Dienstag, 31. Januar 2017

Ist Norm gut oder schlecht?

aus nzz.ch, 25.1.2017

Ein Loblied auf die Normierung
So funktioniert die Welt
«Normierung» - dieses Wort assoziiert man gern negativ, mit grauem Einheitsbrei und einer Rückbindung des Individuellen, Kreativen. Aber ohne Normen käme die Welt ziemlich bald ins Wackeln.

von Rolf Dobelli

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier
 
Nota. - Das ist ein unerfreuliches Kuddelmuddel. Ist Norm ein metaphysisches Datum, ist Normierung eine "Idee"? Ich meine: Gibt es Norm an sich, so dass man sagen könnte: an sich gut und je mehr umso besser, oder: an sich nicht so gut und lieber weniger? 

Offenbar ja nicht, denn nachdem er uns erzählt hat, wie nützlich Normen in der Natur bislang waren, redet er uns von Normen, die wir selber einführen können oder nicht. Deren Einführung wir wollen müssten.

Er sagt "Allgemeinen Normentheorie", aber meint gar nicht Normen, sondern bloß normierte Formate. Man müsste also fragen: Ist bei allem, was sich formatieren lässt, Normierung sinnvoll? Sogleich drängt sich die Frage auf: Was aber ist ein Format? Wie das Wort anklingen lässt, ist es eine Sache der Form und nicht - des Stoffs, hätte ich beinahe gesagt, aber ich sage doch besser: der Qualitas. Sie betrifft das Wie der Sache, nicht das Was. Was ist aber das Was der Sache und was das Wie? Das Was der Sache ist das, was ich mit ihr tun kann (landläufig: was ich daraus machen kann). Das Wie der Sache schreib mir vor, wie ich das anstellen müsste. 

Es ist völliger Blödsinn, regelmäßige Formen, die sich im Spiel von Anpassung und Auslese in der Natur ausgebildet haben, unter denselben Begriff zu fassen wie diejenigen Formen, die ich absichtsvoll für eine Operation aushecke, die ich tausenfach selbst ausführen und an die ich tausend Folgeoperationen anknüpfen will. 

'Warum Blödsinn, es geht doch immer um die Zweckmäßigkeit!' Blödsinn, weil die Natur, anders als ich, gar keine Zwecke hat. Die Natur ist kein Subjekt, ich aber bin es. Die Natur sucht blind nach dem, was passt. Ich aber suche nach dem, was gut und richtig ist. Dabei geht es viel mehr um das Was als um das Wie. Ob sich da Normierung lohnt, ist ein technisches Detail.

Nur um dieses technische Detail geht es aber dem Autor. Sein prätentiöser Wortaufwand dient nur dazu, den Leser zu beeindrucken. In Amerika haben sie Trump zum Präsidenten gemacht.
JE


 

Montag, 30. Januar 2017

Ist das Ich nur eine nützliche Fiktion?


 
aus Tagesspiegel.de, 27. 1. 2017

Alles fake, auch das "Ich"
Das Ich ist nur eine Illusion

Das Gehirn erzeugt nicht nur unser Bild von der Außenwelt, sondern auch unsere Vorstellung von uns selbst. Und die ist ein Trugbild. Ein Kommentar.
 
von

Sie sitzen jetzt hoffentlich beim Frühstück und lassen sich, während Sie einen Blick in die Zeitung werfen, Ihr Frühstücksei schmecken. Gut gewürzt mit einer Prise Salz. Dazu der frisch gebrühte Kaffee, dessen aromatischer Duft Ihnen in die Nase steigt. Der erste Schluck schmeckt am besten, finde ich immer.

Aber es gibt da ein kleines Problem. Denn da ist streng genommen nichts, was duftet oder schmeckt. Weder das Ei noch der Kaffee haben einen absoluten Eigengeschmack. Der entsteht erst in Ihrem Kopf. Die Welt da draußen ist komplett fade und geruchlos. Sie hat auch keine Farbe, macht kein Geräusch, ist nicht rau oder glatt, heiß oder kalt. Erst ihr Gehirn verleiht der Welt – mit Hilfe der Sinne – Sinnlichkeit. Es ist ziemlich kreativ darin, Ihnen so etwas wie eine bunte, duftende, lärmende Umwelt vorzugaukeln. Das, was wir als Realität ansehen, ist in Wirklichkeit eine Konstruktion des Gehirns.

Nirgendwo wird das deutlicher als bei optischen Täuschungen. Eine Fülle von verblüffenden Beispielen zeigt, wie das Gehirn sich hinters Licht führen lässt. Seine Kulissen erscheinen plausibel, aber sie sind es nicht. Wenn wir erkennen, dass wir getäuscht wurden, ist das so, als ob sich ein Riss in der Realität auftut. Nichts ist so, wie es scheint.

Indiz der Täuschung: Der blinde Fleck

Ein bekanntes Beispiel ist der blinde Fleck, eine Stelle im Sehfeld des Auges, die von Natur aus „blind“ ist, weil hier der Sehnerv in die Schädelhöhle eintritt. Das Gehirn kaschiert die Lücke in der Netzhaut-Tapete, indem es scheinbar das Muster der Umgebung darüberlegt. Das „Loch“ in der Wahrnehmung bleibt unbemerkt, die Realität wohlgeordnet.

Ein einfacher Test mit einem Blatt Papier bringt das ans Tageslicht. Zunächst zeichnet man auf die linke Seite einen kleinen Kreis und auf die rechte ein Kreuz. Dann schließt man das linke Auge und blickt mit dem rechten auf den Kreis. Wenn man sich dann dem Kreis nähert, wird das Kreuz irgendwann verschwinden, weil es im blinden Fleck gelandet ist.

Die Aufbauleistung des Gehirns geht noch weiter. Nicht nur die äußere, auch die innere Wahrnehmung ist sein Produkt. Hier funktioniert die Täuschung fast noch perfekter, denn von der realen Existenz ihres Ichs sind die meisten Menschen völlig überzeugt. Doch es gibt kein unantastbares, unveränderliches „Ich“ im Gehirn, das in einer Art Schatulle irgendwo aufbewahrt wird oder als kleiner Betrachter unablässig das Kopfkino genießt.

Die Geschichten spinnen uns, nicht wir sie

Das Ich wird von Netzwerken aus elektrisch erregten Nervenzellen permanent erzeugt. Es setzt sich aus einer Vielzahl unbewusster Mechanismen und Prozesse zusammen, sagt der britische Psychologe Bruce Hood, Autor des Buchs „The Self Illusion“ („Die Illusion des Selbst“). Man könnte sagen: Das Ich sind viele. Es ist schwierig, den Kern des Selbst richtig zu begreifen, ihm auf die Spur zu kommen. Von einem Spinnennetz ohne Spinne spricht Hood. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett hat das Problem mit einem fast poetischen Bild beschrieben: „Unsere Geschichten sind ersponnen, aber zum größten Teil haben nicht wir sie gesponnen, sondern sie uns.“ Die Wirklichkeit und ihr Betrachter, der Schauspieler und sein Publikum, der Spiegel und das Gespiegelte: Im Kopf sind sie eins.

Zugegeben, das ist schwer zu schlucken, erst recht am Frühstückstisch! Aber ich habe Trost parat. Zum einen: Es gibt die Realität da draußen natürlich durchaus. Die Welt und unser Ich existieren. Aber sie sind eben anders beschaffen, als man auf den ersten Blick glauben mag. Wir haben keinen direkten Zugang zur Realität. So kann das Auge aus dem riesigen Spektrum der elektromagnetischen Wellen nur jene zwischen 400 und 800 Nanometer wahrnehmen. Das ist ein klitzekleiner Sehschlitz, aber unser wichtigstes Fenster zur Welt.

Was das Gehirn konstruiert, dient dem Überleben

Wie wir die Umwelt und uns selbst wahrnehmen, ist geprägt von der Evolution. Ihre Maßstäbe sind Überleben und Vermehrung, nicht die perfekte Abbildung des physischen und psychischen Kosmos. Das Bild von der Welt und von uns selbst, das das Gehirn entwirft, ist alles andere als vollkommen. Aber es hat seinen Zweck bislang recht gut erfüllt.

Der Blick hinter die Kulissen enthüllt die Ich-Illusion. Dennoch, wir können sie nicht ablegen wie ein Theaterkostüm. Diese Rolle spielen wir ein Leben lang. Ansonsten würden wir uns selbst verlieren. Doch die Selbsterkenntnis ist ein Schritt nach vorn bei der Reise zum wahren Ich. Bis wir am Ziel sind, gilt es, gelassen zu bleiben. Und das Frühstück zu genießen.



aus dem Bekenntnis des savoyischen Vikars 
 

Wenn man mich nach der Ursache fragt, welche meinen Willen bestimmt, so frage ich meinerseits nach der Ursache, welche mein Urteil bestimmt; denn es ist klar, daß diese beiden Ursachen eigentlich nur eine einzige ausmachen; und wenn man genau begreift, daß der Mensch beim Fällen seiner Urteile eine Tätigkeit ausübt, daß sein Verstand in nichts anderem als in der Fähigkeit zu vergleichen und zu urteilen besteht, dann wird man auch begreiflich finden, daß seine Freiheit nur eine ähnliche oder von jener abgeleitete Fähigkeit ist. 

Er wählt das Gute nach dem, was seinem Urteil zufolge das Wahre ist; hat er ein falsches Urteil gefällt, so wird auch seine Wahl schlecht sein. Welches ist also die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist sein Urteil. Und welches ist nun wieder die Ursache, die sein Urteil bestimmt? Es ist seine geistige Fähigkeit, sein Vermögen, zu urteilen. Die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Hier ist die Grenze, über welche hinaus ich nichts mehr verstehe.

aus: J. J. Rousseau, Émile oder Ueber die Erziehung [1762] , Band 2, Leipzig [o.J.], S. 157


Nota. -  Das ist die Stelle, an der Immanuel Kant das transzendentale Ich entdeckt hat.

JE

Sonntag, 29. Januar 2017

...das, was man noch nicht vergessen hat.

aus nzz.ch, 28.1.2017, 11:11 Uhr

Wahre Erinnerungen kann man vergessen

von Angela Gutzeit 

Das Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war. Drei aktuelle Neuerscheinungen aus dem kultur- und neurowissenschaftlichen Bereich zeigen, wie selektiv es funktioniert – und wie wichtig, aber auch gefährlich das ist. Ein Lesetipp aus «Bücher am Sonntag», der Beilage zur «NZZ am Sonntag» vom 29. Januar 2017.

Er hätte nie etwas schreiben können, vertraute Goethe seinem eifrigen Mitschreiber Eckermann an, wenn er gewusst hätte, wie viel Vortreffliches schon verfasst worden sei. Nicht nur der Gewinn und Zustrom von Wissen, gerade auch sein Verlust und Entzug könne unter bestimmten Bedingungen wichtig oder heilsam sein, kommentiert die Kulturwissenschafterin Aleida Assmann den weisen Altersspruch des Dichterfürsten in ihrem Buch «Formen des Vergessens». Nichtwissen und Vergessen als Voraussetzung für Kreativität, im Sinne von Reduzierung von Komplexität, aber auch von Leid und traumatischen Erfahrungen sind hier gemeint.

So ist nach ihren Ausführungen nicht das Erinnern, sondern das Vergessen der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Trotzdem führte das Vergessen gegenüber dem Erinnern lange Zeit ein Schattendasein. Auf Literatur und Geisteswelt im Allgemeinen trifft das zwar nicht zu, wie die Autorin selbst mit zahlreichen Zitaten belegt. Die Gedächtnisforschung jedoch hat nach Assmann erst seit wenigen Jahren den Schwerpunkt vom Erinnern auf das Vergessen verlagert. Das Erinnern ist seitdem im öffentlichen Diskurs ins Zwielicht geraten.

Fiktionsleistung des Hirns

Die Gründe dafür sind wohl in gesellschaftspolitischen Wandlungen, medientechnischen Umbrüchen sowie neurowissenschaftlichen und evolutionspsychologischen Erkenntnissen zu sehen. Zumindest liegt diese Einsicht nahe, wenn man zu Assmanns Buch, das «die sozialen, kulturellen und politischen Kontexte rekonstruiert, in denen sich Vergessen vollzieht», zwei weitere aktuelle Veröffentlichungen hinzunimmt: «Das trügerische Gedächtnis» der Rechtspsychologin Julia Shaw und «Halbe Wahrheiten» des Psychologieprofessors Douwe Draaisma.

Beide stellen den Wahrheitsgehalt des menschlichen Erinnerungsvermögens grundsätzlich infrage. Nach einer biochemischen Theorie, so die 36-jährige Wissenschafterin, die an der London South Bank University lehrt, vergessen wir etwas zu unserer Entlastung, so oft wir uns an etwas erinnern. Jede Erinnerung aber, die wir selbstverständlich als wahr und wirklich geschehen ansehen, wird gehirnphysiologisch im Prozess des Zurückholens überprüft, bearbeitet, ergänzt, unter Umständen sogar neu erschaffen und erneut abgespeichert.

Erinnerung ist also immer auch und über­wiegend Fiktion. Bewusst ist uns dieser Prozess der ständigen Umformung in der Regel nicht. Und dabei könnte man es eigentlich belassen. Denn wie immer unser Gehirn unsere Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitet, es konstituiert unsere individuelle Persönlichkeit. Warum sollten wir diesen offensichtlich sinnvollen Vorgang hinterfragen oder gar problematisieren, wie uns die Titel der beiden Bücher nahelegen?

Falsche Zeugenaussagen

Weil wir mit falschen Erinnerungen Schlimmes bewirken können. Um das zu belegen, arbeiten beide Autoren mit Fallbeispielen. Wobei die Rechtspsychologin Julia Shaw nicht nur sehr kundig und anschaulich Einblick in die neueste Hirnforschung gibt, sondern sich auch auf eigene Versuchsanordnungen berufen kann. Shaw berät speziell Justiz und Polizei, die sie für «falsche Erinnerungen» von Zeugen sensibilisiert.

Um die Fragwürdigkeit von Zeugenaussagen zu belegen, hat sie Versuchspersonen Filme von Verbrechen vorgespielt. Kurze Sequenzen, nach denen diese Personen die Täter beschreiben sollten. Heraus kamen so viele verschiedene Beschreibungen, wie Menschen an den Versuchen teilnahmen. Aber nicht nur das, die Probanden meinten auch, Details beobachtet zu haben, die im Film gar nicht vorkamen, die Shaw aber in ihren Befragungen nachträglich eingestreut hatte. Erinnerungen sind unzuverlässig, manipulierbar und können zu falschen Urteilen führen, so das Resümee in Julia Shaws eindrucksvollem Buch.

Die «Vergessenspille» steht bevor

«Mit dem Heraufbeschwören einer Erinnerung kommt nicht nur die Vergangenheit in die Gegenwart – auch die Gegenwart drängt sich in die Vergangenheit», schreibt in ganz ähnlichem Sinne Douwe Draaisma, Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen. In seinem Buch versammelt der 53-Jährige in eher lockerer Verbundenheit Geschichten über Täuschungen des menschlichen Erinnerungsvermögens.

Im Mittelpunkt und etwas länglich geraten: Der Fall Ted Kaczynski, bekannt als der «Unabomber», der ab Ende der 1970er Jahre in den USA Briefbomben vornehmlich an Wissenschafter verschickte. Douwe Draaisma rollt den Fall auf, um zu zeigen, wie sehr die Aussagen von Familie und Freunden über Persönlichkeit und mögliche Motive Kaczynskis rückblickend von seiner Tat her beeinflusst wurden.

Diese Beeinflussbarkeit des Gedächtnisses dürfte künftig zunehmen, steht doch die Entwicklung einer «Vergessenspille» bevor, die, so Draaisma, unerwünschte Erinnerungen einfach auslöschen könnte. Ähnlich wirkende Medikamente gibt es bereits.

Internet bringt Gedächtnis in Unordnung

Als ob der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal diesen bedenklichen Eingriff in das menschliche Bewusstsein vorausgeahnt hätte, ist in einem seiner Briefe an Richard Strauss zu lesen: «An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren, bis an den Tod – oder aber leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch bleiben, nicht zum gedächtnislosen Tier herabsinken.»

Dieses schöne Zitat ist bei Aleida Assmann zu finden. Die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Kulturwissenschafterin hat sich in vielen ihrer Arbeiten mit Erinnerungspolitik auseinandergesetzt. Immer wieder spielte dabei der Holocaust als das konstitutive Ereignis im Gedächtnis der Deutschen und Europas eine zentrale Rolle. Besonders deutlich wird nun in «Formen des Vergessens» ihr Anliegen, der Verwandlung das Wort zu reden, nicht der Zementierung von Erinnerung.

Was absinkt in Archive, kann unter anderen psychologischen, sozialen und politischen Bedingungen verwandelt wieder hervortreten, Abgegoltenes oder auch Störendes zu Recht vergessen werden. Dieses Zusammenspiel von Erinnern und notwendigem Vergessen sieht Assmann in ihrem lehrreichen Buch durch die Speicherfähigkeit des Internets in Unordnung geraten. Wir müssen uns mit dem Widerspruch auseinandersetzen, dass neue Medien auf Informationsvermehrung, Wissensansammlung und Vernetzung angelegt sind, während das menschliche Gedächtnis «von Vergessen grundiert, von Verknappung bestimmt und mit Identitäten liiert ist», so Aleida Assmann. Sich – wie bereits Goethe – dieser wertvollen menschlichen Verfasstheit bewusst zu sein, ist wichtiger denn je.

Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Wallstein, Göttingen 2016. 224 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 13.50.
Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Hanser, München 2016. 304 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 25.50.
Douwe Draaisma: Halbe Wahrheiten. Vom seltsamen Eigenleben unserer Erinnerung. Galiani, Berlin 2016. 256 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 16.50.


Nota. - Was eben noch Wahrnehmung war, ist in der folgenden Sekunde bereits Erinnerung - und schon deswegen etwas anderes geworden, weil es in Gesellschaft mit Abermilliarden anderen Erinnerten tritt, die es unter ihre Fittiche nehmen.

Nun war aber auch die aktuelle Wahrnehmung selber nicht etwa rein, kristallklar und 'sie selber': Sie war ihrerseits tausend- oder millionenfach gesucht, ausgewählt und gefiltert. Die "dogmatische", wie Kant sie nennt, Auffassung des Erkennens als Abdruck oder Widerspiegelung der Dinge selbst ist, aller philosophi- schen Erwägungen unerachtet, unter rein physiologischen Gesichtspunkt nicht haltbar. 

Die psychologische Auffassung vom Selbst als Summe des Erinnerten ist ihrerseits nicht vereinbar mit der Vorstellung, der Mensch sei "das Produkt seiner Erlebnisse". Was es wahrnimmt, erlebt und erinnert, hat es schon immer moduliert und modifiziert; 'als solches' gibt es das gar nicht. 
JE 

Donnerstag, 26. Januar 2017

Wo im Gehirn Bedeutung entsteht.

aus nzz.ch, 26.1.2017, 18:09 Uhr

Eine Prise LSD entscheidet
Forschende der Uni Zürich haben herausgefunden, wie das Halluzinogen LSD das Gehirn dazu bringt, bestimmten Dingen und Erlebnissen mehr Relevanz beizumessen als normalerweise. Die Erkenntnis könnte auch helfen, psychische Krankheiten besser zu verstehen.

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier
Nota. - Hier geht es wohlbemrkt darum, "wie viel" jemandem etwas bedeutet - nicht darum, was es ('an sich') bedeutet. Es ist nicht eine Sache des 'Erkennens', sondern des 'Erlebens'. Nicht der Kognition, sondern des "Gemüts", möchte man sagen. Es ist aber auch eine Sache des Bewertens, und das betrifft das Erkannte sowohl wie das Erlebte. 

Im Experiment ging es um ästhetisches Erleben - da sind wahrnehmen und bewerten gar nicht zu untercheiden. Dass dabei das 'Gemüt' eine größere Rolle spielt als der (unterscheidende) Verstand, kann nicht überraschen. Wenn dasselbe Experiment mit dem Bewerten von rational Erkanntem gelänge, wäre es eine Revolution der Hirnforschung.
JE


 

Dienstag, 24. Januar 2017

Auch ein Irrtum kann die Wissenschaft beflügeln - wenn er korrigiert wird.

aus Der Standard, Wien, 24. Jänner 2017, 05:30

Henri Poincarés Irrtum ebnete den Weg zur modernen Chaostheorie
Ein Fehler kostete den französischen Mathematiker viel Geld, eröffnete letztlich aber einen völlig neuen Blick auf die Welt 

von Florian Freistetter

Am 21. Januar 1889 feierte der schwedische König Oskar II seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlass tat er etwas, das heute sehr selten von Regierungsoberhäuptern getan wird: Er veranstaltete einen mathematischen Wettbewerb zur Lösung von vier noch unbeantworteten Fragen und setzte ein Preisgeld für die zu findenden Antworten aus. Damit erwies er nicht nur der Mathematik einen großen Dienst. Die Ergebnisse des Wettbewerbs haben unseren Blick auf das gesamte Universum verändert. Am Anfang dieser Entwicklung stand aber ein Irrtum.

Eine der vier Fragen mit deren Beantwortung man sich einen Preis verdienen konnte, lautet wie folgt: "Für ein gegebenes System von n sich untereinander anziehenden Teilchen, die den Newtonschen Bewegungsgesetzen folgen, soll unter der Annahme, dass es zu keinem Zweierstoß kommt, eine allgemeine Lösung gefunden werden in Form einer Potenzreihe in den Zeit und Raumkoordinaten, die für alle Werte der Zeit und Raum Koordinaten gleichförmig konvergiert." Das klingt ziemlich technisch, aber in eine etwas weniger mathematische Sprache übersetzt heißt das nichts anderes als "Ist unser Sonnensystem für alle Zeiten stabil oder nicht?"

Eine interessante und auch eine durchaus wichtige Frage! Seit Isaac Newton im 17. Jahrhundert sein Gravitationsgesetz formulierte, war man prinzipiell in der Lage, die Bewegung von Himmelskörpern mathematisch zu verstehen. Man konnte auch die mathematischen Gleichungen aufzustellen, mit der sich die Bewegung aller Planeten des Sonnensystems beschreiben ließ. Was man nicht konnte, war diese Gleichungen auch zu lösen. Würde man eine entsprechende Lösung finden, wäre es auch möglich die Bewegung der Himmelskörper für alle Zeiten voraus zu berechnen (zumindest theoretisch, in der Praxis wäre so ein Vorhaben an der damals noch fehlenden Rechenkraft durch Computer gescheitert). Preiswürdige Gleichungen für drei Himmelskörper

Zu denen, die sich an einer Lösung versuchten, gehörte auch der französische Mathematiker Henri Poincaré. Die Jury ließ seinen Beitrag zum Wettbewerb zu, obwohl er sich "nur" mit der Bewegung von drei Himmelskörpern beschäftigte. Aber auch diesen Fall konnte man bisher nicht lösen, da die Gleichungen dafür viel zu komplex waren. Poincaré allerdings kam in seiner 158-seitigen Arbeit zu dem Schluss, dass eine Lösung gefunden werden konnte und die Bewegung von drei Himmelskörpern unter ihrer wechselseitigen gravitativen Anziehungskraft stabil sei. Dieses Ergebnis wurde als preiswürdig anerkannt und sollte in der entsprechenden Fachliteratur publiziert werden. Der Herausgeber der Fachzeitschrift hatte zuvor aber noch ein paar Fragen an Poincaré. Einige Punkte in seinem mathematischen Beweis waren für ihn nicht ganz nachvollziehbar und er bat Poincaré, sie genauer auszuführen.

Das tat Poincaré – und erlebte genau das, was kein Wissenschaftler erleben will: Die kleinen Korrekturen wurden immer umfangreicher und schließlich musste er feststellen, dass sich da nichts mehr korrigieren ließ. Er hatte einen Fehler gemacht. Sein Ergebnis war falsch. Das Problem der drei Himmelskörper war nicht lösbar. Die schon gedruckte Ausgabe der Fachzeitschrift musste zurück gezogen werden. Ein neuer Artikel mit einem neuen Ergebnis musste gedruckt werden und Poincaré hatte die Kosten dafür zu tragen, die die Summe des Preisgeldes deutlich überstiegen.

Das alles klingt nach einer ziemlich deprimierenden Geschichte. Und natürlich ist es deprimierend, wenn man einen Fehler macht; ganz besonders als Mathematiker, wo ein einziger Fehler das gesamte Ergebnis zu Fall bringt. Aber Poincaré tat viel mehr als nur festzustellen, dass er sich geirrt hatte. Bei seiner Überarbeitung des Artikels fand er heraus, warum er keine Lösung für die ursprüngliche Frage finden konnte: Es gab so eine Lösung nicht und Poincaré konnte zeigen, warum es sie nicht geben konnte. Seine mathematische Analyse der Wechselwirkung bei der Bewegung dreier Himmelskörper war nichts anderes als der Beginn der modernen Chaostheorie.

Zu komplex für eine exakte Lösung

Poincaré entdeckte, dass bestimmte dynamische Systeme so enorm komplex sein können, dass es schlicht und einfach nicht möglich ist, eine mathematisch exakte Lösung für ihr Verhalten zu finden. Nicht, weil man zu dumm dazu wäre, sondern weil sie tatsächlich nicht vorhanden ist. Die Komplexität der gravitativen Wechselwirkung der Himmelskörper ist genau so ein System und das auftretende Chaos macht eine exakte Vorhersage ihrer Bewegung unmöglich.

Mittlerweile nutzt man numerische Methoden um die Bewegung der Planeten am Computer zu simulieren und kann damit wenn auch nicht exakt dann zumindest näherungsweise vorhersagen, wie sie sich bewegen werden. Diese Näherungen sind aber immer noch gut genug, um beispielsweise Raumsonden punktgenau durchs All zu steuern und dort landen zu lassen, wo sie landen sollen.
 
Das Chaos ist seit Poincaré ein fixer Bestandteil der modernen Naturwissenschaft. Es hat unseren Blick auf die Vergangenheit des Sonnensystems verändert, und wir wissen heute sehr gut, welche Rolle die Instabilität gespielt hat. Die mathematische Nicht-Existenz einer exakten Lösung äußert sich astronomisch im Vorhandensein von Kollisionen zwischen Himmelskörpern, zwischen Asteroiden und Planeten zum Beispiel, ohne die unser Planet nicht so geworden wäre wie er heute ist.

Poincarés Irrtum hat uns einen völlig neuen Blick auf die Welt eröffnet. Das chaotische Universum, das er uns gezeigt hat, lässt sich nicht mehr so leicht untersuchen wie der deterministische Kosmos, von dem man zuvor ausgegangen war. Aber das Chaos hat die Welt auch sehr viel interessanter gemacht! 

Montag, 23. Januar 2017

Gedächtnis: Nicht nur auf die Synapsen, auch auf den Zellkern kommt es an.

 aus derStandard.at, 22. Jänner 2017, 09:00                                     Nervenzellen im Hippocampus

Innsbrucker Forscher entschlüsseln das Gedächtnis
Molekularbiologen der Medizinischen Universität Innsbruck forschen an den Grundlagen für das Langzeitgedächtnis 

von Steffen Arora

Innsbruck – Kein anderes Organ im menschlichen Körper stellt die Wissenschaft bis heute vor so viele Rätsel wie das Gehirn. Die Molekularbiologen Galina Apostolova und Georg Dechant von der Gemeinsamen Einrichtung für Neurowissenschaften an der Medizinischen Universität Innsbruck haben nun einen weiteren Schritt bei der Entschlüsselung der Funktionsweise unseres Gedächtnisses geschafft.

Konkret wurde nachgewiesen, dass ohne das Protein Satb2 im zentralen Nervensystem kein Langzeitgedächtnis gebildet werden kann. Satb2 regelt im Zellkern die dreidimensionale Anordnung der DNA. Die neue Innsbrucker Studie, die im Wissenschaftsmagazin eLife publiziert wurde, belegt nun, dass eine korrekte Ausführung von Gedächtnisleistungen nur möglich ist, wenn die DNA richtig angeordnet ist. Bei Versuchen mit erwachsenen Mäusen gelang es den Forschern durch die Entnahme und das Wiederhinzufügen des Proteins Satb2 aus dem Gehirn, das Langzeitgedächtnis der Tiere aus- und wieder einzuschalten.

Vor allem dieses neue Tiermodell schafft Möglichkeiten der Umlegbarkeit der Forschungsergebnisse auf den Menschen. Bei Patienten werden Mutationen des menschlichen Satb2-Gens nicht nur für schwerwiegende Beeinträchtigungen der höheren Denkfunktionen verantwortlich gemacht, sondern sie vermitteln auch ein erhöhtes Risiko, an Schizophrenie zu erkranken.

Standen bei der Gedächtnisforschung bisher die synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen im Vordergrund, belegen nun neue Arbeiten, wie die der Innsbrucker Wissenschafter, dass die Grundlagen für unser Langzeitgedächtnis auch im Zellkern zu suchen sind. Anders als etwa Hautzellen erneuern sich Nervenzellen so gut wie nicht durch Zellteilung.

"Diese Zellen und ihr Zellkern müssen ein ganzes Leben lang ihre Funktion erfüllen und sich plastisch an Veränderungen anpassen. Wir vermuten, dass die Abnahme von Denkleistungen im Alter auch mit der Verschlechterung der Leistung der Kerne von Nervenzellen zusammenhängen könnte", erklärt Dechant.

Verteilung des Proteins

Interessant ist auch die Verteilung des Satb2-Proteins, das nur sehr selektiv in zwei Bereichen des Gehirns vorkommt: im zerebralen Kortex, wo Gedächtnisinhalte abgespeichert werden, und im Hippocampus, wo das Gedächtnis gebildet wird.

Gerade hinsichtlich möglicher neuer Therapieformen ist diese Verteilung besonders wichtig, weil sich Satb2 somit als ideales Target anbietet, um Gedächtnisleistung zu verändern, ohne dass Vitalfunktionen, die von anderen Gehirnregionen gesteuert werden, durch Nebenwirkungen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Durch die Entschlüsselung der Wirkung von Satb2 im Nervenzellkern sind Apostolova und Dechant in ihrer Forschung einen großen Schritt weitergekommen. "Ziel unserer zukünftigen Arbeiten wird es sein, einen Wirkstoff in Form eines Medikamentes zu finden, der die Funktion von Satb2 im Gehirn beeinflusst." Um ihre Erkenntnisse für den Menschen anwendbar zu machen, bedarf es noch viel Arbeit.

Ringen um Mittel

Finanziert wurde die Forschung vom Wissenschaftsfonds FWF. Ohne ihn, einen Spezialforschungsbereich sowie ein Doktoratskolleg wäre die Forschung nicht möglich gewesen, sagen die Wissenschafter. Durch diese Netzwerke wurde auch die Zusammenarbeit mit Nicolas Singewald vom Institut für Pharmakologie an der Innsbrucker Universität ermöglicht, die wesentlich zum Erfolg der Arbeit beigetragen hat.

"Es wäre wichtig, wenn Österreich den FWF mehr wertschätzen würde und mit mehr Mitteln ausstatten könnte. Wir tun uns sehr schwer, langfristig zu planen, und sind im Vergleich mit unseren internationalen Kollegen unterfinanziert", beschreibt Dechant die alltäglichen Schwierigkeiten in seiner Arbeit.

Denn die Konkurrenz schläft nicht. Die Neurowissenschaften entwickeln sich immer mehr zur Leitwissenschaft. Das bleibt für den Arbeitsmarkt für Wissenschafter nicht ohne Folgen. So sind Neurowissenschafter zunehmend auch in der Wirtschaft und der IT-Branche gefragt. "Auch dort hat man großes Interesse daran, die Grundlagen menschlichen Verhaltens besser zu verstehen."  

Samstag, 21. Januar 2017

Können Affen reflektieren?


Japanische Rotgesichtmakaken
aus nzz.ch, 14.1.2017, 08:00 Uhr 

Gedächtnisleistung 
Affen reflektieren über ihre Erinnerungen 
Tiere besitzen eine weitere Fähigkeit, die man früher nur dem Menschen zugetraut hat. Sie können die Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen einschätzen. Nun zeigen Forscher, welche Hirnareale beteiligt sind. 

von Katharina Dellai-Schöbi

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier


Nota. - Die Natur ist nicht gutbürgerlich, sie ist keine Haushälterin. Die Natur schaffe keine Fähigkeiten, für die sie keine Verwendung hat, hieß es: nur so viele Töpfchen, wie es Deckelchen gibt. Das ist jedoch bloße Ideologie. Der bürgerliche Geschäftsmann wollte in sich eine gottgewollte Natur erkennen können. Die Natur ist aber eine bedenkenlose Verschwenderin. Man denke nur an die Abermilliarden männlicher Samenkörner, die Stunde für Stunde vergeudet werden!

Welche Fertigkeiten durch welche Mutationen entstehen, ist reiner Zufall. Kein Zufall ist, welche sich da- von im Leben der jeweiligen Gattung bewähren - und durch ständige Übung befestigt und ausgebaut und schließlich zum Gemeingut der Gattung werden. Und all die andern neuen Fertigkeiten bleiben ungenutzt und gehen wieder verloren.

Wenn es anders wäre, hätte sich die Familie Homo seinerzeit nicht auf die Hinterbeine gestellt und wäre nicht aus ihrer Urwaldnische in eine offene Welt ausgebrochen. Die Fähigkeit zum aufrechten Gang war schon bei manchen Vorläufern entstanden. Es musste noch die Gelegenheit - und in unseren Fall vielleicht die Erfordernis - hinzukommen, sich ihrer zu bedienen. Man sollte annehmen, dass in jeder Gattung mehr Möglichkeiten im Verborgenen schlummern, als im alltägliche Einerlei zu Tage treten. Hypertelie hat Adolf Portmann das genannt und für ein bestimmendes Merkmal alles Lebendigen gehalten.

Dass wir eine Intelligenz haben, unterscheidet uns nicht von den Tieren; allenfalls, dass unsere weiter reicht. Dass wir nicht nur viel dazulernen, sondern auch wissen können, dass wir etwas wissen; dass wir also reflektieren, unterscheidet uns jedenfalls nicht grundsätzlich von den Japanmakaken. Aber immer noch dies: dass es bei uns eine Fähigkeit der ganzen Gattung geworden, dass es heute habituell und gattungsty- pisch ist. Bei uns ist das kein Zufall mehr, sondern Ergebnis einer evolutionären Auslese.
JE 












Donnerstag, 19. Januar 2017

Gegeben oder zur Auslese geboten?

(Bild: Reto Althaus / NZZ)
aus nzz.ch, 5. 1. 2017

Affordanz

Was die Welt uns offeriert
Manche Theorien gehen davon aus, dass Wahrnehmung nach dem Prinzip eines «Films im Kopf» funktioniert. Aber es könnte sein, dass unsere Sinne die Umwelteindrücke auf ganz andere Weise erfassen. 

von Daniel C. Dennett

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier


Nota. - Jacob von Uexküll hat vor bald hundert Jahren die mentale Grundausstattung eines jeden Lebenwesens in ein Merknetz und ein Wirknetz unterschieden, und beide zusammen ergeben sie das, was seine Umwelt ausmacht. Das Merknetz umfasst alle Organe, durch die das Individuum Informationen von außen aufgreift, und das Wirknetz diejenigen, die ihm erlauben, Informationen in seine Umgebung einzugeben. Die Umwelt besteht auf der einen Seite aus der ökologischen Nische, in die sich die Gattung evolutiv eingepasst hat, und auf der andern Seite aus dem Merk- und Wirknetz, das sich evolutiv darauf eingestellt hat. Ich kann nicht erkennen, welche zusetzliche Erkenntnis James Gibson der Sache nach da hinzugefügt hat. 

Dies umso weniger, als nur wenig später Ernst Cassirer Uexkülls theoretisches Konzept um die Vorstellung des Symbolnetzes erweitert hat, das der Mensch zwischen Merk- und Wirknetz geschoben und damit beide dimensional erweitert hat, wodurch ihm seine (in Merk- und Wirknetz beschlossene) Umwelt zu einer (offenen) Welt wurde. 

Dass man in Amerika Uexküll nicht kennt, ist schon erstaunlich genug. Aber Ernst Cassirer hat die letzten Jahre seines Lebens aus ungutem Grund in den Vereinigten Staaten verbracht, dort gelehrt und auch publiziert. Von dem muss man dort gehört haben. 
JE 


 

Mittwoch, 18. Januar 2017

Hat das Wissen Grenzen?


(Bild: Reto Althaus / NZZ)  
aus nzz.ch, 5.1.2017, 08:00 Uhr
Mysterianismus 
Unsere Grenze  
Manchmal scheint es, als seien dem Erkenntnisvermögen des Menschen keine Grenzen gesetzt. Aber die Mysterianer mahnen zu Bedacht – und gründen ihre Argumente
auf die Evidenz der Evolution. 

von Nicholas G. Carr 

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier


Nota. - Das Wissen hat Grenzen: das, was wissbar ist. Wissen als Zeitwort wissen ist unbegrenzt. Es ist das tätige Verhalten zu allem, was mir begegnet. Wie könnte das eine Grenze haben? 

Was heißt wissen? Es heißt, etwas Unbestimmtes ein wenig bestimmter machen. Unbestimmt - das sind die Reize, die unsere Sinneszellen an ihre Supervisoren im Gehirn, die Neuronen, melden. Diese Sinnesdaten zusammenführen und mit einer Bedeutung ausstatten heißt bestimmen. Und was ist eine Bedeutung? Be- deutung ist dasjenige an einem Ding, was mich veranlassen kann, mein Verhalten so oder so zu... bestim- men, nämlich auf einen Zweck zu richten. Die Zwecke muss ich mir freilich selber setzen.

Wie könnte ich damit je zu einem Ende kommen? Nicht nur begegnen an allen Ecken nund Enden neue Dinge, sondern an den bekannten Dingen bemerke ich immer wieder 'Merkmale', die es noch zu bestimmen gilt. Aber das ist trivial. Entscheidend ist, dass ich, wenn ich es sol will, meine Zwecke ändern kann. Das Bestimmen ist ohne Ende. 

Denn ein Ende wäre noch nicht, wenn ich alle Dinge so genau bestimmt hätte, dass ich nichts mehr hinzu- fügen kann: wenn alle seine Zwecke restlos erfüllt sind. Ein Ende wäre, wenn ich einen allerletzten Zweck wie einen Spatz in meiner Hand hielte und nicht sehnsüchtig betrachten müsste wie eine Taube auf dem Dach. Doch damit soll es wohl noch eine gute Weile haben.


Nota II. - Selbstverständlich ist nichts, was in der Natur vorkommt, für uns restlos verstehbar. Wenn ich unter Verstehen die Einsicht in eine allerletzte Ursache 'verstehe'. Wenn es eine allerletzte nicht gibt, gibt es keine Ursache. Wenn es eine allerletze gibt, gehört sie nicht mehr zur Natur, die unserer Vorstellung nach etwas Hervorgebrachtes ist. Die allerletzte müsste also ein übernatürlich Hervorbringer sein. 

Und das ist ja der Gedanke, den sie uns immer zumuten wollen, weil sich die Menschen das "immer schon so gedacht" haben. Warum? Weil es der Erfahrung entspricht, die ihre Gattung seit ihrem ersten Auftreten schon immer gemacht hat: keine Folge ohne einen Verursacher, der sie bewirkt. Wenn es eine Vorstellung gibt, von der wir in Wirklichkeit niemals abstrahieren können, dann ist es die. Das ist Grenze, die die Evolution unserem Verstehen gezogen hat.
JE