aus Die Presse, Wien, 22.04.2018 um 12:04
Aufruhr im weiten Land der Seele
Sigmund
Freud duldet keinen Widerspruch. Als Erster wagt es Alfred Adler, der
Begründer der Individualpsychologie, seinem Mentor öffentlich zu
widersprechen. Er bestreitet Freuds These, dass Sexualität Ursprung
jeder Neurose sei, und geht in der Seelenforschung völlig neue Wege.
von Michael Horowitz
Bis zu seinem vierten Lebensjahr kann der Bub nicht laufen. Der
scheue, kränkliche Alfred leidet an chronischer Rachitis. Als Zweites
von sieben Kindern wächst der Liebling des Vaters, eines
Getreidehänd- lers, im äußeren Teil der Mariahilfer Straße auf. Mit fünf
wäre er fast an einer Lungenentzündung gestor- ben. Dieses dramatische
Erlebnis – aber auch der Tod des jüngeren Bruders – hat vermutlich
seinen Wunsch, Schwäche in Effizienz umzusetzen und Arzt zu werden,
bestimmt.
Alfred Adler, ursprünglich Augenarzt und Internist, wendet sich
später unter dem Einfluss Sigmund Freuds der Seelenheilkunde zu. Er geht
davon aus, dass eine Organschwäche ein Minderwertigkeitsgefühl auslöst:
Den Versuch, Unterlegenheit – ausgehend von körperlichen
Beeinträchtigungen oder sozialen Konflikten – zu kompensieren, sieht er
als Ursache von Neurosen an. Wo Freud Sexualität als Ursprung erkennt,
ortet Adler ein Minderwertigkeitsgefühl. „Neurosenprophylaxe“ nennt Adler, der Begründer der
revolutionären Individualpsychologie, das körperlich und geistig gesunde
Aufwachsen eines Kindes. Die eigene Kindheit ist die Wurzel für seinen
völlig neuen Weg der Seelenforschung.
„Glauben Sie, dass es ein so
großes Vergnügen für mich ist, mein ganzes Leben lang in Ihrem Schatten
zu stehen“, meint Alfred Adler zu Sigmund Freud. Aus früher
Freundschaft wird bald wissenschaftliche Gegnerschaft, die schließlich
zum totalen Bruch führt. Bereits im Herbst 1902 hat Freud den fast
fünfzehn Jahre jüngeren Adler per Postkarte zu seiner legendären
Psychologischen Mittwochgesellschaft eingeladen. Um 20.30 Uhr, Berggasse
19.
Aus diesem von Zigarrenrauchschwaden durchzogenen Jour fixe
im Wartezimmer der Praxis Freuds entstand später die Psychoanalytische
Vereinigung, zu dessen Obmann Adler gewählt wurde. Sein Vortrag über die
„Psychologie des Marxismus“ im März 1909 konnte jedoch den Bourgeois
Freud überhaupt nicht überzeugen.
Knapp zehn Jahre nach dem ersten
Besuch in der Berggasse kommt es zum definitiven Zerwürfnis, zum
Vatermord: Als Erster wagt es Alfred Adler nach hitzigen Kontroversen,
sich gegen Sigmund Freud, den Mentor, der keinen Widerspruch duldet,
öffentlich aufzulehnen. Freud beschimpft den „vor Ehrgeiz wahnsinnigen“
Adler, der an einem „paranoiden Verfolgungswahn leide“. Dieser hat
hingegen längst genug vom „Freud'schen Hühnerstall und seinem Gegacker“,
gründet gemeinsam mit neun weiteren Freud-Epigonen den Verein für freie
psychoanalytische Forschung und entwickelt eine von Freuds
Psychoanalyse abweichende, eigenständige Lehre: Anders als Freud, der
glaubt, dass „der Mensch nicht Herr im eigenen Haus“ sei, sondern ein
Getriebener seines Unterbewussten, meint Adler, jeder Mensch könne sein
Leben selbst gestalten, denn das „menschliche Seelenleben ist kein Sein,
sondern ein Werden“. Er ist überzeugt, bereits als Kind strebe man nach
Anerkennung und sozialer Resonanz, um sich von seinem geringen
Selbstwertgefühl zu lösen. Wenn dies nicht gelänge, entstünde der
Nährboden für psychische Störungen.
Während seines Studiums wird
Adler Mitglied einer sozialistischen Studentengruppe und verliebt sich
in Raissa Epstein, eine radikale, revolutionäre Russin, die zum Studium
nach Wien gekommen ist. 1897 heiraten die beiden, von ihren vier Kindern
werden zwei Psychiater. Alfreds Frau, die kommunistische Aktivistin,
spielt mit dem 1908 nach Wien ins Exil geflohenen Leo Trotzki
leidenschaftlich Schach, sonntags trifft man den Revolutionär, dem das
Leben im bürgerlichen Wien sehr gut gefällt, im Stadtpark, oder man
unternimmt mit den Kindern und Trotzki Ausflüge in die Hinterbrühl.
Adler
etabliert seine Arztpraxis gegenüber vom Wurstelprater, bald zählen
Varietékünstler und Zirkusartisten zu seinen Patienten, ihre
außergewöhnlichen Fähigkeiten eröffnen ihm Einsichten in „organische
Minderwertigkeit und ihre Kompensationen“.
Im Zentrum seiner
Arbeit stehen oft gesellschaftlich Benachteiligte, die Reformen im
Erziehungs- und Gesundheitswesen des Roten Wien der 1920er-Jahre sind
eng mit Alfred Adler verbunden. Der Nervenarzt will nicht nur heilen,
sondern auch vorbeugen. Er hält pädagogische Vorträge, berät Politiker
wie den Schulreformer Glöckel und gründet Beratungsstellen für Lehrer:
Die „Erziehung zum Erzieher“ ist für ihn eine der wesentlichsten
Voraussetzungen der Psychohygiene. Er versucht, antiautoritäre Förderung
des Kindes zu vermitteln. Voller Verständnis, Liebe und ohne
körperliche Züchtigung – vor 100 Jahren alles andere als
selbstverständlich.
Alfred Adler, selbst Idealtyp eines
engagierten Pädagogen, weiß, dass man auf Familienverhältnisse kaum
Einfluss nehmen kann, jedoch auf das schulische Umfeld umso mehr: „Durch
die Schule konnte ich Hunderte von Kindern auf einmal erreichen.“
Bei
rund einem Drittel aller Patienten finden Ärzte keine Ursachen für ihre
Beschwerden. Oft stecken psychische Störungen dahinter. Erregung,
Angst, Schrecken – seelische Erschütterungen dringen über die
Nervenbahnen zu den Organen. Es treten Verkrampfungen und sogar
Lähmungen auf, die sich zu chronischen Krankheiten entwickeln können.
Alfred Adler, der den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist
sieht, erkennt die wesentliche Rolle des vegetativen Systems und ist
einer der Pioniere der modernen Psychosomatik.
Bald sind seine
neuen Wege in der Seelenforschung auch außerhalb seiner Heimat
anerkannt. Ab 1926 hält Adler in den Vereinigten Staaten Vorlesungen.
Seine realitätsnahen, brillant interpretierten Ideen finden großen
Anklang. 1934 übersiedelt er mit seiner Familie endgültig nach New York,
bezieht im legendären Hotel Gramercy Park Dauerquartier und behandelt
dort auch seine Patienten.
Am 28. Mai 1937 bricht der 67-Jährige
in Schottland auf dem Weg von seinem Hotel zur Universität in Aberdeen,
wo er eine Vortragsreihe beenden will, nach einem Herzinfarkt zusammen.
Adlers letztes Wort ist „Kurt“ – der Name seines einzigen Sohnes.
Sigmund
Freud bleibt auch nach der Todesnachricht Alfred Adlers unversöhnlich.
Mehr als 25 Jahre sind seit dem Zerwürfnis der beiden vergangen: „Für
einen Judenbub aus einer Wiener Vorstadt“, schreibt er an den
Schriftsteller Arnold Zweig nach Palästina, „ist ein Tod in Aberdeen
schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Beweis dafür, wie weit er
es gebracht hat. Tatsächlich hat ihn die Welt reich dafür belohnt, daß
er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat.“
Nota. - Der letzte Satz erhellt, wer von den beiden der Paranoiker war. Freud hatte Adler für seinen Schüler gehalten und betrachtete seine Abkehr als Verrat. Tatsächlich hatte Adler längst eigene psychiatrische Vor- stellungen entwickelt, als er in einem Leserbrief Freud Traumdeutung verteidigte - und deren Grundidee, seelische Leiden aus Konflikten zu erklären, die dem Individuum als solche gar nicht bewusst sind. So trafen sich die beiden und verbündeten sich eine zeitlang.
Doch Freud wollte die Seelenkunde als Naturwissenschaft betreiben. Der Grundstein seines System war die bezeichnenderweise so genannte Trieblehre. Anfangs folgte er dem mechanischen Modell von 'Kräften' und von Druck und Stoß, in den zwanziger Jahren näherte er sich unter vitalistischen Einflüssen der Darwin- schen Evolutionslehre und einem biologischen Modell. Jede der vielen Veränderungen und Korrekturen an seinem System beruhte ausschließlich auf seiner persönlichen Eingebung, er betrachtet sich ausdrücklich nicht als Erfinder, sondern als Entdecker der Psychoanalyse. Wissenschaftstheoretische oder gar wissens- logische Erwägungen waren ihm ganz fremd.
Anders Alfred Adler. Auf dem linken Flügel der sozialistischen Partei stehend, gehörte er zu den von Kant beeinflussten Austromarxisten und hatte ein grundsätzlich kritisches Verhältnis zu den Wissenschaften. Insbesonders die Philosophie des Als-ob des deutschen Kant-Forschers Hans Vaihinger hat sein Wissen- schaftsverständnis geprägt. Metaphysische Versuchungen kannte er gar nicht, er betrachtete die wissens- chaftlichen Theoriebildungen streng instrumental: als Werkzeuge, die man beiseite legt, sobald man selber sehen und Hand anlegen kann. 'Wie ein Geländer, an dem man sich im Nebel vorantastet, und das man loslässt, sobald sich der Dunst hebt.' Sein. Lieblingsspruch war: "Alles kann auch ganz anders sein."
*
Adlers Frau Raissa war im übrigen die erste, die sich 1928 außerhalb der Sowjetunion zu Trotzki und der Linken Opposition bekannte, und ist eigentlich die Mutter des "Trotzkismus".
Zu Freud noch dies: Er erklärte die Ächtung der Psychoanalyse in der Sowjetunion mit dem Einfluss Trotzkis, der im Interesse Adlers handle - zu einem Zeitpunkt, als Trotzki, wie der Rest der Welt wusste, längst politisch entmachtet war. (Tatsächlich hatte er sich vorher für die Betätigungsfreiheit der dortigen psychoalaytischen Initiativen ausgesprochen.)
JE
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