Samstag, 17. September 2016

Ist die wissenschaftliche Revolution ein moderner Mythos?

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aus nzz.ch, 25.6.2016, 05:30 Uhr

Ist die Naturwissenschaft das «Organ der Kultur»?
Menschheitsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte
Der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond hat im 19. Jahrhundert die Geschichte der Naturwissenschaft als «die eigentliche Geschichte der Menschheit» apostrophiert. Glauben wir das heute noch?

von Uwe Justus Wenzel

Wissenschaftlich-technische Zivilisation: Von den in Umlauf befindlichen Epochenbezeichnungen für das, was als «unser Zeitalter» empfunden wird, hat diese – sie ist älteren Datums – noch immer nicht ausge-dient. Sie beweist im Gegenteil und dank ihrer sachlichen Spannweite auch neben jüngeren Begriffsschöp- fungen wie «Computerzeitalter», «Informationszeitalter» oder «Wissensgesellschaft» ihre fortdauernde und sozusagen unaufgeregte Aktualität. Bereits 1886 ist, von dem Erfinder und Industriellen Werner von Siemens, das «naturwissenschaftliche Zeitalter» ausgerufen worden. Damals, so darf vermutet werden, schwang in der Selbstvergewisserung ein Stolz mit, der unterdessen eher gemischten Gefühlen gewichen ist.

Emil Du Bois-Reymond

Die prägende Kraft der Naturwissenschaften, ihre «Kulturbedeutsamkeit», akzentuierte auf seine Weise auch Emil Heinrich Du Bois-Reymond. Der deutsche Physiologe und Mediziner, der seine eigene Gegenwart als «technisch-induktives Zeitalter» etikettierte, wird zwar heute meist mit seiner berühmten «Ignorabimus»-Rede von 1872 zitiert, in der sich – in feierlichem Ton – eine Selbstbescheidung der Wissenschaft in Anbetracht des «unbegreiflichen» menschlichen Geistes artikuliert: «Ignoramus et ignorabimus – wir wissen es nicht und werden es nicht wissen.»

Doch Du Bois-Reymond hat fünf Jahre später, wiederum in einer populärwissenschaftlich angelegten Rede, die Naturwissenschaft «das absolute Organ der Kultur» genannt und «die Geschichte der Naturwissenschaft» als «die eigentliche Geschichte der Menschheit» apostrophiert. «Eigentlich» darum, weil Staatenbildung und Kriegführung, deren «unerspriesslich einförmigen Wellenschlag» die «bürgerliche Geschichte» spiegele, noch Vorbilder in der «wirbellosen Tierwelt» hätten – wohingegen die Kulturgeschichte (in heutigem gängigem Idiom formuliert) das Alleinstellungsmerkmal der Gattung Mensch sei. Und das Wesentliche der Kultur war für den selbstbewussten Naturwissenschafter eben die fortschreitende wissenschaftliche Erforschung der Natur, die er in jener Rede – seinerseits nun auch nicht ganz unmilitärisch – als «geistigen Eroberungszug» charakterisierte. 


Gesetzt, die Geschichte der Naturwissenschaft wäre tatsächlich die «eigentliche» Geschichte, ist dann die Wissenschaftsgeschichte die «eigentliche» Geschichtsschreibung? – Diese Frage darf vielleicht auch deswegen unbeantwortet bleiben, weil nicht wenige Bestrebungen zumindest der neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsforschung darauf zielen, weitgehende, mithin «absolute» Ansprüche der Naturwissenschaften zu relativieren oder doch zumindest in ihren historischen Kontexten zu situieren. Unlängst stand im Potsdamer Einstein-Forum – apropos «geistige Eroberungszüge» – der «Imperialismus der Naturwissenschaften» zur Debatte. (Der Tagungstitel «Fetishizing Science» markierte recht eigentlich einen zweiten thematischen Fokus.)

Ein «Narrativ»

Vor bald einem Vierteljahrhundert aus der Taufe gehoben, versteht sich die Einrichtung als dialogisches und interdisziplinäres «Laboratorium des Geistes»; von Anfang an sind die «hard sciences» im kulturwissenschaftlich kritischen Blick gewesen, bereits in den ersten Jahren widmete man sich etwa der «Krise der Objektivität in den Wissenschaften». Als Ausfluss eines «Imperialismus», so konnte der Problemexposition im Tagungsprogramm entnommen werden, erachten die Veranstalter nicht zuletzt auch die Selbstverständlichkeit, mit der seit dem frühen 20. Jahrhundert weithin den Naturwissenschaften – in puncto Wissenschaftlichkeit, Wahrheitssuche, mutmasslicher Ideologiefreiheit – der Vorzug vor den Geisteswissenschaften gegeben worden ist.

Die «eigentliche Geschichte der Menschheit», die nach Du Bois-Reymond die Naturwissenschaften schreiben, muss freilich auch tatsächlich geschrieben, sie muss erzählt werden. Solche Erzählungen spielen bei dem kulturbildenden Eroberungszug der Naturwissenschaften eine kaum zu überschätzende Rolle. Dazu hat in Potsdam, ohne das Problem von Du Bois-Reymond her aufzuzäumen, Lorraine Daston interessante Überlegungen beigesteuert. Die Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte warf einige Schlaglichter auf ein geläufiges «Narrativ» – auf eine Erzählung, die Naturwissenschaft und Modernität miteinander verknüpft.

Die beiden Hauptelemente der Story: Die Wissenschaft (gemeint ist stets die Naturwissenschaft) wurde im 17. Jahrhundert – Stichwort: scientific revolution – «modern»; die Modernisierung der Welt wurde sodann durch die revolutionierte Naturwissenschaft motorisiert, und zwar dergestalt, dass die Wissenschaft eine «moderne Mentalität» hervorbrachte, die Aufklärung und Fortschritt ermöglichte – und die, ein schöner Nebeneffekt, den Westen vorteilhaft vom Rest der Welt abhob. Als Geschichtenerzähler betätigten sich laut Daston weniger Naturwissenschafter als vielmehr Philosophen und Historiker: insbesondere Alexandre Koyré, Herbert Butterfield und Alfred North Whitehead, deren einschlägige Bücher seit etlichen Jahrzehnten in immer neuen Auflagen gedruckt werden.

Für den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung interessierte sich Daston nicht eigens, obgleich sie andernorts (in der gemeinsam mit Katharine Park verfassten Einleitung zum dritten Band der «Cambridge History of Science») die Rede von einer wissenschaftlichen Revolution, die im 17. und 18. Jahrhundert stattgefunden habe, rundweg als «Mythos» taxiert und auf das 19. Jahrhundert als wahre Geburtsstunde der institutionalisierten, der Wissenschaft im heutigen Sinne hingewiesen hat. Allerdings wird der mutmassliche Mythos von der wissenschaftlichen Revolution nicht nur als Erfolgsstory von Aufklärung und Fortschritt erzählt. Daston stellte in Potsdam der «triumphalistischen» Version der Geschichte – gewissermassen als deren nicht eineiige Zwillingsschwester – eine «tragische Version» zur Seite. Diese Version habe mit Max Weber, Georg Simmel, aber auch Henri Bergson ihre ersten prominenten philosophisch-soziologischen Erzähler gehabt und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ihre erste grosse Konjunktur erlebt.

Gegenerzählung

Von kalter Rationalität, von einer Abstraktion, die «echte» Erfahrung verunmögliche, von der allgemeinen Entzauberung der Welt weiss diese «andere» Geschichte der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu berichten. Das – die Bilanzierung der Verluste des Zivilisationsprozesses – unterscheidet sie von ihrer Zwillingsschwester. Was sie mit ihrer Schwester indes verbindet, ist dies, dass sie eine Transformation der Welt durch Wissenschaft als gegeben und als irreversibel voraussetzt. Solche «Narrative», so liess Daston durchblicken, seien nicht falsifizierbar. Sie verlören ihre identitätsstiftende Kraft erst, wenn sie von einer anderen einnehmenden Erzählung ersetzt würden.

Einmal angenommen – ganz möchte man es zwar nicht glauben –, die Frage nach dem Wahrheitsgehalt solcher Menschheitsgeschichten sei tatsächlich zu vernachlässigen: Kommt die Wissenschaftsgeschichte als kulturprägende Erzählerin einer neuen Story in Betracht? Wer weiss. Sie dürfte dann aber wohl nicht nur Geschichten vom Geschichtenerzählen erzählen. 


Nota. - Sinnbehauptungen sind schlechterdings nicht Wissenschaft - sie liegen ihr richtungweisend zu Grunde und bedienen sich nachträglich aus ihren Resultaten als ihrer Rechtfertigungen. Sie werden dennoch selber Gegenstand der Wissenschaft - nämlich der Kritik, die ihren Anspruch bestreitet, mehr sein zu wollen als Mythen. 

Es ist nicht ein Mythos so gut wie ein anderer. Der Sinn, den sie jeweil behaupten, muss sich der öffentlichen Meinung stellen und sich als das zeigen, was er ist: Behauptung. Und er muss einsichtig machen, was an diesem Sinn wahrerer, besser, schöner sein soll als an einem andern. Die Wissenschaft kann dann immer nur laut aufschreien, wenn sich einer hinter ihr versteckt.
JE



 

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