Nobelpreis für Physik
Abrupte Wechsel in der Kälte
Warum
ändern Materialien plötzlich ihre Eigenschaften? Das haben die mit dem
Nobelpreis geehrten David Thouless, Duncan Haldane und Michael
Kosterlitz aufgeklärt.
von Ralf Nestler
Wollte man die Arbeit der diesjährigen Physik-Nobelpreisträger mit der Geografie vergleichen, dann wäre ihr Forschungsgebiet die Antarktis. Ein eisiges Areal, das sich deutlich von den anderen Kontinenten unterscheidet. Ein schwer zu erreichender Erdteil, der wenig erforscht ist und viele neue Erkenntnisse verspricht.
David Thouless, Duncan Haldane und Michael Kosterlitz, denen die höchste wissenschaftliche Auszeichnung am Dienstag zugesprochen wurde, haben sich auf in die Kälte gemacht. Bei extrem niedrigen Temperaturen zeigt Materie seltsame Eigenschaften. Sie lässt sich nicht mehr mit den Zuständen fest oder flüssig oder gasförmig beschreiben. Stattdessen erreicht sie einen Zustand, in dem Quanteneffekte sichtbar werden.
Plötzlich verschwindet der elektrische Widerstand
Diese exotische Materie verhält sich merkwürdig. So verschwindet beispielsweise plötzlich der elektrische Widerstand und ermöglicht Supraleitung. Oder es ist tritt Suprafluidität auf: Flüssigkeit hat keine innere Reibung mehr. Sie dringt selbst in kleinste Ritzen und bleibt einfach an Ort und Stelle, wenn das Gefäß langsam rotiert wird. Bisher wurde die Suprafluidität bei Helium und Lithium experimentell nachgewiesen. Thouless, Haldane und Kosterlitz haben maßgeblich dazu beigetragen, derartige Phänomene zu erklären, heißt es zur Begründung des Preiskomitees. „Dank ihrer Pionierarbeit ist die Jagd auf neue und exotische Zustände von Materie eröffnet.“ Praktische Anwendungen lassen sich noch nicht aufzählen. Experten hoffen auf Fortschritte bei der Entwicklung von Supraleitern und Quantencomputern.
Paare trennen sich
Ein großer Gewinn ist die Theorie von Kosterlitz und Thouless, um einen topologischen Phasenübergang zu erklären. Mit „Phasenübergang“ bezeichnen Materialforscher normalerweise den Wechsel zwischen den bekannten Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig. Markant ist dabei, dass sich der Grad der Unordnung zwischen den einzelnen Atomen ändert, von regelmäßigen Gitterstrukturen hin zu zunehmend chaotischem Wirrwarr der Teilchen im Gas.
Beim topologischen Phasenübergang hingegen spielen winzige Wirbel (Vortices) in einem extrem flachen Material die entscheidende Rolle. Wie das Wasser um einen Strudel rechts- und linksherum rotieren kann, hat auch der Stromfluss in der Nähe der Vortices eine Vorzugsrichtung. Bei geringen Temperaturen treten die Wirbel stets paarweise auf. Steigt die Temperatur, lösen sie sich plötzlich voneinander und jeder wandert für sich durch das Material: Der Phasenübergang ist erfolgt. Damit erklärt sich beispielsweise, warum die Supraleitung bei einer bestimmten Temperatur plötzlich verschwindet, obwohl das betreffende Material weiterhin ein fester Körper ist.
Die Theorie wird auch in der Atomphysik und der statistschen Mechanik angewandt
Das Bestechende an der Theorie sei, dass sie nicht nur für sehr kalte Materie anwendbar ist, sondern auch in anderen Teilgebieten der Physik wie Atomphysik und statistische Mechanik, hebt das Preiskomitee hervor. Alle drei haben mit der Topologie Methoden der höheren Mathematik in ihr Fach übertragen, um die bestehenden Probleme zu lösen, heißt es weiter. Topologie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Veränderungen nicht graduell erfolgen – wie zum Beispiel die Temperatur, die beständig steigt –, sondern sprunghaft, wie die Stufen einer Treppe.
Die exotischen Eigenschaften von Materie und ihre sprunghaften Änderungen sind ein Forschungsfeld, das in den vergangenen Jahren viele Wissenschaftler angezogen hat. Sie hoffen beispielsweise darauf, den verlustfreien Stromtransport auch bei höheren Temperaturen zu ermöglichen. Bisher ist die Supraleitung nur auf wenige Spezialanwendungen beschränkt, etwa um starke Magnetfelder zu erzeugen.
Dem Quantencomputer etwas näher
Darüber hinaus könnten die grundlegenden Erkenntnisse helfen, einen Quantencomputer zu bauen. Während gewöhnliche Computer Informationen mit Nullen und Einsen speichern und nur ein „Entweder-Oder“ kennen, basieren die Computer der Zukunft auf einem „Sowohl-als-auch“-Konzept, das Nullen und Einsen zugleich erlaubt.
„Allerdings sind Quantencomputer sehr sensitiv, schon kleinste Störungen können sie aus dem Takt bringen“, sagt Achim Rosch von der Universität zu Köln. „Wenn es gelingt, die Bits nicht an einem bestimmten Ort zu codieren, sondern mittels Topologie, hätte man gewonnen.“ Eine Idee dazu sei, das Bit in zwei Teile zu zerlegen und diese an die beiden Enden eines Quantendrahts zu bringen. „Die Information wird räumlich aufgeteilt und ist weniger störanfällig.“
Ein Plan, der in jedem Fall nobelpreiswürdig ist. Wenn er aufgeht.
Nota. - Das Vorstellungsvermögen des physikalischen Laien ist natürlich überfordert, selbst bei anschau- lichster Vereinfachung. Und das nicht zuletzt darum: Die Vorstellung des gesunden Menschenverstands von der Natur als einem Reich, das von oben bis unten (oder unten bis oben) von ein und derselben Gesetzlich- keit durchdrungen ist, hat die Physik längst zu den Akten gelegt. Wie im feudalen Mittelalter gelten viel- mehr ja nach Stand, Ort und womöglich Jahreszeit allenthalben Sondererrechte; Privilegien, die durch nichts zu rechfertigen sind: Es herrscht nicht Recht, sondern Willkür.
Fragt sich: Wessen Willen ist es, der da kürt? Mit andern Worten: Warum ist das so?
Dabei fällt einem dann erst auf, dass die Vorstellung des gesunden Menschenverstands dieses Rätsel gar nicht vermieden, sondern im 'Gegenteil noch verschärft hatte: Wenn wirklich allerorten ein Gesetz gälte, wäre die Vorstellung von einem Gesetzgeber kaum noch abzuweisen. Dagegen kann, was wie Willkür aussieht, auch Zufall sein: Es ist, wie es ist und weil es ist, baste.
JE
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