aus Der Standard, Wien, 7. Juni 2017,
"Sich falsch zu erinnern ist keine Lüge"
Unglaubwürdige Zeugen, unschuldige Schuldige: Julia Shaw erforscht, wie das Gehirn uns beim Erinnern austrickst
Interview
STANDARD: Der britische Schriftsteller Oscar Wilde hat einmal gesagt: "Das Gedächtnis ist das Tagebuch, das wir immer mit uns herumtragen." Schenkt man Ihnen Glauben, ist es damit nicht weit her: Wir erinnern uns ständig falsch, oder?
Shaw: Ja, das ist richtig. Wobei nicht unbedingt die gesamte Erinnerung falsch ist. Wir erinnern uns oft aber an Details, die nicht stimmen oder etwas verändert sich, seitdem wir es erlebt haben.
STANDARD: Warum ist das so?
Shaw: Unser Gehirn ist nicht perfekt, es ist gut genug. Das gilt auch für das Gedächtnis. Die wichtigsten Details werden sehr oft in ihrer Essenz mitgenommen. Das heißt, dass Details gut genug gespeichert werden, an denen wir uns orientieren können. Das Gehirn filtert automatisch die wichtigsten Informationen raus.
STANDARD: Aufs Kurzzeitgedächtnis darf schon gar nicht gesetzt werden, weil das nur rund 30 Sekunden hält.
Shaw: Das Kurzzeitgedächtnis ist tatsächlich sehr kurz. Da wir vieles länger behalten wollen, ist es wichtig, Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern – und dorthin schaffen es nur wenige Sachen.
STANDARD: Wie kann ich selbst wissen, ob meine Erinnerung stimmt?
Shaw: Schwierig. Es kann der Prozess hinterfragt werden, wieso man sich an etwas erinnert. Habe ich mit Freunden gesprochen, die diese Situation mit mir erlebt haben? Das kann einen Einfluss haben.
STANDARD: Ein Klassiker ist: Einer sagt, die Oma trug bei dem Fest ein blaues Kleid. Ein anderer besteht darauf, dass es rot war. Als Zeuge ist man nicht verlässlich, oder?
Shaw: Wenn man am Familientisch sitzt, und alle erzählen ihre Version einer Erinnerung von Erlebtem, dann ist es am Ende meistens so, dass alle mit der gleichen Erinnerung rauskommen. Man einigt sich auf eine Realität. Diese wird also sozial verhandelt.
STANDARD: Gewinnt dann die Wahrheit jener Person, die am gewandtesten reden kann?
Shaw: Das kann sein. Jemand, der mehr Selbstsicherheit hat, kommt eher durch. Das gilt auch für jene Person, die mehr Details präsentieren kann, selbst wenn die gar nicht stimmen müssen.
STANDARD: Wann weiß man, ob jemand die Wahrheit sagt?
Shaw: Das weiß man nicht. Wichtig ist: Eine falsche Erinnerung ist für die Person die Wahrheit. Sich falsch zu erinnern ist keine Lüge. Das passiert auch völlig ungewollt. Es ist eine unabsichtliche Fälschung. Selbst ein perfekt funktionierender Lügendetektor, den es nicht gibt, würde nicht anschlagen.
STANDARD: Sie selbst arbeiten auch mit der Polizei zusammen.
Shaw: In meinem Bereich geht es um Polizeibefragungen – ob die Befragungsmethode angemessen oder suggestiv war. War es Letzteres, heißt es aufpassen, weil die Erinnerung womöglich falsch ist. Man muss in Befragungssituationen reingehen, mit dem Wissen, dass falsche Erinnerungen ziemlich einfach zu kreieren sind. Menschen können leicht dazu verleitet werden, Dinge zu sagen, die gar nicht passiert sind. Deshalb gehören Zeugen sofort isoliert. Sie sollen nicht miteinander reden. Weil wir wissen, dass Zeugen sich untereinander beeinflussen.
STANDARD: Sie zitieren in Ihrem Buch "Das trügerische Gedächtnis" den Spruch: Ein Zeuge ist kein Zeuge.
Shaw: Es gibt Situationen, wo es nur einen Zeugen gibt, das muss auch weiterhin als relevant betrachtet werden. Aber: Nur weil jemand eine klare Erinnerung hat, heißt es für mich nicht unbedingt, dass es so passiert ist. Ich suche immer nach eigenständigen Beweisstücken.
STANDARD: In Experimenten haben Sie nachgewiesen, wie leicht falsche Erinnerungen in ein Gehirn gepflanzt werden können. Heißt das auch, dass geständige Täter vielleicht zu Unrecht in Haft sind?
Shaw: Ich konnte zeigen, dass wir Menschen sehr einfach einreden können, sie hätten Straftaten begangen, obwohl diese nie passiert sind. Und das muss die Polizei wissen und einsehen. Benutzen sie so ähnliche Befragungsmethoden wie ich, kann es zu falschen Erinnerungen kommen. Es gibt Menschen, die sich für schuldig halten, obwohl sie es gar nicht sind. Das möchte ich gerne verhindern.
STANDARD: Warum glaubt der Mensch so schnell etwas – Stichwort Fake-News?
Shaw: Zwei Punkte: Erstens nehmen wir Nachrichten, die mit unserem eigenen politischen Vorstellungen zusammenpassen, viel schneller auf. Wir sind unkritisch gegenüber Informationen, die unserem Weltbild entsprechen. Und zweitens gibt es das Phänomen der Quellengedächtnistäuschung. Wir können uns sehr oft nicht erinnern, woher wir etwas wissen. Dass die Quelle völlig unseriös war, wissen wir zwar beim Lesen – nur wenn wir später die Information abrufen, haben wir vergessen, woher sie kam.
STANDARD: Was tun?
Shaw: Je mehr Menschen wissen, wie einfach es ist, unser Gehirn auszutricksen, desto mehr können wir uns davor schützen. Sagt jemand "So war es!", können Sie sagen: "Nein, beweisen Sie es doch. Ich glaube das so nicht."
STANDARD: Zum Schluss: Können Sie als Gedächtnisforscherin drei Punkte aufklären? Erstens: Erinnerungen an die früheste Kindheit ...
Shaw: ... gibt es nicht. Im Alter bis zu zweieinhalb Jahren kann das Gehirn noch keine autobiografischen Erinnerungen speichern.
STANDARD: Auch wenn es geglaubt wird: Multitasking geht gar nicht.
Shaw: Richtig. Das kann niemand. Es fühlt sich vielleicht so an, aber was tatsächlich passiert, ist, dass wir schnell zwischen zwei Aufgaben hin und her hüpfen. Viel besser ist es, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Eines nach dem anderen. Das ist sowohl für die Erinnerung als auch die Produktivität besser.
STANDARD: Und: Wird man im Schlaf klüger?
Shaw: Nein. Wir brauchen zwar Schlaf, um unsere Erinnerung zu verfestigen. Aber im Schlaf lernen, das funktioniert leider nicht.
Julia Shaw, 1987 in Köln geboren und aufgewachsen in Kanada, ist Rechtspsychologin. Sie lehrt an der London South Bank University und berät unter anderem die Polizei. Das Buch "Das trügerische Gedächtnis" ist im Hanser-Verlag erschienen.
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