aus nzz.ch,14.9.2016, 05:30 Uhr Norbert Wiener
Thomas Rids Geschichte der Kybernetik
Der unaufhaltsame Aufstieg der Maschinen
Der
am Londoner King's College lehrende Cyber- und Sicherheitsexperte
Thomas Rid erzählt in einem neuen Buch die Geschichte der Kybernetik
seit ihren Anfängen – leider nicht bis heute.
von Oliver Pfohlmann
Digitale Doppelgänger bekannter realer Phänomene werden gern mit der Vorsilbe «Cyber-» versehen: Cybergeld, Cyberkrieg, Cybersex. Mehr als dreissig Jahre ist es her, dass William Gibson in seiner Kurzgeschichte «Burning Chrome» den «Cyberspace», die virtuelle Realität, erfand, und noch immer klingt dieses Präfix nach Science-Fiction. Anders als die Wissenschaft, von der es sich ableitet, die Kybernetik. Sie lässt heute allenfalls an turnhallengrosse Rechner mit wild blinkenden Lämpchen denken oder an verrückte Wissenschafter vom Typ Dr. Seltsam wie in Stanley Kubricks berühmter Satire auf den Kalten Krieg von 1964.
von Oliver Pfohlmann
Digitale Doppelgänger bekannter realer Phänomene werden gern mit der Vorsilbe «Cyber-» versehen: Cybergeld, Cyberkrieg, Cybersex. Mehr als dreissig Jahre ist es her, dass William Gibson in seiner Kurzgeschichte «Burning Chrome» den «Cyberspace», die virtuelle Realität, erfand, und noch immer klingt dieses Präfix nach Science-Fiction. Anders als die Wissenschaft, von der es sich ableitet, die Kybernetik. Sie lässt heute allenfalls an turnhallengrosse Rechner mit wild blinkenden Lämpchen denken oder an verrückte Wissenschafter vom Typ Dr. Seltsam wie in Stanley Kubricks berühmter Satire auf den Kalten Krieg von 1964.
Ursprung im Krieg
Tatsächlich liegen die Wurzeln dieser Wissenschaft in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, als der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener (1894–1964) Probleme der automatischen Zielerfassung bei der Flugabwehr zu lösen versuchte. Allerdings erfolglos, wie Thomas Rid in seiner Studie «Maschinendämmerung» konstatiert. Trotzdem entwickelte Wiener aus seinen Ideen über Kontrolle, Steuerung und Rückkopplungsschleifen eine wirkmächtige Theorie, die für Maschinen ebenso wie für lebende Organismen gültig sein sollte und deren Veröffentlichung ihn 1948 berühmt machte.
Eine revolutionäre, interdisziplinäre Grundlagenwissenschaft, von der sich eine ganze Wissenschaftergeneration anregen liess.
Die
Kybernetik präsentierte sich als revolutionäre, interdisziplinäre
Grundlagenwissenschaft. Bald liess sich eine ganze
Wissenschaftergeneration von ihr anregen, Vordenker des US-Militärs wie
der Mathematiker John von Neumann, Biologen wie Ludwig von Bertalanffy,
Anthropologen wie Gregory Bateson oder Soziologen wie Talcott Parsons.
Aber auch der Scientology-Gründer L. Ron Hubbard, der in Wieners Theorie
das perfekte Werkzeug zur Bewusstseinskontrolle gefunden zu haben
glaubte. Der entsetzte Norbert Wiener freilich habe Hubbards «Dianetik»
mit Voodoo und Mesmerismus verglichen, so Rid.
Weil
der Autor den Fokus auf die Entwicklung in den USA legt, erfährt man
aus seiner mit knapp 500 Seiten gar nicht einmal so kurzen «kurzen
Geschichte der Kybernetik» leider nichts über die Grossversuche in den
sechziger und siebziger Jahren, mittels kybernetischer Einsichten ganze
Gesellschaften zu steuern – wie in Chile, wo Salvador Allende mit dem
Projekt «Cybersyn» die Wirtschaft zentral in Echtzeit kontrollieren
wollte; jüngst nachzulesen in Sascha Rehs Roman «Gegen die Zeit».
Davon abgesehen liefert Rids Studie eine eindrucksvolle und spannend zu
lesende Sammlung von Beispielen dafür, welche utopischen und
dystopischen Visionen, welche Hoffnungen und Ängste sich an Wieners
«allgemeiner Maschinentheorie» entzündeten. Schon Norbert Wiener selbst
rätselte, ob die Maschinen den Menschen befreien oder nicht doch eines
Tages unterjochen würden.
Zwei «Muster»
Zwei
«Muster» prägten nach Rid die Geschichte der Kybernetik: Da ist zum
einen der wiederkehrende Zyklus vom «Aufstieg und Fall der Maschinen».
Ein ums andere Mal sei die Phantasie den realen technischen
Möglichkeiten weit voraus gewesen: Schon 1960 träumte man vom Einsatz
von Cyborgs, Mischwesen aus Mensch und Maschine, auf dem Mond, konnte
aber nur Laborratten maschinell gesteuerte Injektionspumpen
implantieren. Nicht anders die Visionen der Militärs: 1964 konstruierte
General Electric den fünfeinhalb Meter hohen «Pedipulator», mit dem ein
GI wie ein «Star Wars»-Walker durch den Dschungel von Vietnam hätte
stapfen können – wäre die zweibeinige Laufmaschine nicht von einer
Nabelschnur für die Hydraulikflüssigkeit abhängig gewesen.
Das
zweite Muster findet Rid in dem bis heute schwelenden Konflikt zwischen
den Think-Tanks der Militärs an der Ostküste und den von
libertär-anarchischen Utopien getriebenen, vor allem in Kalifornien
beheimateten Computer-Aktivisten. Seit den sechziger Jahren entdeckte
die Gegenkultur mehr und mehr die technologischen Möglichkeiten für
sich. So verglich der Hippie-Guru Timothy Leary die ersten «Personal
Computer» trotz ihren – von heute aus gesehen – limitierten technischen
Möglichkeiten mit bewusstseinserweiternden Drogen und träumte von
«Cybernauten». Und der Grateful-Dead-Sänger Jerry Garcia orakelte über
die PC: «LSD haben sie verboten. Wird interessant sein zu sehen, was sie
damit machen.»
Für Rid, der
die Geschichte der Kybernetik schlüssig in sieben historischen
Entwicklungssträngen bündelt, ist Wieners Theorie nicht nur «eine der
folgenschwersten und zentralsten Ideen des 20. Jahrhunderts». Ihr
Vermächtnis werde auch im 21. Jahrhundert eine, und sogar noch
gewichtigere, Rolle spielen, behauptet der am Department of War Studies
am Londoner King's College lehrende Cyber- und Sicherheitsexperte. Warum
das aber so sein soll – diese Antwort bleibt der Autor seinen Lesern
leider schuldig, endet seine Studie doch just mit der Jahrtausendwende
und blendet somit weitgehend die rasante Entwicklung der letzten
anderthalb Jahrzehnte aus.
Und die NSA?
Es
ist dies ein Defizit seiner Darstellung, das sich etwa beim Thema
Cyber-Security bemerkbar macht: So spielt zwar Rid in seiner Einleitung
auf Edward Snowdens Enthüllungen zumindest kurz an. Aber das
entsprechende Kapitel über das mit der zunehmenden Vernetzung der
Computer seit den achtziger Jahren entstandene Problem der
Datensicherheit endet mit den «Moonlight Maze»-Ermittlungen des FBI
gegen eine Gruppe russischer Hacker Ende der neunziger Jahre – mit einem
Fall also, bei dem die USA zum Opfer ausländischer Datenspione wurden.
Kein Wort darüber, dass die NSA inzwischen selbst die weltweit wohl
grösste Hacker-Organisation darstellt. Selbst neue Techniken des
Cyberkriegs wie Stuxnet
– ein 2010 entdeckter Computerwurm, der, wie Experten vermuten, gezielt
zur Sabotage iranischer Atomanlagen programmiert wurde – lässt der
Autor rätselhafterweise unerwähnt.
Tatsächlich
wird Rids erstes und wichtigstes «Muster» von der Gegenwart inzwischen
schlicht widerlegt: Denn das meiste von dem, wovon Zukunftsforscher oder
die ersten Internetaktivisten träumten und wovor Technikskeptiker
warnten, gibt es inzwischen; zwar noch keine Cyborgs à la «RoboCop»,
aber Virtual-Reality-Brillen für jedermann, digitales, von den Zentralbanken unabhängiges Kryptogeld oder selbstfahrende Autos.
Sogar der erste von einem Roboter getötete Mensch wurde jüngst
vermeldet. Daher zeigt die Geschichte der Kybernetik gerade nicht, dass die utopischen Versprechen und dystopischen Befürchtungen
gleichermassen «überzeichnet» wären, weil sich die neuen Technologien
nicht einstellen wollten, wie Thomas Rid behauptet. Sie sind längst da –
die Realität hat die Phantasie eingeholt.
Thomas
Rid: Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik. Aus dem
Englischen von Michael Adrian. Propyläen, Berlin 2016. 494 S., Fr.
31.90.
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