Vorhersagen konnte
bisher bestätigt werden
von Florian Freistetter
Bisher habe ich mich in dieser Serie mit wissenschaftlichen Irrtümern
der Vergangenheit beschäftigt. Anders ist es ja auch nicht möglich, denn
niemand kann in die Zukunft schauen. Aber angesichts der Vergangenheit
ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass wir auch jetzt dabei sind,
Fehler zu machen, die erst in der Zukunft aufgedeckt werden. Worum es
sich dabei handelt, werden wir erst erfahren – aber es braucht nicht
viel Spekulation, um zu vermuten, dass einige dieser Fehler im Bereich
der Teilchenphysik stattfinden werden.
Im Juli 2008 habe ich die jährlich stattfindenden "Nobel Laureate
Meetings" in Lindau am Bodensee besucht. Damals war man gerade dabei,
die Konstruktionsarbeiten am großen Teilchenbeschleuniger LHC am Cern
abzuschließen, und eine Gruppe von Physik-Nobelpreisträgern gab eine
Pressekonferenz, um zu erklären, was man vom neuen Instrument erwarten
könne. Sie alle waren sich einig, dass man damit früher oder später das
Higgs-Teilchen finden werde.
Das ist im Juli 2012 dann ja auch tatsächlich passiert: Das in den
1960ern theoretisch vorhergesagte Teilchen, das im sogenannten
"Standardmodell der Teilchenphysik" für die unterschiedlichen Massen der
Grundbestandteile der Materie verantwortlich ist, wurde experimentell
nachgewiesen.
Neue Physik gefragt
Die Vorhersage wurde bestätigt – und seitdem hat man am LHC jede Menge
weitere interessante Entdeckungen gemacht. Aber keine davon ging über
das Standardmodell hinaus. Bei der Pressekonferenz im Jahr 2008 drückte
der Physiker Martin Veltman seine Hoffnung aus, der LHC werde etwas
finden, mit dem niemand rechnet und das nicht den Vorhersagen des
Standardmodells entspricht. Denn das würde zwangsläufig zur Entwicklung
ganz neuer Theorien und Modelle führen.
Hypothesen, die über das Standardmodell hinausgehen, gibt es natürlich
jede Menge. Die Forscher wissen, dass sie nötig sind, da mit den
gegenwärtigen Theorien viele Phänomene (zum Beispiel die Natur der
dunklen Materie oder die Masse von Neutrinos) nicht erklärt werden
können. Es braucht eine neue Physik, aber niemand weiß genau, wo sie zu
finden ist. Vom LHC erhoffte man sich Ergebnisse, die die Richtung
weisen, in die man zu gehen hat. Genau das ist aber nicht passiert.
Alles, was dort bis jetzt entdeckt wurde, entspricht genau dem, was vom
Standardmodell zu erwarten war.
Elegante Hypothese
Besonders große Hoffnungen hatten die Teilchenphysiker in die
"Supersymmetrie" gesetzt. Bei der Pressekonferenz in Lindau waren viele
Nobelpreisträger davon überzeugt, dass man am LHC supersym- metrische
Teilchen entdecken würde, noch lange bevor das Higgs-Teilchen
nachgewiesen werden könne. Die Idee der Supersymmetrie existiert seit
den 1960er-Jahren und besagt, dass alle bisher bekannten
Elementarteilchen jeweils ein noch unentdecktes Partnerteilchen
besitzen. Das Prinzip lässt sich mit der Beziehung zwischen Materie und
Antimaterie vergleichen, nur dass sich die Teilchen hier nicht durch
ihre elektrische Ladung unterscheiden, sondern durch schwer zu
veranschaulichende Quanteneigenschaften.
Würde es die supersymmetrischen Teilchen geben, ließen sich damit einige
Probleme lösen. Man wüsste, in welche Richtung man neue Theorien zur
Teilchenphysik weiterentwickeln könnte. Man erhielte Hinweise, ob und
wie sich die Gravitation mit der Quantenmechanik vereinen lässt, könnte
das Problem der dunklen Materie lösen – und so weiter. Die
Supersymmetrie wäre eine höchst elegante und "schöne" Erweiterung des
klassischen Standardmodells – und genau deswegen fällt es so vielen
Wissenschaftern auch so schwer, diese Idee aufzugeben.
"Schöne" und "hässliche" Theorien
Mangels konkreter Hinweise aus der Beobachtung der Natur orientiert man
sich in der theoretischen Physik oft an abstrakten Prinzipien, die
eigentlich eher philosophisch und nicht wissenschaftlich begründet sind.
Dazu gehört auch die "Natürlichkeit". Das bedeutet in diesem Fall, dass
eine über das Standardmodell hinausgehende Theorie – vereinfacht gesagt
– nur von Parametern bestimmt werden sollte, die die gleiche
Größenordnung haben. Die Zahlen, die das fundamentale Gerüst der Theorie
bestimmen, sollen nicht beliebig groß oder klein werden, sondern alle
"vernünftige" beziehungsweise "schöne" Werte haben.
In der Vergangenheit sind Physiker (und Mathematiker) mit diesem Prinzip
oft erfolgreich gewesen. "Schöne" Theorien haben sich oft als korrekt
herausgestellt, und wenn irgendwo "hässliche" Eigenschaften aufgetaucht
sind, war das oft ein Zeichen dafür, dass irgendwas nicht stimmte (ein
Beispiel dafür ist die "hässliche" Epizykeltheorie der Planetenbewegung
aus der Antike, die durch das "schönere" heliozentri- sche Modell des
Sonnensystems der Neuzeit ersetzt wurde). Auch die Supersymmetrie hätte
das Potenzial, eine "schöne" neue Theorie der Teilchenphysik zu sein.
Nur konnte bis jetzt keine ihrer Vorhersagen bestätigt werden. Die
Teilchen, deren Existenz sie vorhersagt, hätte der LHC eigentlich schon
längst entdecken müssen. Natürlich kann man die Hypothesen der
Super- symmetrie modifizieren. Man kann sie auf andere Art und Weise
"schön" machen und erhält dann Vorhersagen über Teilchen, zu deren
Nachweis nur größere Beschleuniger als der LHC in der Lage sind. So kann
man die Idee der "Natürlichkeit" retten, die ausbleibenden Entdeckungen
der Gegenwart rechtfertigen und die Bestätigung der Hypothese in die
Zukunft verlagern.
Wider die "Natürlichkeit"
Und vielleicht funktioniert das ja auch. Vielleicht wird der LHC weiter
nichts anderes tun, als das zu bestätigen, was wir wissen. Das Universum
ist nicht verpflichtet, auf unseren technischen Fortschritt zu achten
und uns mit jedem neuen Instrument auch neue Erkenntnisse zu liefern
(selbst wenn es das bis jetzt immer getan hat). Vielleicht brauchen wir
diesmal eben wirklich ganz andere Instrumente, wenn wir etwas Neues
entdecken wollen. Vielleicht müssen wir uns aber auch von der Idee der
"Natürlichkeit" verabschieden und akzeptieren, dass die Natur manchmal
eben nicht "schön" ist. Vielleicht müssen wir auch in den "hässlichen"
Ecken nach neuen Theorien suchen.
Die theoretische Physikerin und Wissenschaftsautorin Sabine Hossenfelder
hat die Lage einmal so zusammengefasst: "We've maneuvered ourselves
into a dead end by relying on aesthetic guidance to decide which
experiments are the most promising."
Wenn die Idee der "Natürlichkeit" tatsächlich zu den zukünftigen
Irrtümern der Wissenschaft gehört, dann sollten wir uns möglichst
schnell daranmachen, einen Weg aus dieser Sackgasse zu finden.
Nota. - Ein Triumph der Wissenschaft ist es jedes Mal, wenn eine neue Erkenntnis gewonnen wird. Das kann auch die Erkentnis sein, dass diese oder jene Hypothese nicht zutrifft. Auf dem Schlauch steht die Wissenschnaft erst, wenn sie keine Hypothesen mehr entwickelt, die widerlegbar sind.
Die Ausschau nach Schönheit ist selber eine schöne Methode und ist daher so fruchtbar: Sie regt an. Doch Schönheit ist eine anschaulische Qualität und gehört zur Einbildungskraft. Das Urteil über die (gedankli- che) Brauchbarkeit fällt aber in die Reflexion, und deren Methode ist das diskursive Denken, und da gibt es keine ästhetischen Qualitäten mehr.
JE
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