Mittwoch, 5. Oktober 2016
Ist uns die Sprachfähigkeit eingeboren oder haben wir sie uns selber erworben?
Im heutigen Tagesspiegel gibt Hartmut Weweretzer einen kurzen Abriss des wissenschaftlichen Streits darüber, ob uns das Vermögen zur Sprache genetisch eingeboren ist, oder lediglich eine Leistung unserer Kulturgeschichte; Anlass ist ein neues Buch des amerikanihen Schriftstellers Tom Wolfe, das er kurz und knapp verreißt. Er fahrt fort:
"Der moderne Mensch entwickelte sich vor 150 000 bis 200 000 Jahren in Ostafrika, die Sprache folgte vor 80 000 bis 150 000 Jahren, schätzt Gerhard Roth. Entscheidend war die menschliche Anatomie. Der aufrechte Gang verlagerte den Kehlkopf nach unten und war so maßgeblich am Ausprägen der Sprechfähigkeit beteiligt, etwa der Möglichkeit, Vokale zu artikulieren. Im Gehirn rückte – im Vergleich zu den nächsten Verwandten des Menschen – Sprache und Sprechen „nach oben“, in die hochentwickelte Hirnrinde. Hier ist die Sprache fest in einer Reihe von Hirnzentren und Verbindungsrouten verankert. So fest, dass ein Neurologe von der gestörten Sprache eines Schlaganfall-Patienten ableiten kann, welches Hirnareal ausgefallen ist. Und schließlich haben in den letzten Jahren erste Funde von Sprach- oder Grammatik-Genen wie FoxP2 von sich reden gemacht.
Es könnte gut sein, dass das alles die nötigen Ingredienzen für den menschlichen Sprachinstinkt sind, für eine tiefe biologische Verwurzelung der Sprache à la Pinker. und Chomsky. Es kann aber auch sein, dass das Gehirn wie ein Schweizer Armeemesser funktioniert. Ausgestattet mit einigen exzellenten intellektuellen Werkzeugen ist es in der Lage, sich eine Sprache zurechtzuschneidern und sie sich anzueignen, bei jedem Menschen aufs Neue. Das ist Tomasellos Annahme. Wer hat recht? Am Ende werden die Tatsachen den Streit entscheiden."
Was immer Sprache sonst noch ist, sie ist auch ein artikuliertes System von Symbolen. Ein Symbol symbolisiert etwas, sonst ist es keins. Was ist dieses Etwas? Es ist die Bedeutung des Symbols. Ein Symbol gibt es nicht ohne Bedeutung. Aber gibt es Bedeutungen ohne Symbole? Aber ja, so ist es in unserm alltäglichen Denken. Bedeutungen scheinen auf im Gedankenstrom, verbinden sich mit den darauf folgenden zu neuen, komplexeren Bedeutungen, und so fort. Wenn ich nicht absichtlich darauf merke, ziehen sie an mir vorbei bis an den Punkt, 'auf den ich hinauswollte': das Denkergebnis. Wenn ich das erfassen und behalten will, dann allerdings brauche ich ein Symbol. Erst das Symbol macht eine Bedeutung fungibel, und das bedeutet letzten Endes nichts weiter als: bedeutend, denn eine Bedeutung, mit der sich nichts anfangen lässt, ist keine.
Historisch wird es sich so zugetragen haben, dass sich Bedeutungen und ihre Wortsymbole in einem systemischen Prozess miteinander und auseinander entwickelt haben - das Ganze hat schließlich eine Vorgeschichte von einigen Millionen Jahren. Da ist die Frage, ob das Ei früher da war als die Henne, sinnlos. Aber genetisch ist die Antwort eine ganz andere: Sie mögen sich gleichzeitig und zusammen entwickelt habe; aber die Wortsymbole um der Bedeutungen willen, und nicht umgekehrt.
JE
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