aus Tagesspiegel.de, 1. 7. 2017
Vergessen will gelernt sein
Löschtaste im Hirn
Paradoxer Effekt: Damit das Gedächtnis richtig funktioniert, muss es zunächst vergessen.
von Hartmut Wewetzer
Über ein schlechtes Gedächtnis musste sich Solomon Schereschewski zeit seines Lebens nicht beklagen. Der Russe, Jahrgang 1886, besaß eine phänomenale Merkfähigkeit. Der Journalist prägte sich einmal gehörte Ansprachen Wort für Wort ein, ebenso wie Formeln und Zahlentafeln oder Texte in fremden Sprachen. Einfach alles, was man ihm vorlegte. Ein Traum? Eher ein Albtraum.
Schereschewski konnte nicht vergessen, und das wurde für ihn zum Fluch. Er wurde von Details seiner Erinnerungen regelrecht überschwemmt, von einer Lawine der Banalitäten am Denken gehindert. Ungefähr so, als wenn wir jederzeit rekapitulieren könnten oder müssten, wo wir unser Auto oder Fahrrad in den letzten zwei Jahren abgestellt haben, welches Wetter vor 71 Tagen herrschte und was wir vor 28 Tagen zum Frühstück hatten.
Wer im Alltag bestehen will, muss Unwichtiges tilgen
Eine furchtbare Vorstellung! Das bedeutet im Umkehrschluss: Um im Alltag zu bestehen, muss man ständig Unwichtiges vergessen. Mehr noch: Die Löschtaste im Gehirn sorgt dafür, dass man geistig auf der Höhe bleibt.
Für die Hirnforscher Blake Richards und Paul Frankland von der Universität Toronto ist inzwischen gut belegt, dass Vergessen genauso wichtig für unser Gedächtnis ist wie Erinnern. „Wir haben etliche wissenschaftliche Belege gefunden, dass es Mechanismen für Gedächtnisverlust gibt und dass diese sich von denen unterscheiden, die am Speichern von Information beteiligt sind“, sagte Frankland laut einer Pressemitteilung. Im Fachblatt „Neuron“ breiten die beiden Forscher ihre These aus, dass Merken und Vergessen notwendige Pole eines intakten Gedächtnisses sind.
Warum muss das Gehirn vergessen? Um Platz für neue Erinnerungen zu schaffen, lautet eine intuitive Erklärung. Doch sie stimmt nicht, wie die Wissenschaftler ausführen. Das Gehirn besitzt 80 bis 90 Milliarden Nervenzellen. Wenn man nur ein Zehntel von ihnen für das Speichern persönlicher Erlebnisse reservieren würde, könnte man eine Milliarde dieser Episoden „abheften“, bei sparsamem Speichern sogar weitaus mehr.
Vergessen ist also kein Problem mangelnden Speicherplatzes.
Die Vergangenheit darf nicht zum Gefägnis werden
Warum hat die Evolution dann den Menschen mit einem so lückenhaften und ungenauen Gedächtnis ausgestattet? Wäre es nicht viel besser, alles haarklein auf der biologischen Festplatte registriert zu haben? Richards und Frankland widersprechen. In einer sich rasch ändernden und verwirrenden Welt ist es eher von Nachteil, viele konkrete Erinnerungen parat zu haben. „Vergessen dient der Anpassung an eine wechselvolle Umgebung, weil es flexibles Verhalten ermöglicht“, schreiben sie. Schereschewski, der Gedächtniskünstler, war dagegen von seiner Vergangenheit eingemauert.
Strömen viele Informationen auf das Gehirn ein, sind auf spezielle Situationen zugeschnittene Denk- und Verhaltensvorgaben eher von Nachteil. In solchen Situationen ist geistige Beweglichkeit wichtig. Entscheidungen sollten dann eher von allgemeinen Grundsätzen und Erfahrungen geleitet werden, nicht von Kleinigkeiten aus der Vergangenheit. Entscheidend ist das Wesentliche, die Essenz des Erlebten, nicht seine Details.
Anders sieht es aus, wenn die Umgebung „zuverlässig“ ist und sich wenig ändert. Dann haben detailreiche und konkrete Gedächtnisinhalte ihren Platz. Nach dem Motto: Das haben wir immer so gemacht! In jedem Fall ist es das Wechselspiel von Beständigkeit und Vergänglichkeit, das ein funktionierendes Gedächtnis ausmacht. Es wird damit zur wichtigen Entscheidungshilfe.
Gelerntes wird in Netzwerken gespeichert
Was geschieht beim Erinnern im Gehirn? Die Erinnerung selbst ist in einem Netzwerk von miteinander über Kontakte (Synapsen) verbundenen Nervenzellen gespeichert. Das Netzwerk wurde im Moment des Lernens geknüpft. Wird das Gelernte ins Bewusstsein geholt, wird es wieder aktiviert. Stark vereinfacht gesagt: Je stärker die Kontakte zwischen den Netzwerk-Nervenzellen, umso vitaler die Erinnerung.
Beim Vergessen geschieht das Umgekehrte. Nervenkontakte und Netzwerke werden geschwächt. Zusätz- lich treten neu gebildete Nervenzellen auf den Plan, etwa im Hippocampus („Seepferdchen“), einer in den Tiefen des Schläfenlappens gelegenen Gedächtniszentrale. Sie „stören“ die bereits existierenden Nerven-Netze und schwächen Erinnerungen.
„Wir erinnern uns nicht an Tage, sondern an Momente“, zitieren die Wissenschaftler den italienischen Dichter Cesare Pavese. „Der Reichtum des Lebens beruht auf Erinnerungen, die wir vergessen haben.“ Das Gedächtnis ist kein perfekter Speicher des Erlebten und Gelernten. Eher ist es ein Haus, das ständig um- und ausgebaut wird: Und zwar je nachdem, wer gerade in ihm wohnt.
Nota. - Nicht erst um den Unterschied zwischen heute und gestern geht es, sondern um die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig. Weil Jetzt im Leben wichtiger ist als Vorhin, muss man sie von einander trennen können. Und weil das Wichtige in der Regel meine Tätigkeit herausfordert, und zwar nicht irgend- eine, sondern diese bestimmte, muss ich vom Unwichtigen absehen können. Spurlos vergessen darf ich aber auch das andere nicht, denn es könnte eines Tages doch noch wichtig werden.
JE
PS. für Sprachpuristen: Wir sagen "Dem Regen zum Trotz", "ich trotze dem Regen" - und trotzdem soll es heißen: "Trotz des Regens"? Das ist doch Unfug. - Daher muss es auch heißen: Wegen dem fehlenden Speicherplatz. (Die Neue Zürcher hat schon immer so geschrieben.)
JE
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