Ich denke, also mache ich Voraussagen
Eine
neue Theorie der Kognition beschreibt unser mentales Leben als
ständigen Strom von Prognosen und Fehlerkorrekturen: Predictive Coding.
Die glatte und feste Tasse
«Wenn Sie zum Beispiel nach einer Tasse greifen, erwarten Sie, dass sie sich glatt und fest anfühlt. Tut sie das, werden Sie es nicht weiter bemerken. Ist sie aber zum Beispiel weich und klebrig, läuten im Gehirn die Alarmglocken, und Sie wenden der Tasse Ihre Aufmerksamkeit zu: ‹Was ist denn da los?›» – So erklärt es Martin V. Butz, Professor für kognitive Modellierung an der Universität Tübingen. Dieses Verfahren spart Betriebsenergie, denn die höheren Ebenen der Kognition müssen sich nur mit dem befassen, was von den Erwartungen abweicht, mit den Voraussagefehlern. Alles, was den Erwartungen entspricht, wird auf den unteren neuronalen Ebenen abgehandelt.
Ganz
neu ist diese Idee nicht, sie geht vielmehr auf Arbeiten aus dem 19.
Jahrhundert zurück, auf Ansätze von Psychologen wie Johann Friedrich
Herbart, Hermann von Helmholtz und William James. Sie entwickelten die
Idee, dass unsere Wahrnehmung der Dinge der Welt davon abhängt, was wir
mit ihnen machen können. Demnach sehen wir nicht einfach Objekte,
sondern mögliche Handlungen, im Wissenschaftsidiom: «Affordanzen». Die
Tasse fordert uns auf, Tee hineinzuschütten, sie zum Mund zu führen und
zu trinken. Denn das ist es, was wir mit der Tasse verbinden, darin
besteht der Begriff, den wir von ihr haben, und so ist sie auch in den
Schaltkreisen des Gehirns «gespeichert».
Friston
hat dieser Idee eine anspruchsvolle mathematische Form gegeben, die im
Wesentlichen auf einer informationstheoretischen Analogie zum Prinzip
der freien Energie aus Thermodynamik und Bayesscher Statistik beruht.
«Tasse» ist darin nicht mehr einfach ein Begriff, sondern ein
«Attraktor», auf den sich ein kognitives System einpendelt. Diese
Theorie besagt nicht, dass Neuronen Gleichungen lösen. Sie ist vielmehr
ein mathematisches Werkzeug, mit dem Forscher Denkprozesse modellieren
und auch testen können: etwa indem sie die Aktivität der Neuronen
simulieren und mit Messdaten vom Gehirn vergleichen. In der Tat werden
eingehende Reize je nach Neuigkeitswert im Gehirn unterschiedlich stark
abgeschwächt. Und auch die Anatomie spricht für die neue Theorie. So
stammt etwa der allergrösste Teil der Reize, mit denen sich der für das
Sehen zuständige Bereich des Gehirns beschäftigt, nicht von den Augen,
sondern aus anderen Teilen der Grosshirnrinde: Das Gehirn befasst sich
vor allem mit sich selbst.
Anschlussfähigkeit gegeben
Die
Theorie des Predictive Coding hat sich zu einer Theorie «für alles» zu
entwickeln begonnen. Auch Illusionen und Halluzinationen, Schizophrenie
und Autismus werden damit zu erklären versucht – oder uneindeutige
Wahrnehmungen wie der Eindruck, der Zug, in dem man sitzt, fahre los,
obgleich sich der auf dem Nachbargleis in Bewegung setzt. Alles dies
seien Ergebnisse falscher Voraussagen. Selbst die Neugier, die einem nur
auf Überraschungsvermeidung ausgerichteten Gehirn fremd sein könnte,
findet ihre Erklärung: Wir interessieren uns für alles, von dem wir uns
etwas für unser Verhalten Relevantes versprechen, und auf die Dauer
reduziert es eben Überraschungen, sich für überraschende Neuigkeiten zu
interessieren.
«Die Theorie
ist attraktiv, weil sie nicht unmittelbar von den neuronalen Prozessen
im Gehirn handelt, sondern auf einer abstrakteren Ebene angesiedelt
ist», sagt Wanja Wiese, Philosoph an der Universität Mainz. So könne die
Theorie auf der einen Seite für Neurowissenschafter, auf der anderen
für Kognitionsforscher anschlussfähig sein. Wiese ist ein Vertreter der
jungen Generation in der Philosophie: Er hat ein Diplom in Mathematik,
die Theorie des Predictive Coding macht ihm keine Angst. Sein Lehrer Thomas Metzinger, Professor für Philosophie des Geistes in Mainz,
sieht das weniger entspannt: «Wenn sich diese Theorie durchsetzt, ist
das für meine Generation das Aus.» Aber auch er spürt den
philosophischen Sog des Predictive Coding. Immerhin verspricht der
Ansatz einen einheitlichen begrifflichen Rahmen für Wahrnehmen, Handeln
und Aufmerksamkeit: Scheinbar ganz unterschiedliche Phänomene erweisen
sich als Ausdruck desselben formalen Prinzips. Und auch Fristons
Wortwahl trägt dazu bei, die Philosophen neugierig zu machen: So sei der
Körper selbst ein Modell der Welt, in der der Organismus sich
entwickelt habe. Ob das mehr bedeutet, als dass der Körper eben in
dieser bestimmten Umwelt entstanden ist, ist nicht recht klar, doch das
Interesse ist geweckt und führt in der Philosophie zu neuen
Konfliktlinien.
Da ist zum
einen der Streit um die «Verkörperung» des Denkens. Die ältere Theorie
besagt, dass wir im Kopf Repräsentationen für die Dinge in der Welt
bilden und Denken darin besteht, mit diesen Repräsentationen mental zu
hantieren. Der Theorie vom verkörperten Denken gemäss sind diese
Repräsentationen nichts Abstraktes, sondern Körperzustände, die eng mit
Handlungen, Emotionen und der Umwelt verknüpft sind. «Die letzten
dreissig Jahre haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, dass Kognition
nicht nur im Kopf stattfindet. Der neue Ansatz verlagert das Denken
jetzt wieder in den Kopf zurück», konstatiert Metzinger.
Und die «Voreinstellungen»?
Hier
zeigt sich allerdings, dass ein allgemeiner begrifflicher Rahmen für
alle kognitiven Vorgänge eben ein sehr allgemeiner Rahmen ist: Vertreter
beider Kognitionstheorien sehen sich in ihren Ansichten bestätigt. Und
auch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Bewusstseinstheorien wird von
der Theorie des Predictive Coding eher nicht entschieden: «Vielleicht
liefert sie einen gemeinsamen Rahmen, der Theorien, die unterschiedliche
Aspekte hervorheben, verbinden kann», so Wiese.
Auch
Martin Butz sieht noch Klärungsbedarf: «Auf der
kognitionswissenschaftlichen Seite ist diese Theorie für mich die
plausibelste, die wir haben, endlich eine klare mathematische
Formulierung, wie ein lernendes System aussehen könnte.» Eine Theorie
wäre das, die allgemein genug ist, um sowohl die Vorgänge im Gehirn als
auch diejenigen beim «Maschinenlernen» zu beschreiben.
Aber
weder lernende Maschinen noch Menschen kommen ohne «Voreinstellungen»
aus, die entweder der Programmierer oder die Evolution vorsieht. «Das
wird bei Predictive Coding zu wenig berücksichtigt, wir Menschen haben
ein sehr allgemeines Lernsystem, aber völlig frei ist es nicht», sagt
Butz. «Bevor diese Theorie erklären kann, wie höhere Kognition entsteht,
muss sie noch viel spezifischer werden.» – Vielleicht zeigt sich dann
indes, dass wir im Oberstübchen ja doch noch etwas mehr tun, als immerzu
nur Prognosefehler zu korrigieren.
Manuela Lenzen ist promovierte Philosophin und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin (http://www.manuela-lenzen.de/).
Nota. - Na selbstverständlich tun wir im Oberstübchen noch etwas mehr, als immerzu nur Prognosefehler zu korrigieren. Nämlich Prognosen entwerfen. Die kämen von allein durch die Erfahrung auf uns zu? Aber die Erfahrung bestand in der Korrektur von Prognosefehlern.
Man kann es drehen und wenden wie man will: Um die Annahme einer Allerersten Prognose kommen wir nicht herum. Damit Erfahrungen überhaupt gemacht werden können, müssen nicht nur die Instrumente - Kants Apriori - 'zuhanden' sein, sondern ein vorgängiger Sinnentwurf: Fichtes Tathandlung.
Wenn nun das Predictive Coding ideengeschichtlich bis auf J. F. Herbart (und mit ihm auf die englische Assoziationspsychologie) zurückgeführt wird, sollte nicht vergessen werden, dass Herbart bei J. G. Fichte in der philosophischen Lehre war. Ein früh und entschieden abtrünniger Schüler zwar, aber es hat ihn nicht gehindert, sich am Meterial der Fichteschen Philosophie reichlich zu bedienen (wie später auch Schopen- hauer).
Hier ist es der Primat des Praktischen in all unserer Vorstellungstätigkeit; ihrer Intentionalitä und Gerichtet- heit: 'Wollen', 'Streben', 'Trieb'. Das (lediglich zum Behuf der Erklärung angenommene) 'Ich' ist ursprünglich schlechthin handelnd, aber es handelt nicht nur 'einfach so', sondern immer um zu....
Wenn man also sucht, mit welcher Philosophie sich die neue Psychologie am besten verträgt, muss man nicht weit gehen, es reicht ein Klick zu meinem Blog. (Dass Metzinger das nicht passt, habe ich nicht anders erwartet. Würde er mir zustimmen, hätte ich einen Fehler gemacht.)
JE
Nota. - Na selbstverständlich tun wir im Oberstübchen noch etwas mehr, als immerzu nur Prognosefehler zu korrigieren. Nämlich Prognosen entwerfen. Die kämen von allein durch die Erfahrung auf uns zu? Aber die Erfahrung bestand in der Korrektur von Prognosefehlern.
Man kann es drehen und wenden wie man will: Um die Annahme einer Allerersten Prognose kommen wir nicht herum. Damit Erfahrungen überhaupt gemacht werden können, müssen nicht nur die Instrumente - Kants Apriori - 'zuhanden' sein, sondern ein vorgängiger Sinnentwurf: Fichtes Tathandlung.
Wenn nun das Predictive Coding ideengeschichtlich bis auf J. F. Herbart (und mit ihm auf die englische Assoziationspsychologie) zurückgeführt wird, sollte nicht vergessen werden, dass Herbart bei J. G. Fichte in der philosophischen Lehre war. Ein früh und entschieden abtrünniger Schüler zwar, aber es hat ihn nicht gehindert, sich am Meterial der Fichteschen Philosophie reichlich zu bedienen (wie später auch Schopen- hauer).
Hier ist es der Primat des Praktischen in all unserer Vorstellungstätigkeit; ihrer Intentionalitä und Gerichtet- heit: 'Wollen', 'Streben', 'Trieb'. Das (lediglich zum Behuf der Erklärung angenommene) 'Ich' ist ursprünglich schlechthin handelnd, aber es handelt nicht nur 'einfach so', sondern immer um zu....
Wenn man also sucht, mit welcher Philosophie sich die neue Psychologie am besten verträgt, muss man nicht weit gehen, es reicht ein Klick zu meinem Blog. (Dass Metzinger das nicht passt, habe ich nicht anders erwartet. Würde er mir zustimmen, hätte ich einen Fehler gemacht.)
JE