Dienstag, 20. September 2016

Geschichte der Kybernetik.


 
aus nzz.ch,14.9.2016, 05:30 Uhr                                                  Norbert Wiener

Thomas Rids Geschichte der Kybernetik
 
Der unaufhaltsame Aufstieg der Maschinen 
Der am Londoner King's College lehrende Cyber- und Sicherheitsexperte Thomas Rid erzählt in einem neuen Buch die Geschichte der Kybernetik seit ihren Anfängen – leider nicht bis heute.

von Oliver Pfohlmann 

Digitale Doppelgänger bekannter realer Phänomene werden gern mit der Vorsilbe «Cyber-» versehen: Cybergeld, Cyberkrieg, Cybersex. Mehr als dreissig Jahre ist es her, dass William Gibson in seiner Kurzgeschichte «Burning Chrome» den «Cyberspace», die virtuelle Realität, erfand, und noch immer klingt dieses Präfix nach Science-Fiction. Anders als die Wissenschaft, von der es sich ableitet, die Kybernetik. Sie lässt heute allenfalls an turnhallengrosse Rechner mit wild blinkenden Lämpchen denken oder an verrückte Wissenschafter vom Typ Dr. Seltsam wie in Stanley Kubricks berühmter Satire auf den Kalten Krieg von 1964. 

Ursprung im Krieg

Tatsächlich liegen die Wurzeln dieser Wissenschaft in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, als der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener (1894–1964) Probleme der automatischen Zielerfassung bei der Flugabwehr zu lösen versuchte. Allerdings erfolglos, wie Thomas Rid in seiner Studie «Maschinendämmerung» konstatiert. Trotzdem entwickelte Wiener aus seinen Ideen über Kontrolle, Steuerung und Rückkopplungsschleifen eine wirkmächtige Theorie, die für Maschinen ebenso wie für lebende Organismen gültig sein sollte und deren Veröffentlichung ihn 1948 berühmt machte.

Eine revolutionäre, interdisziplinäre Grundlagenwissenschaft, von der sich eine ganze Wissenschaftergeneration anregen liess.

Die Kybernetik präsentierte sich als revolutionäre, interdisziplinäre Grundlagenwissenschaft. Bald liess sich eine ganze Wissenschaftergeneration von ihr anregen, Vordenker des US-Militärs wie der Mathematiker John von Neumann, Biologen wie Ludwig von Bertalanffy, Anthropologen wie Gregory Bateson oder Soziologen wie Talcott Parsons. Aber auch der Scientology-Gründer L. Ron Hubbard, der in Wieners Theorie das perfekte Werkzeug zur Bewusstseinskontrolle gefunden zu haben glaubte. Der entsetzte Norbert Wiener freilich habe Hubbards «Dianetik» mit Voodoo und Mesmerismus verglichen, so Rid.

Weil der Autor den Fokus auf die Entwicklung in den USA legt, erfährt man aus seiner mit knapp 500 Seiten gar nicht einmal so kurzen «kurzen Geschichte der Kybernetik» leider nichts über die Grossversuche in den sechziger und siebziger Jahren, mittels kybernetischer Einsichten ganze Gesellschaften zu steuern – wie in Chile, wo Salvador Allende mit dem Projekt «Cybersyn» die Wirtschaft zentral in Echtzeit kontrollieren wollte; jüngst nachzulesen in Sascha Rehs Roman «Gegen die Zeit». Davon abgesehen liefert Rids Studie eine eindrucksvolle und spannend zu lesende Sammlung von Beispielen dafür, welche utopischen und dystopischen Visionen, welche Hoffnungen und Ängste sich an Wieners «allgemeiner Maschinentheorie» entzündeten. Schon Norbert Wiener selbst rätselte, ob die Maschinen den Menschen befreien oder nicht doch eines Tages unterjochen würden.

Zwei «Muster»

Zwei «Muster» prägten nach Rid die Geschichte der Kybernetik: Da ist zum einen der wiederkehrende Zyklus vom «Aufstieg und Fall der Maschinen». Ein ums andere Mal sei die Phantasie den realen technischen Möglichkeiten weit voraus gewesen: Schon 1960 träumte man vom Einsatz von Cyborgs, Mischwesen aus Mensch und Maschine, auf dem Mond, konnte aber nur Laborratten maschinell gesteuerte Injektionspumpen implantieren. Nicht anders die Visionen der Militärs: 1964 konstruierte General Electric den fünfeinhalb Meter hohen «Pedipulator», mit dem ein GI wie ein «Star Wars»-Walker durch den Dschungel von Vietnam hätte stapfen können – wäre die zweibeinige Laufmaschine nicht von einer Nabelschnur für die Hydraulikflüssigkeit abhängig gewesen.

Das zweite Muster findet Rid in dem bis heute schwelenden Konflikt zwischen den Think-Tanks der Militärs an der Ostküste und den von libertär-anarchischen Utopien getriebenen, vor allem in Kalifornien beheimateten Computer-Aktivisten. Seit den sechziger Jahren entdeckte die Gegenkultur mehr und mehr die technologischen Möglichkeiten für sich. So verglich der Hippie-Guru Timothy Leary die ersten «Personal Computer» trotz ihren – von heute aus gesehen – limitierten technischen Möglichkeiten mit bewusstseinserweiternden Drogen und träumte von «Cybernauten». Und der Grateful-Dead-Sänger Jerry Garcia orakelte über die PC: «LSD haben sie verboten. Wird interessant sein zu sehen, was sie damit machen.»

Für Rid, der die Geschichte der Kybernetik schlüssig in sieben historischen Entwicklungssträngen bündelt, ist Wieners Theorie nicht nur «eine der folgenschwersten und zentralsten Ideen des 20. Jahrhunderts». Ihr Vermächtnis werde auch im 21. Jahrhundert eine, und sogar noch gewichtigere, Rolle spielen, behauptet der am Department of War Studies am Londoner King's College lehrende Cyber- und Sicherheitsexperte. Warum das aber so sein soll – diese Antwort bleibt der Autor seinen Lesern leider schuldig, endet seine Studie doch just mit der Jahrtausendwende und blendet somit weitgehend die rasante Entwicklung der letzten anderthalb Jahrzehnte aus.

Und die NSA?

Es ist dies ein Defizit seiner Darstellung, das sich etwa beim Thema Cyber-Security bemerkbar macht: So spielt zwar Rid in seiner Einleitung auf Edward Snowdens Enthüllungen zumindest kurz an. Aber das entsprechende Kapitel über das mit der zunehmenden Vernetzung der Computer seit den achtziger Jahren entstandene Problem der Datensicherheit endet mit den «Moonlight Maze»-Ermittlungen des FBI gegen eine Gruppe russischer Hacker Ende der neunziger Jahre – mit einem Fall also, bei dem die USA zum Opfer ausländischer Datenspione wurden. Kein Wort darüber, dass die NSA inzwischen selbst die weltweit wohl grösste Hacker-Organisation darstellt. Selbst neue Techniken des Cyberkriegs wie Stuxnet – ein 2010 entdeckter Computerwurm, der, wie Experten vermuten, gezielt zur Sabotage iranischer Atomanlagen programmiert wurde – lässt der Autor rätselhafterweise unerwähnt.

Tatsächlich wird Rids erstes und wichtigstes «Muster» von der Gegenwart inzwischen schlicht widerlegt: Denn das meiste von dem, wovon Zukunftsforscher oder die ersten Internetaktivisten träumten und wovor Technikskeptiker warnten, gibt es inzwischen; zwar noch keine Cyborgs à la «RoboCop», aber Virtual-Reality-Brillen für jedermann, digitales, von den Zentralbanken unabhängiges Kryptogeld oder selbstfahrende Autos. Sogar der erste von einem Roboter getötete Mensch wurde jüngst vermeldet. Daher zeigt die Geschichte der Kybernetik gerade nicht, dass die utopischen Versprechen und dystopischen Befürchtungen gleichermassen «überzeichnet» wären, weil sich die neuen Technologien nicht einstellen wollten, wie Thomas Rid behauptet. Sie sind längst da – die Realität hat die Phantasie eingeholt.

Thomas Rid: Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen, Berlin 2016. 494 S., Fr. 31.90.

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