Sonntag, 18. September 2016

Was hat die Liebe mit Sex zu tun?

A. Canova, Eros
aus nzz.ch, NZZ am Sonntag, 18.9.2016, 10:05 Uhr

Sexualität
Was hat Sex mit Liebe zu tun?
In der Antike nur lose verbunden, rückten Sex und Liebe, zuerst durch die Kirche, dann durch die Romantik, immer enger zusammen. Doch haben diese Deutungsmuster heute noch Gültigkeit? 

von Martin Helg 

Was Sex und Liebe miteinander zu tun haben? Nun, eigentlich kann die Liebe dem Sex gestohlen bleiben. Er war auf jeden Fall zuerst da. Ihm verdanken wir unsere Existenz, nackt steht er am Anfang. Alle wissenschaftlichen Versuche, Sex und Liebe in einem natürlichen Zusammenhang zu sehen, sind Spekulation geblieben. Was also hat Sex mit Liebe zu tun?



Wenig in Sachen Biologie, viel, wenn es um das psychische Erleben geht. Immerhin reden wir von «Liebe machen»! Betrachtet man die Wertvorstellungen, die unsere Gefühle und Verhaltensmuster quer durch die Epochen bestimmt haben, zeigt sich, dass sich die beiden ungleichen Geschwister in weiten Bögen aufeinander zu bewegen – bis sie sich endlich, im heiligen Ideal der romantischen Liebesbeziehung, auf ewig vereinigen.

Erkenntnis im Bett

Nicht einmal die Errungenschaften der sexuellen Revolution, die der Lust heute ein autonomes Existenzrecht einräumen, konnten den Siegeszug der Romantik stoppen; dem wachsenden Erlebnisangebot der One-Night-Stands, der Prostitution und Pornografie zum Trotz sind Sex und Liebe heute untrennbar miteinander verknüpft. Ihre Exklusivität bildet die Grundlage der Paarbeziehung, seit Familie, Gesellschaftsschicht und Religion ihre Bestimmungsmacht auf diesem Gebiet verloren haben.

Soziale Faktoren wie Status oder Bildung spielen zwar nach wie vor eine Rolle, aber je individualistischer die Menschen organisiert sind, desto unbedeutender sind diese Faktoren. Als Basis einer allein durch sich selbst legitimierten Gefühlswahl wird stattdessen die körperlich konkrete Person immer wichtiger, ihr Charakter, ihr Aussehen und das, was wir als «erotisches Kapital» bezeichnen.

Sex – so der Befund einflussreicher Soziologen wie Eva Illouz und Anthony Giddens – ist zu dem bestimmenden Faktor zeitgenössischer Beziehungen geworden. Fehlt er, hat die Beziehung – und damit letztlich auch die Liebe selbst – ein Rechtfertigungsproblem.

Wie konnte der Sex so viel Macht erlangen? Es ist das Konzept der romantischen Liebe, um 1750 von europäischen Dichtern und Denkern erfunden und seither kontinuierlich modernisiert, das die ungleichen Geschwister erstmals in einem «Gesamtpaket» anpries. Es setzte sich gegen die ständische Vernunftehe durch, in der das kalte Kalkül regierte und die Macht der Mächtigen durch Zweckbündnisse festigte.

Ein revolutionärer Geist durchwehte das neue Ideengebäude deshalb vom ersten Tag an – und hat sich bis heute nicht daraus verzogen, obwohl der romantische Imperativ längst seinerseits despotisch regiert. «Manche würden sich nicht verlieben, wenn sie davon noch nie gehört hätten», schrieb im 17. Jahrhundert der Schriftsteller François de La Rochefoucauld.

Dieser Eventualität stellten sich die grossen Werbeagenturen der Romantik mit Entschlossenheit entgegen: der bürgerliche Roman und später die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno auf diesen Namen getaufte «Kulturindustrie». Legionen von Groschenromanen und Liebesfilmen singen das Lied der monogamen Liebe, Samtkissen in Herzform, auf die die Partner nachts ihre Köpfe betten, schliessen das Postulat mit den Körpern kurz.

So weit schon hat es sich unseres Denkens und Fühlens bemächtigt, dass wir Sex nicht mehr als Medium der Lust, sondern der Selbsterkenntnis begreifen, «als sei es wesentlich für uns, aus diesem kleinen Bruchstück unserer selbst auch Wissen zu ziehen», wie Michel Foucault im raunenden Duktus schreibt: «Zwischen einem jeden von uns und unserem Sex hat das Abendland eine unaufhörliche Wahrheitsforderung gespannt.»

Wo es aber um Wahrheit geht, ist die Religion nicht weit. «Sex ist zum Gegenstand einer grossen Predigt geworden, der die Tradition des theologischen Predigens ersetzt», diagnostiziert Anthony Giddens.

«Du darfst ein Mädchen umarmen, aber du musst eingestehen, 
dass es eine Sünde war.»

Dass Sex und Liebe dereinst zum goldenen Kalb verschmelzen würden, darauf deutete lange Zeit wenig hin. Die alten Griechen unterschieden zwischen der Liebe zum Körper und jener zur Seele und werteten die Liebe zur Seele höher.

In der Erzählung der Ilias, an deren Beginn der Raub einer sexuell begehrenswerten Frau steht, geht die Liebe vor lauter Machtpolitik vergessen, während im Nachfolge-Sequel, der Odyssee, der Held seinen Status festigt, indem er Gefühlsangebote zurückweist. Kalypso, die ihn als Sexsklaven in ihrer Höhle hält, verlässt er; mit Kirke, die seine Gefährten in Schweine verwandelt, handelt er eine Immunitätsklausel aus; und mit zugestopften Ohren segelt er an den singenden Sirenen vorbei.

Nicht dass die Antike prüde gewesen wäre. Sex in allen Formen sei damals eine Art «Niesen mit dem Unterleib» gewesen, schreibt der Historiker Kyle Harper. Nur als Ausdruck von Liebe wurde er vermutlich weniger verstanden. Die Liebeslyrik eines Catull oder Horaz oder die «Ars amatoria» Ovids gelten unter Spezialisten eher als Gegenentwurf zu einer unromantischen Wirklichkeit, in der sogar die Familie mehr Geschäfts- als Gefühlsverbund war und Ehefrauen durch Prostitution zum Haushaltseinkommen beitrugen.

Schon in der Antike offenbart sich zudem ein chronisches Strukturproblem, das dem freien, von Liebe geleiteten Gebrauch der Lust bis ins 20. Jahrhundert hinein entgegensteht: die Unterdrückung der Frauen durch die Männer. Sex in der Ehe diente der Fortpflanzung, zur weiteren Befriedigung boten sich den Männern – und nur ihnen! – Sklavinnen und Prostituierte an. Oder die Knabenliebe, bei der Jünglinge ihre Gunst im Tausch gegen Weisheit gewährten.

Später hob die Kirche die Frau auf den Sockel der Marien-Ikonografie, um sie gleichzeitig von institutionellen Entscheidungen auszuschliessen. Und so weiter. Die über lange Zeit währende Macht-Asymmetrie auch in sexueller Beziehung gleicht erst die Frauenemanzipation aus. Sie ging für die Frauen mit einem Mehr an Privilegien und für die Männer mit einem Verlust von solchen einher.

Geist gegen Materie

Doch lange bevor es so weit war, ordnete erst einmal das Christentum die Lüste und Gefühle neu. Der Philosoph Michel Foucault konnte anhand der Religion, die wie keine zweite Ideologie den abendländischen Wertekanon prägte, seine «Repressionshypothese» veranschaulichen. Sie besagt, dass die Regulierung bzw. Unterdrückung der Sexualität zu allen Zeiten der Machtfestigung gedient habe.

Den Kirchenvätern gelang dies in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, indem sie die Ideale der Jungfräulichkeit und der Enthaltsamkeit postulierten und mit Tertullian um 200 auch die «Erbsünde», die den Menschen zum Sünder von Geburt an erklärt. Ergänzend boten sie den Gläubigen die Erlösung vom Teufel durch das Eingeständnis ihrer Schuld an. «Das Christentum ist im Wesentlichen die Religion der Beichte», schreibt Foucault.

Dass Luther später das katholische Buss-Institut zerlegte und den Sündenablass verbot, bedeutete in sexueller Hinsicht auch keine Befreiung. Im Gegenteil: Indem der Reformator die Strafgerichte aus den Kirchen in die Köpfe der Gläubigen verlegte, verewigte er deren Gewissensqualen. Wer konnte ihnen jetzt noch Absolution erteilen?

Heinrich Heine: «Luther hatte nicht begriffen, dass der Katholizismus ein Konkordat war zwischen Gott und dem Teufel, d.h. zwischen dem Geist und der Materie, wodurch die Allgemeinherrschaft des Geistes in der Theorie ausgesprochen wird, aber die Materie in den Stand gesetzt wird, alle ihre annullierten Rechte in der Praxis auszuüben. Du darfst ein schönes Mädchen umarmen, aber du musst eingestehen, dass es eine schändliche Sünde war.»

Im Morgengrauen der Neuzeit hatte sich der Sex im Unterholz der Schuld verlaufen. Und was machte unterdessen die Liebe? Sie brauchte noch ein wenig Zeit. Lange war sie den Göttern vorbehalten gewesen, die sich stellvertretend für die Menschen als Individuen gebärdeten und ihre Spielchen trieben. Die Sterblichen waren derweil damit beschäftigt, den Erfordernissen des Kollektivs zu genügen. Vielleicht befreundeten sie sich da und dort, vielleicht pflegten sie die Nächsten-, Gottes- oder Gattenliebe.

In der antiken Liebeslyrik und später im Minnesang nahm die Liebe eine erotische Färbung an. Aber auch hier waren die Spielregeln – meist wenden sich Männer an unerreichbare Frauen – mehr von der sozialen Norm geprägt als vom Subjekt und seinem Gefühl. Und doch haben die Dichter der Romantik vorgespurt.

Der Soziologe Niklas Luhmann interpretiert die von den Troubadouren besungene «höfische Liebe» als Prozess der Konzentration: «Die alte Differenz von häuslicher Reproduktion und Liebesaffären ausserhalb wird nicht beseitigt, aber überformt durch die Idee einer grossen Liebe, die einer und nur einer Frau gilt.»

Weiter diagnostiziert Luhmann eine Grenz-Auflösung zwischen Körper und Geist – jenes folgenreichen, auf Platon zurückgehenden Dualismus, der der christlichen Körperfeindlichkeit zugrunde lag. Schritt für Schritt – und vorerst nur im gebildeten Adel – bahnte sich die Versöhnung von Geschlechtslust und seelischer Freundschaft an, die schliesslich durch die Erfindung der romantische Liebe geheiligt werden sollte.

Der erste Blick zählt

Die Voraussetzungen dafür schuf die gesellschaftliche Gesamterneuerung des 18. und 19. Jahrhunderts. Die grossen politischen Revolutionen besiegelten den Untergang der ständischen Ordnung, in den industriellen Produktionszentren formulierte das Bürgertum seinen Machtanspruch.

Dem öffentlichen Raum des Hofes setzte es den privaten der Familie entgegen, der kollektiven Sitte das individuelle Gefühl. Das intellektuelle Programm dazu lieferten Künstler und Dichter wie William Turner, William Wordsworth oder Jane Austen in England, Novalis, Eichendorff, die Brüder Schlegel oder Caspar David Friedrich in Deutschland.

Zunächst war der romantische Liebesdiskurs eine elitäre, auf Transzendenz und Todessehnsucht gestimmte Schwärmerei. Doch in der Rezeption durch das Bürgertum – beginnend mit Goethes Bestseller «Die Leiden des jungen Werthers» – festigte er sich zum praktikablen Beziehungsmodell, in dem Sexualität, leidenschaftliche Liebe und Freundschaft einen Verbund bildeten.

Ihren Platz fand die romantische Liebe in der Ehe, zu deren notwendiger Voraussetzung sie wurde: Das Konzept der Liebesheirat war geboren. Es bezog zwar zunächst materielles Abwägen ein, blieb standesgemäss und kirchlich beglaubigt, setzte aber mit dem Primat des Gefühls das Strategiedenken des Adels ausser Kraft. Ein Neubeginn!

Und das war’s dann mit der Freiheit bis zum heutigen Tag – für den Sex wie für die Liebe. Sie sind nie wieder voneinander losgekommen. Zwar emanzipierte sich die romantische Liebe von der Ehe, aber der Rückbezug auf Sex und Gefühl blieb.

Ebenso der spirituelle Fluchtpunkt: Emile Durkheim, Mitbegründer der Soziologie, beschrieb die Liebe vor hundert Jahren als Nachfolgerin des Heiligen und Verkörperung des Ausseralltäglichen auf Erden, der Bestsellerautor Alain de Botton stellt heute die gleiche Diagnose auf der Website seiner philosophischen Bildungsanstalt «School of life»: «Ein Idealismus, der zuvor Göttern und Geistern galt, richtet sich nun auf die Menschen.»

Mit zum Gesamtpaket gehört der vom Christentum übernommene sexuellen Exklusivitätsanspruch. Unabhängig vom religiösen Begründungszusammenhang versteht die Romantik Treue als konstitutives Element der Liebe. Im Gegenzug verspricht sie die Erfahrung einer Seelenverwandtschaft, die sich im Idealfall schicksalshaft auf den ersten Blick kundtut – «across a crowded room», wie es im Englischen heisst, über die «tiefen Blicke », von denen Goethe schreibt.

Romantische Liebe ergreift uns, wir fühlen uns ihr gegenüber machtlos. Paradoxerweise halten wir sie für umso wahrhaftiger, je sorgloser sie sich über soziale Gegebenheiten hinwegsetzt. Als Folge davon hält sie dem Alltag selten unbeschädigt stand. «Ich glaube nicht, dass Liebe etwas ist, das in natürlicher Weise mit der Zubereitung des Frühstücks, dem Wäschewaschen und solchem Zeug in Einklang zu bringen ist», sagt eine Frau in Eva Illouz’ soziologischem Liebes-Klassiker «Der Konsum der Freiheit».

Schon der bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts beschreibt dieses Dilemma, wobei damals vor allem für die wirtschaftlich abhängigen Frauen viel auf dem Spiel stand: Effi Briest, Emma Bovary und Anna Karenina opfern ihre Ehen, um dem Ruf ihres Herzens zu folgen. Symbol ihrer emotionalen Untreue ist jeweils die sexuelle – das Zweierticket von Sex und Liebe wird für alle drei Frauen zum sozialen Verderben.

Seit Antibabypille, Feminismus und sexuelle Revolution die letzten gesellschaftlichen Hemmnisse aus dem Weg geräumt haben, hat sich die Diktatur der romantischen Idee noch verschärft. Die Vorstellung, ihr nicht zu entsprechen, ist heute das, was früher die Sünde war – Beziehungen scheitern daran. Und so fehlt es denn nicht an Versuchen, die ungleichen Geschwister Sex und Liebe wieder voneinander zu trennen.

Zuerst zielten diese darauf ab, den Sex aus seinem Gefängnis zu befreien. Die 68er, die nebenbei viel zur Gleichberechtigung der Frauen beitrugen, propagierten die «freie Liebe». Doch allein schon der missverständliche Kampfbegriff zeugt von der Schwierigkeit, vom romantischen Projekt loszukommen. Nur die Speerspitze der Tapfersten lebte sich unbeschwert aus, der Rest der Kommunarden soll sich in Eifersucht verstrickt haben.

Abschaffung missglückt

Seit sich der Sex seine autonome Existenzberechtigung zurückerkämpft hat, muss er sich der romantischen Liebe im freien Wettbewerb stellen – ein Vergleich, der nicht zu seinen Gunsten ausfällt. Statt das Augenmerk weiter auf den Sex zu legen, knöpfen sich neue Diskurse und Praktiken deshalb eher die Liebe vor.

Eva Illouz versucht, diese auf ihre kulturelle und kommerzielle Konstruiertheit hin transparent zu machen, wobei sie sich hütet, das goldene Kalb zu schlachten. Stattdessen ruft sie dazu auf, den Alltag samt Kinderaufzucht in eine romantisch unbelastete WG zu verlagern, um das Liebesprojekt zu entlasten.

Andere versuchen das Problem zu lösen, indem sie angesichts einer promisken Wirklichkeit «das Ende der Liebe» proklamieren – der Autor Sven Hillenkamp tat dies in seinem gleichnamigen Sachbuch. Durch solche Diagnosen ist die romantische Idee aber so wenig zu erschüttern wie die Gottessehnsucht durch Nietzsches altes Diktum «Gott ist tot».

Das heilige Ideal des sexuell konnotierten, aber den ganzen Menschen erfassenden Gefühls, bei Novalis einst «blaue Blume» genannt, bleibt, es sucht sich nur neue Namen: offene Beziehung, sexpositiver Feminismus, serielle Monogamie, Polyamorie.

Das Vokabular der Beziehungsformen kennt seit einiger Zeit auch den Fachausdruck «Friends with benefits». Er steht für Sex mit Freunden, der frei ist vom Erfolgsdruck des romantischen Projekts und deshalb so entspannt und tolerant bleibt, dass die Freundschaft keinen Schaden nehme. Es klingt nach einer praktikablen Beziehungsform. Oder lauert hier irgendwo schon wieder Amor?


Nota. - Es gibt Menschen, die meinen, sie könnten ohne Sex nicht leben. Doch könnten sie es, wenn es numal nicht anders ginge, wahrscheinlich doch. Tatsächlich würden die meisten Menschen ohne Liebe nicht leben können. Den Sex braucht der Mensch als Gattungswesen, Liebe braucht er als Individuum. Doch selbst die Gattung könnte den Sex durch Reproduktionstechnik erübrigen. Dadurch stürbe er ver- mutlich nicht gleich aus. Aber er würde zu einer Marotte wie die Lust auf Süßes oder auf saure Gurken.

Die Liebe bliebe davon unbeschädigt, denn sie ist eine Leidenschaft. Das ist ein Wort, das im obigen Text gar nicht vorkommt. Gefährlich ist eigentlich sie, nicht der Sex, den gibt es safer. Das ist wohl der Grund, weshalb die neueste Prüderie ihn der Liebe vorzieht. Fortleben des romantischen Liebesdiktats, Herr Helg? Ich beobachte vielmehr seit einem halben Jahundert die Allgegenwart der Pornographie. Brunst ist keine Leidenschaft, sondern ein bloßes Bedürfnis. Gescheite Leute nehmen damit vorlieb. 
JE




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