Kinder von Seenomaden (Moken)
aus Die Presse, Wien, 19.04.2018
Wie Kultur die Gene prägen kann
Seenomaden
in Südostasien tauchen oft und lang. Das hat über die Jahrhunderte ihre
genetische Ausstattung verändert – und ihre Milzen vergrößert.
Die letzten Seenomaden: Auf ihren traditionellen Booten mit bunten
Segeln kreuzen die Bajau auf den Meeren zwischen Indonesien, Malaysien
und den Philippinen, fangen und verkaufen Fische und Meeresfrüchte. In
den letzten Jahrzehnten ist ein Teil dieser Menschen, auch auf Druck der
indonesischen Behörden, sesshaft geworden, meist in Stelzenhäusern am
Wasser. Doch ihrer spezifischen Jagdmethode sind die meisten Bajau treu
geblieben: Sie tauchen tief und lang, bis zu fünf Minuten lang,
ausgestattet mit Harpune und Muschelmesser, aber ohne Atemgerät.
Wie schaffen sie das? Ist es nur Übung, dass sie so lang den Atem
anhalten können? Nein. Das sagt eine in Cell (19. 4.) erschienene Arbeit
über „Physiological and Genetic Adaptions to Diving in Sea Nomads“ von
Forschern um Melissa Ilardo (Uni Kopenhagen). Von Untersuchungen von
Ama, japanischen Perlentauchern, wussten sie bereits, dass die Milz bei
diesen physiologischen Extremleistungen eine Rolle spielen kann.
Extradosis roter Blutkörperchen
Die Milz, das Organ, über dessen Funktion die meisten Laien gar
nichts – und die meisten Mediziner relativ wenig – wissen (siehe
Kasten), hat nämlich die Fähigkeit, sich zusammenzuziehen und dadurch
eine Extraportion roter Blutkörperchen – und damit Sauerstoff – ins Blut
zu schießen. Das kann beim Tauchen ohne Atemgerät helfen. Und es liegt
nahe, dass diese Kontraktion umso effektiver ist, je größer die Milz
ist.
So untersuchten Ilardo und Kollegen zunächst mittels
Ultraschall die Milzen von Bajau – die sich gern untersuchen ließen, wie
Ilardo erzählt: „Sie sind Forscher“, sagt sie, „sie sind grundsätzlich
neugierig und wollen mehr über die Welt wissen, auch über ihre eigene
Biologie.“ Ergebnis: Die Bajau haben im Durchschnitt signifikant größere
Milzen als ihre nächsten Nachbarn, die sesshaften, nicht tauchenden
Saluan.
Liegt das am Training? Wächst die Milz mit den
Anforderungen wie ein Muskel? Das könnte natürlich sein. Der Unterschied
liegt aber – zumindest auch – an genetischen Faktoren, wie die Forscher
um Ilardo im nächsten Schritt feststellten, durch systematische
Vergleiche von frisch sequenzierten Genomen von Bajau- und
Saluan-Individuen sowie bereits im „Pan-Asian Genome Project“ erzielten
DNA-Daten. Sie fanden 25 Stellen im Genom, an denen sich die Bajau
signifikant von den Saluan und den Han-Chinesen unterscheiden. Darunter
ist ein Gen namens PDE10A, das in der Signalübertragung eine Rolle
spielt und vor allem in der Schilddrüse exprimiert wird. Wahrscheinlich
bewirken gesteigerte Konzentrationen an Schilddrüsenhormonen die
Vergrößerung der Milz, meinen die Forscher.
Eine zweite
signifikant unterschiedliche Stelle liegt bei BDKRB2, dem einzigen Gen,
von dem man bisher weiß, dass es mit dem Tauchreflex zu tun hat, der
darin besteht, dass beim Eintauchen in Wasser die Atmung zum Stillstand
gebracht, der Herzschlag verlangsamt und das Blut in der Leibesmitte
konzentriert wird.
An diesen beiden Stellen im Genom hat
offensichtlich bei den Bajau natürliche Selektion in Bezug aufs Tauchen
stattgefunden, sprich: Die Genvarianten, die sich bei ihnen durchgesetzt
haben, haben sich deshalb durchgesetzt, weil sie das Tauchen
erleichtern. Das funktioniert so: Individuen, die diese Genvarianten
trugen, konnten besser tauchen – und hatten damit bessere Lebens- und
Fortpflanzungschancen, womit in der nächsten Generation mehr Individuen
diese Genvarianten hatten.
Ilardo spricht von einer „sehr
aufregenden Entdeckung“, und tatsächlich: Es gibt bisher nur wenige
Beispiele von natürlicher Selektion in einer bestimmten Population,
gelenkt durch die Lebensweise und Kultur dieser Population. Ein anderes
wären die Menschen in Tibet, die sich an die dünne Luft im Hochland
angepasst haben. Ähnliche Selektion hat einst bewirkt, dass heute die
meisten Europäer – im Gegensatz zu den Chinesen – Alkohol recht gut
vertragen und auch als Erwachsene Milch trinken können.
Die Milz heißt auf Englisch „spleen“, davon kommt der
Spleen: Man dachte einst, in ihr sitze die (üble) Laune. Tatsächlich hat
sie mit Blut und Immunsystem zu tun. In ihr werden manche weiße
Blutkörperchen (Lymphozyten) vermehrt und andere (Monozyten)
gespeichert, rote Blutkörperchen werden