Donnerstag, 29. September 2016

Warum vorwissenschaftliche Vorstellungen überleben.

aus nzz.ch, 29.9.2016, 17:00 Uhr

Wissenschaftsphilosophie
Warum falsche Vorstellungen nicht aussterben 
Der Weg des wissenschaftlichen Fortschritts ist mit Leichen gepflastert. Viele der überwundenen Ideen sind aber nicht wirklich «tot». Sie leben im Verborgenen weiter und treiben dort seltsame Blüten.

von Eduard Kaeser

Für viele sich fortschrittlich dünkende Menschen stellt die Wissenschaftsgeschichte so etwas wie eine Leiter dar, auf der wir immer höher steigen, dabei Aberglauben und Ignoranz hinter uns lassend. Die Astronomie hat die Astrologie abgeworfen, so wie die klassische Mechanik die aristotelische Bewegungslehre, die Chemie die Alchemie, die Physiologie die paracelsische Pharmakologie oder die Neurologie die Psychologie. Dadurch, dass wir Ideen falsifizieren, kommen wir der Wahrheit ein Stück näher, lehrte der Philosoph Karl Popper.

Stimmt das? Sofort bietet sich eine Handvoll Gegenbeispiele an: Viele Leute glauben heute noch an eine flache Erde, Exorzismus, Astrologie, Kreationismus, okkulte Heilkräfte der Steine. Man könnte diese Epidemiologie des Aberglaubens fast ad libitum fortsetzen. Soll man einfach sagen, diese Leute seien töricht und unbelehrbar? Das wäre nun selber töricht. Einer der grössten Physiker des letzten Jahrhunderts, Niels Bohr, antwortete einmal auf die Frage, ob er an das Hufeisen über seiner Haustür glaube: «Natürlich nicht. Aber wissen Sie, es soll auch nützen, wenn man nicht daran glaubt.»

Verloren im Abstrakten

Ob Bohr dies ernst meinte, sei dahingestellt. Jedenfalls ist das Beharrungsvermögen alter, überständiger Ideen eine feststellbare Tatsache. Und es hat mehrere Gründe. Zunächst einen kognitiven. Wir leben in einer zunehmend komplexeren Welt. Die wissenschaftlichen Theorien, die uns das Geschehen erklären, wachsen uns über den Kopf in immer abstraktere Höhen. Sie sind selbst für Eingeweihte oft kaum mehr verständlich. Sie gewähren uns keine kognitive Heimat.

Betrachten wir zum Beispiel das Horoskop. Es ist auch im Zeitalter der wissenschaftlichen Prognose weit verbreitet und beliebt. Vielleicht gerade deshalb, weil es einer Epoche entstammt, in der man an die Verknüpfung des menschlichen Schicksals mit dem Gang der Sterne glaubte. Das Universum der Astrologie ist kein physikalisches, sondern ein hermeneutisches: voller deutbarer Zeichen. Der Himmel geht mich hier «persönlich» etwas an, er «sagt» mir etwas. Ich fühle mich zu Hause, anders als im kalten, trost- und sinnlosen Universum der Astrophysik. Wir wissen zwar heute, dass es solche astralen Verknüpfungen nicht gibt, aber wir glauben nicht, was wir wissen! – Ich nenne dies das Wissensparadoxon.
Ein anderer Grund für das Überleben falscher Ideen liegt in der «Provinzialität» unserer Alltagserfahrung. Unsere Rede von Aufgang und Untergang der Sonne ist provinziell. Wir haben ja durchaus die Botschaft des Wissens vernommen, dass dies der Standpunkt eines überwundenen geozentrischen Weltbildes sei, aber uns fehlt der Glaube. Unsere Intuition, die sich vor allem an Alltagssituationen orientiert, teilt uns wenig über die Rotation der Erde oder die Krümmung der Erdoberfläche mit. Es braucht schon ein bisschen Überlegung und genaue Beobachtungsgabe. Je mehr sich unsere Theorien von diesen Alltagsintuitionen entfernen, desto mehr verlangen sie eine Adaptation unserer Gehirne an die ungewohnten Situationen.

Lange Ablösungsphase

Hinzu tritt der Autoritätsglaube. Wir hören das Echo von Max Plancks berühmtem Diktum: «Irrlehren der Wissenschaft brauchen 50 Jahre, bis sie durch neue Erkenntnisse abgelöst werden, weil nicht nur die alten Professoren, sondern auch deren Schüler aussterben müssen.» Ein schönes Beispiel liefert der Fall der notorischen Zungenkarte. Der deutsche Physiologe David Paul Hänig fand zu Beginn des letzten Jahrhunderts heraus, dass die Zunge Geschmackszonen aufweist. Die elementaren Geschmacksqualitäten würden an entsprechenden Stellen mit «geringfügig» verschiedenen Intensitäten empfunden: süss an der Zungenspitze, bitter an der Zungenwurzel, sauer und salzig seitwärts.

Hänigs Buch wurde in den 1940er Jahren vom angesehenen amerikanischen Psychologen Edwin G. Boring ins Englische übersetzt, nur erachtete es dieser als hilfreicher, anstelle von Hänigs Diagrammen eine einfache und eingängige Karte der Geschmackszonen zu erstellen, wobei er verschwieg, dass die Unterschiede eigentlich geringfügig seien. Die Zungenkarte war geboren, ein Bestandteil der Lehrbücher bis in die 1970er Jahre.

Falsche Ideen können auch immun gegenüber der Wirklichkeit sein, weil sie die Wirklichkeit überhaupt erst schaffen helfen. Zum Beispiel die ökonomische. Nach der globalen Finanzkrise listete der australische Wirtschaftswissenschafter John Quiggin fünf «Zombie-Ideen» auf, die nun eigentlich hätten beerdigt werden müssen. Insbesondere die sogenannte Markteffizienz-Hypothese, die in einer Version besagt, dass die im Finanzsektor generierten Preise das optimale Kriterium zur Abschätzung jeder Investition darstellen, weil alle Information bereits in den Preisen enthalten ist. Genau dies wurde durch die Krise falsifiziert. Aber die Hypothese war, so Quiggin, «zu zweckdienlich, um einfach aufgegeben zu werden». Too big to fail, auch bei Ideen.

Die Kraft des Orakels

Diese Verteidigungsstrategie erinnert an das Giftorakel, das der Kulturanthropologe Edward E. Evans-Pritchard in den 1920er Jahren bei den Zande in Zentralafrika beobachtet hatte. Um eine Antwort auf eine schwierige Frage über die Zukunft zu erhalten, gibt der Wahrsager einem Huhn Gift. Je nachdem, ob das Huhn überlebt, trifft die Voraussage zu oder nicht. Die Kraft des Orakels wird nicht angezweifelt. Liegt es falsch, dann greift man zu dem, was Evans-Pritchard «sekundäre Elaboration» nennt. Man erfindet Zusatzhypothesen, vulgo: Ausreden.

Sind wir also aufklärungsresistent? Hier könnten neuere Beobachtungen Aufschluss geben, die von den Kognitionspsychologen Andrew Shtulman und Joshua Valcarel vom Occidental College, Los Angeles, gemacht worden sind. Sie konfrontierten naturwissenschaftlich unterrichtete Studenten mit einer Reihe von Aussagen aus diversen Fächern, deren Wahrheitsgehalt sie möglichst schnell und intuitiv einschätzen mussten. Die Studenten neigten oft zu älteren, überwundenen Ideen, obwohl sie eines «Besseren» belehrt worden waren. Shtulman und Valcarel kommen zum Schluss: «Wenn Studenten wissenschaftliche Theorien lernen, die früheren, naiven Vorstellungen widersprechen, was geschieht dann mit diesen früheren Ideen? Unsere Resultate legen nahe, dass naive Theorien durch wissenschaftliche Theorien verdrängt, aber nicht ersetzt werden.» Wir lernen Neues, aber verlernen Altes nicht.

Diese Erkenntnis suggeriert ein anderes Bild als jenes der Leiter. Alles Wissen ist geschichtlich. Es gleicht einem Stück Erdboden mit seinen sedimentierten Schichten; zuoberst unsere eigene Epoche, darunter frühere Lagen. In ihnen liegen die Wissensresiduen aus alter Zeit bewahrt. Wir mögen sie als Überreste eines vorwissenschaftlichen Denkens bezeichnen, aber im Sedimentmodell des Wissens gewinnen sie eine vitalere Bedeutung: Sie bilden den Grund, auf dem unser Wissen in immer luftigere und abstraktere Höhen hinaufwächst. Sie sind der notwendige geistige Humus solchen Wachstums. Aus ihm stossen immer wieder einmal Triebe an die Oberfläche und erwachen zu neuer Blüte. Ideen, welche die Vorsokratiker als reine Denkübung erwogen – die Atomhypothese oder die Viele-Welten-Theorie –, lagen Jahrtausende begraben, bis sie in den Schichten des 20. und 21. Jahrhunderts zu physikalischer «Seriosität» erwachten.

Der Fall der Homöopathie

Manchmal erheben allerdings auch Denkleichen ihr Haupt, die besser beerdigt blieben. Betrachten wir das Beispiel der Homöopathie. Besonders die Idee eines Wassergedächtnisses hat in letzter Zeit an Aufmerksamkeit gewonnen. Wasser ist eine einfache und vitale Substanz, die einen überwältigenden Reichtum von Molekülstrukturen offenbart. Das hat Forscher auf den Gedanken der Übertragung struktureller Information gebracht: Wenn nicht die Zusammensetzung, sondern die Struktur einer Substanz ihre Eigenschaften ausmacht, dann könnte es ja sein, dass die homöopathische Lösung quasi die strukturelle Information – den «Geist» – des Heilmittels eingeprägt erhält, selbst wenn sie kein einziges Molekül der heilenden Materie mehr enthält.

Das ist nun allerdings ein höchst spekulativer Gedanke, der kaum Licht in die Black Box des Schüttelns und Verdünnens von homöopathischen Elixieren bringt. In solchen Fällen dürfte ein durchdachtes Mass an «Orthodoxie» angebracht sein: Die Wirksamkeit von chemischen Mitteln hat sich auf so vielen Feldern bestätigt, dass es vielleicht doch an der Zeit wäre, die homöopathische Idee endgültig zu begraben.

Eine einfache erkenntnistheoretische Lektion erteilt sie uns dennoch: Sagen wir niemals vorschnell, eine Idee sei gestorben. Totgesagtes lebt vielleicht gerade in der Wissenschaft am längsten.

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Nota. - Was redet er denn? Ich habe es ja selbst gesehen, nicht nur einmal, sondern immer wieder: Die Sonne dreht sich um die Erde: Im Osten geht sie auf, mittags steht sie im Süden, abends geht sie im Westen unter - und am nächsten Tag dasselbe von vorn.

Ich weiß, es wird auch gesagt, in Wahrheit sei es andersrum, die Erde drehe sich um die Sonne; dass es uns umgekehrt vorkommt, läge nur an unserm zufälligen Standort hier unten; nur, weil wir selber hier leben, halten wir unsere Erde für das Zentrum. Stelle man sich aber auf den Standpunkt der Sonne, dann sei sie der Mittelpunkt.

Doch kann ich keinen Sinn darin erkennen, mich auf den Standpunkt der Sonne zu stellen. Faktisch wäre es ja gar nicht möglich, schon während der Annäherung würde mir viel zu heiß. Und was sollte ich dort auch? Da wächst ja nichts. 

Und mich in Gedanken auf den Standpunkt der Sonne zu stellen, ist ganz vollends sinnlos. Wenn ich schon in Gedanken von meinem Standort abstrahieren soll, damit ich mich nicht für den Nabel der Welt halte, dann bitte richtig und ganz und gar. Und dann belehrt mich die Wissenschaft, dass es im Weltall keinen ausge- zeichneten Ort gibt, auf den mein geistiger Standpunkt eher gehörte als auf einen andern. Wo immer ich bin - und ich kann hier so gut sein wie dort -, dreht sich der Himmel um... meinen Standort. Und alles andere dreht sich um einander: die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde, je nachdem.

Will sagen, logisch, d. h. wissenschaftlich gibt es keinen ausgezeichneten Standort für mich. Doch lassen wir die Kirche im Dorf: Im wirklichen Leben gibt es sehr wohl einen, nämlich bei uns hier unten. Wenn der Satz 'Diese dreht sich sich um jene' irgendwo in der Welt überhaupt einen plausiblen Sinn hat, dann ist es - hier. Jeder Alltagsmensch weiß das.

Herrn Kaeser scheint aber eine Welt vorzuschweben, in der die Wissenschaft an die Stelle des gesunden Alltagsverstands getreten ist. Herr Kaeser, dafür wurde die Wissenschaft doch gar nicht erfunden! Und glauben Sie mir: Mit so einer Geistesverfassung würden auch Sie hier in unserer Welt kaum vierundzwanzig Stunden heil überstehen.
JE


 

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