Freitag, 20. April 2018

Kultur und natürliche Selektion.

Kinder von Seenomaden (Moken)
aus Die Presse, Wien,

Wie Kultur die Gene prägen kann
Seenomaden in Südostasien tauchen oft und lang. Das hat über die Jahrhunderte ihre genetische Ausstattung verändert – und ihre Milzen vergrößert.


Die letzten Seenomaden: Auf ihren traditionellen Booten mit bunten Segeln kreuzen die Bajau auf den Meeren zwischen Indonesien, Malaysien und den Philippinen, fangen und verkaufen Fische und Meeresfrüchte. In den letzten Jahrzehnten ist ein Teil dieser Menschen, auch auf Druck der indonesischen Behörden, sesshaft geworden, meist in Stelzenhäusern am Wasser. Doch ihrer spezifischen Jagdmethode sind die meisten Bajau treu geblieben: Sie tauchen tief und lang, bis zu fünf Minuten lang, ausgestattet mit Harpune und Muschelmesser, aber ohne Atemgerät.

Wie schaffen sie das? Ist es nur Übung, dass sie so lang den Atem anhalten können? Nein. Das sagt eine in Cell (19. 4.) erschienene Arbeit über „Physiological and Genetic Adaptions to Diving in Sea Nomads“ von Forschern um Melissa Ilardo (Uni Kopenhagen). Von Untersuchungen von Ama, japanischen Perlentauchern, wussten sie bereits, dass die Milz bei diesen physiologischen Extremleistungen eine Rolle spielen kann.

Extradosis roter Blutkörperchen

Die Milz, das Organ, über dessen Funktion die meisten Laien gar nichts – und die meisten Mediziner relativ wenig – wissen (siehe Kasten), hat nämlich die Fähigkeit, sich zusammenzuziehen und dadurch eine Extraportion roter Blutkörperchen – und damit Sauerstoff – ins Blut zu schießen. Das kann beim Tauchen ohne Atemgerät helfen. Und es liegt nahe, dass diese Kontraktion umso effektiver ist, je größer die Milz ist.

So untersuchten Ilardo und Kollegen zunächst mittels Ultraschall die Milzen von Bajau – die sich gern untersuchen ließen, wie Ilardo erzählt: „Sie sind Forscher“, sagt sie, „sie sind grundsätzlich neugierig und wollen mehr über die Welt wissen, auch über ihre eigene Biologie.“ Ergebnis: Die Bajau haben im Durchschnitt signifikant größere Milzen als ihre nächsten Nachbarn, die sesshaften, nicht tauchenden Saluan.

Liegt das am Training? Wächst die Milz mit den Anforderungen wie ein Muskel? Das könnte natürlich sein. Der Unterschied liegt aber – zumindest auch – an genetischen Faktoren, wie die Forscher um Ilardo im nächsten Schritt feststellten, durch systematische Vergleiche von frisch sequenzierten Genomen von Bajau- und Saluan-Individuen sowie bereits im „Pan-Asian Genome Project“ erzielten DNA-Daten. Sie fanden 25 Stellen im Genom, an denen sich die Bajau signifikant von den Saluan und den Han-Chinesen unterscheiden. Darunter ist ein Gen namens PDE10A, das in der Signalübertragung eine Rolle spielt und vor allem in der Schilddrüse exprimiert wird. Wahrscheinlich bewirken gesteigerte Konzentrationen an Schilddrüsenhormonen die Vergrößerung der Milz, meinen die Forscher.

Eine zweite signifikant unterschiedliche Stelle liegt bei BDKRB2, dem einzigen Gen, von dem man bisher weiß, dass es mit dem Tauchreflex zu tun hat, der darin besteht, dass beim Eintauchen in Wasser die Atmung zum Stillstand gebracht, der Herzschlag verlangsamt und das Blut in der Leibesmitte konzentriert wird.

An diesen beiden Stellen im Genom hat offensichtlich bei den Bajau natürliche Selektion in Bezug aufs Tauchen stattgefunden, sprich: Die Genvarianten, die sich bei ihnen durchgesetzt haben, haben sich deshalb durchgesetzt, weil sie das Tauchen erleichtern. Das funktioniert so: Individuen, die diese Genvarianten trugen, konnten besser tauchen – und hatten damit bessere Lebens- und Fortpflanzungschancen, womit in der nächsten Generation mehr Individuen diese Genvarianten hatten.

Ilardo spricht von einer „sehr aufregenden Entdeckung“, und tatsächlich: Es gibt bisher nur wenige Beispiele von natürlicher Selektion in einer bestimmten Population, gelenkt durch die Lebensweise und Kultur dieser Population. Ein anderes wären die Menschen in Tibet, die sich an die dünne Luft im Hochland angepasst haben. Ähnliche Selektion hat einst bewirkt, dass heute die meisten Europäer – im Gegensatz zu den Chinesen – Alkohol recht gut vertragen und auch als Erwachsene Milch trinken können.

Die Milz heißt auf Englisch „spleen“, davon kommt der Spleen: Man dachte einst, in ihr sitze die (üble) Laune. Tatsächlich hat sie mit Blut und Immunsystem zu tun. In ihr werden manche weiße Blutkörperchen (Lymphozyten) vermehrt und andere (Monozyten) gespeichert, rote Blutkörperchen werden

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