aus nzz.ch, 28.1.2017, 11:11 Uhr
Wahre Erinnerungen kann man vergessen
von Angela Gutzeit
Das
Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war. Drei aktuelle
Neuerscheinungen aus dem kultur- und neurowissenschaftlichen Bereich
zeigen, wie selektiv es funktioniert – und wie wichtig, aber auch
gefährlich das ist. Ein Lesetipp aus «Bücher am Sonntag», der Beilage
zur «NZZ am Sonntag» vom 29. Januar 2017.
Er
hätte nie etwas schreiben können, vertraute Goethe seinem eifrigen
Mitschreiber Eckermann an, wenn er gewusst hätte, wie viel
Vortreffliches schon verfasst worden sei. Nicht nur der Gewinn und
Zustrom von Wissen, gerade auch sein Verlust und Entzug könne unter
bestimmten Bedingungen wichtig oder heilsam sein, kommentiert die
Kulturwissenschafterin Aleida Assmann den weisen Altersspruch des
Dichterfürsten in ihrem Buch «Formen des Vergessens». Nichtwissen und
Vergessen als Voraussetzung für Kreativität, im Sinne von Reduzierung
von Komplexität, aber auch von Leid und traumatischen Erfahrungen sind
hier gemeint.
So
ist nach ihren Ausführungen nicht das Erinnern, sondern das Vergessen
der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Trotzdem
führte das Vergessen gegenüber dem Erinnern lange Zeit ein
Schattendasein. Auf Literatur und Geisteswelt im Allgemeinen trifft das
zwar nicht zu, wie die Autorin selbst mit zahlreichen Zitaten belegt.
Die Gedächtnisforschung jedoch hat nach Assmann erst seit wenigen Jahren
den Schwerpunkt vom Erinnern auf das Vergessen verlagert. Das Erinnern
ist seitdem im öffentlichen Diskurs ins Zwielicht geraten.
Fiktionsleistung des Hirns
Die
Gründe dafür sind wohl in gesellschaftspolitischen Wandlungen,
medientechnischen Umbrüchen sowie neurowissenschaftlichen und
evolutionspsychologischen Erkenntnissen zu sehen. Zumindest liegt diese
Einsicht nahe, wenn man zu Assmanns Buch, das «die sozialen, kulturellen
und politischen Kontexte rekonstruiert, in denen sich Vergessen
vollzieht», zwei weitere aktuelle Veröffentlichungen hinzunimmt: «Das
trügerische Gedächtnis» der Rechtspsychologin Julia Shaw und «Halbe
Wahrheiten» des Psychologieprofessors Douwe Draaisma.
Beide
stellen den Wahrheitsgehalt des menschlichen Erinnerungsvermögens
grundsätzlich infrage. Nach einer biochemischen Theorie, so die
36-jährige Wissenschafterin, die an der London South Bank University
lehrt, vergessen wir etwas zu unserer Entlastung, so oft wir uns an
etwas erinnern. Jede Erinnerung aber, die wir selbstverständlich als
wahr und wirklich geschehen ansehen, wird gehirnphysiologisch im Prozess
des Zurückholens überprüft, bearbeitet, ergänzt, unter Umständen sogar
neu erschaffen und erneut abgespeichert.
Erinnerung
ist also immer auch und überwiegend Fiktion. Bewusst ist uns dieser
Prozess der ständigen Umformung in der Regel nicht. Und dabei könnte man
es eigentlich belassen. Denn wie immer unser Gehirn unsere Erlebnisse
und Erfahrungen verarbeitet, es konstituiert unsere individuelle
Persönlichkeit. Warum sollten wir diesen offensichtlich sinnvollen
Vorgang hinterfragen oder gar problematisieren, wie uns die Titel der
beiden Bücher nahelegen?
Falsche Zeugenaussagen
Weil
wir mit falschen Erinnerungen Schlimmes bewirken können. Um das zu
belegen, arbeiten beide Autoren mit Fallbeispielen. Wobei die
Rechtspsychologin Julia Shaw nicht nur sehr kundig und anschaulich
Einblick in die neueste Hirnforschung gibt, sondern sich auch auf eigene
Versuchsanordnungen berufen kann. Shaw berät speziell Justiz und
Polizei, die sie für «falsche Erinnerungen» von Zeugen sensibilisiert.
Um
die Fragwürdigkeit von Zeugenaussagen zu belegen, hat sie
Versuchspersonen Filme von Verbrechen vorgespielt. Kurze Sequenzen, nach
denen diese Personen die Täter beschreiben sollten. Heraus kamen so
viele verschiedene Beschreibungen, wie Menschen an den Versuchen
teilnahmen. Aber nicht nur das, die Probanden meinten auch, Details
beobachtet zu haben, die im Film gar nicht vorkamen, die Shaw aber in
ihren Befragungen nachträglich eingestreut hatte. Erinnerungen sind
unzuverlässig, manipulierbar und können zu falschen Urteilen führen, so
das Resümee in Julia Shaws eindrucksvollem Buch.
Die «Vergessenspille» steht bevor
«Mit
dem Heraufbeschwören einer Erinnerung kommt nicht nur die Vergangenheit
in die Gegenwart – auch die Gegenwart drängt sich in die
Vergangenheit», schreibt in ganz ähnlichem Sinne Douwe Draaisma,
Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen. In
seinem Buch versammelt der 53-Jährige in eher lockerer Verbundenheit
Geschichten über Täuschungen des menschlichen Erinnerungsvermögens.
Im
Mittelpunkt und etwas länglich geraten: Der Fall Ted Kaczynski, bekannt
als der «Unabomber», der ab Ende der 1970er Jahre in den USA
Briefbomben vornehmlich an Wissenschafter verschickte. Douwe Draaisma
rollt den Fall auf, um zu zeigen, wie sehr die Aussagen von Familie und
Freunden über Persönlichkeit und mögliche Motive Kaczynskis rückblickend
von seiner Tat her beeinflusst wurden.
Diese
Beeinflussbarkeit des Gedächtnisses dürfte künftig zunehmen, steht doch
die Entwicklung einer «Vergessenspille» bevor, die, so Draaisma,
unerwünschte Erinnerungen einfach auslöschen könnte. Ähnlich wirkende
Medikamente gibt es bereits.
Internet bringt Gedächtnis in Unordnung
Als
ob der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal diesen
bedenklichen Eingriff in das menschliche Bewusstsein vorausgeahnt hätte,
ist in einem seiner Briefe an Richard Strauss zu lesen: «An dem
Verlorenen festhalten, ewig beharren, bis an den Tod – oder aber leben,
weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele
preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch
bleiben, nicht zum gedächtnislosen Tier herabsinken.»
Dieses
schöne Zitat ist bei Aleida Assmann zu finden. Die kurz nach dem
Zweiten Weltkrieg geborene Kulturwissenschafterin hat sich in vielen
ihrer Arbeiten mit Erinnerungspolitik auseinandergesetzt. Immer wieder
spielte dabei der Holocaust als das konstitutive Ereignis im Gedächtnis
der Deutschen und Europas eine zentrale Rolle. Besonders deutlich wird
nun in «Formen des Vergessens» ihr Anliegen, der Verwandlung das Wort zu
reden, nicht der Zementierung von Erinnerung.
Was
absinkt in Archive, kann unter anderen psychologischen, sozialen und
politischen Bedingungen verwandelt wieder hervortreten, Abgegoltenes
oder auch Störendes zu Recht vergessen werden. Dieses Zusammenspiel von
Erinnern und notwendigem Vergessen sieht Assmann in ihrem lehrreichen
Buch durch die Speicherfähigkeit des Internets in Unordnung geraten. Wir
müssen uns mit dem Widerspruch auseinandersetzen, dass neue Medien auf
Informationsvermehrung, Wissensansammlung und Vernetzung angelegt sind,
während das menschliche Gedächtnis «von Vergessen grundiert, von
Verknappung bestimmt und mit Identitäten liiert ist», so Aleida Assmann.
Sich – wie bereits Goethe – dieser wertvollen menschlichen Verfasstheit
bewusst zu sein, ist wichtiger denn je.
Nota. - Was eben noch Wahrnehmung war, ist in der folgenden Sekunde bereits Erinnerung - und schon deswegen etwas anderes geworden, weil es in Gesellschaft mit Abermilliarden anderen Erinnerten tritt, die es unter ihre Fittiche nehmen.
Nun war aber auch die aktuelle Wahrnehmung selber nicht etwa rein, kristallklar und 'sie selber': Sie war ihrerseits tausend- oder millionenfach gesucht, ausgewählt und gefiltert. Die "dogmatische", wie Kant sie nennt, Auffassung des Erkennens als Abdruck oder Widerspiegelung der Dinge selbst ist, aller philosophi- schen Erwägungen unerachtet, unter rein physiologischen Gesichtspunkt nicht haltbar.
Die psychologische Auffassung vom Selbst als Summe des Erinnerten ist ihrerseits nicht vereinbar mit der Vorstellung, der Mensch sei "das Produkt seiner Erlebnisse". Was es wahrnimmt, erlebt und erinnert, hat es schon immer moduliert und modifiziert; 'als solches' gibt es das gar nicht.
JE