Entlein kennen abstrakte Begriffe
Gleich nach dem Schlüpfen können sie zwischen gleich und verschieden unterscheide.
von Thomas Kramar
Die vielleicht grundlegendste Leistung des Verstandes ist es, Paare von Objekten als gleich oder verschieden zu kategorisieren. Das ist ein abstraktes Konzept, und zu einem solchen seien Tiere nicht fähig, behauptete der britische Philosoph John Locke 1690 in seinem „Essay Concerning Humane Understanding“ sentenziös: „Brutes abstract not.“
Inzwischen haben Verhaltensforscher das Konzept Gleichheit/Verschiedenheit u. a. an Affen, Ratten, Krähen und Papageien nachgewiesen, also an bekanntermaßen besonders intelligenten Tieren. Doch überraschend ist, dass offenbar auch Tiere dieses Konzept anwenden, die man, von der Großfamilie Duck einmal abgesehen, gemeinhin nicht für sonderlich klug hält: Enten. Noch dazu frisch geschlüpfte. Noch dazu, ohne dass man sie extra darauf trainieren musste.
Die Zoologen an der University of Oxford, die das entdeckt haben und in Science (353, S. 286) beschreiben, machten sich ein Verhaltensprogramm von Wasservögeln zunutze, dass dank Konrad Lorenz auch Nichtzoologen ein Begriff ist: die Prägung auf die Mutter, der die Jungen ja möglichst watschelnd und/oder schwimmend folgen sollen. Lorenz gelang es bekanntlich, dass frisch geschlüpfte Graugänse ihn als ihre Mutter akzeptierten, aber man kann solche Vogelbabys auch auf unbelebte Objekte prägen, diese müssen sich nur bewegen, Laute von sich geben – und vor allem gleich nach dem Schlüpfen zur Stelle sein. Die kleinen Gänse und Enten haben eben kein angeborenes Bild, wie ihre Mutter auszusehen hat.
Paare von Kugeln statt der Mutter
So gelang es den Zoologen in Oxford auch, ihre Entlein auf – natürlich bewegte und scheinbar Laute ausstoßende – Paare geometrischer Objekte (Kugeln, Pyramiden, Würfel, Quader etc.) zu prägen. Manche prägten sie auf ein Paar gleicher Objekte (z. B. zwei Kugeln), andere auf ein Paar verschiedener Objekte (z. B. einen Würfel und einen Quader). Dass das gelang, ist noch kein Wunder. Höchst erstaunlich ist aber, dass die auf ein gleiches Paar (etwa zwei Pyramiden) geprägten Entlein auch einem anderen gleichen Paar (etwa zwei Würfeln) folgten und die auf ein ungleiches Paar auch einem anderen ungleichen Paar. Sie verfügen offenbar über ein abstraktes Konzept von Gleichheit bzw. Verschiedenheit. Das Experiment funktionierte sogar auch mit Farben statt Formen.
Wozu haben die Entlein ein so abstraktes Konzept in ihren Köpfen? Weil es für sie lebenswichtig ist, dass die Prägung funktioniert. „Wenn ein Entenküken klein ist, muss es in der Nähe seiner Mutter bleiben, um in ihrem Schutz zu sein“, erklärt Antone Marhino, einer der Oxford-Zoologen: „Ein Fehler kann fatal sein.“ Und daher reicht es nicht, sich ein exaktes Bild der Mutter einzuprägen, schließlich ändert sich dieses ja dauernd, während sich die Mutter bewegt, mit dem Licht und mit dem Winkel etwa. Abstrakte Konzepte sind da verlässlicher, und Gleichheit/Verschiedenheit ist eben eines davon.
Nota. - Dass die Evolution es fertiggebracht hat, eben geschlüpfte Entenküken mit der Fähigkeit auszustatten, gleich und ungleich zu unterscheiden, ist gerade bemerkenswert genug. Aber daraus zu folgern, die Tierchen könnten 'abstrakte Begriffe' (gibt es konkrete Begriffe?) oder 'Konzepte' 'anwenden', ist Marktschreierei. Das würde bedeuten, dass sie reflektieren, denn reflektieren und abstrahieren ist dasselbe: Ich abstrahiere von diesem, indem ich auf jenes reflektiere, ich reflektiere auf jenes, indem ich von diesem abstrahiere. In der Tat kommen so Begriffe zustande: indem eine Menge von Dingen unter ein Merkmal zusammengefasst werden, weil von allen andern Merkmale abgesehen wurde (und darum ist jeder Begriff 'abstrakt').
Ich vermute aber, Thomas Kramar hat sich nur darum schludrig ausgedrückt, weil die Oxforder Zoologen zuvor schludrig gedacht haben. Genetisch überliefertes Verhalten ist kein Begreifen, und begreifen ist kein genetisch überkomenes Verhalten.
JE
Nachtrag
aus derStandard.at,15. Juli 2016, 18:33
Ein Entlein, das auf einen Kegel und einen Zylinder geprägt worden war, akzeptiert einen Quader und einen Würfel als "Ersatzmütter"
So abstrakt können kleine Enten denken
Experimente zeigten, dass Prägung auf komplexen Denkvorgängen basiert. Küken orientieren sich demnach am Konzept der "Gleichheit"
von Klaus Taschwer
Oxford/Wien – Laut eigener Aussage hatte Konrad Lorenz die erste Idee zu jener Entdeckung, die ihm später den Nobelpreis einbringen sollte, schon mit drei Jahren: Er hatte an frisch geschlüpften Entenküken beobachtet, dass sie sich in dieser ersten Zeit prägen ließen. Im Normalfall ist ihr erstes Bezugsobjekt die Entenmutter, der sie fortan nachrennen. Es kann aber auch zu nicht ganz artgerechten Prägungen kommen, wie Konrad Lorenz Zeit seines Forscherlebens an vielen Enten und Gänsen durchexerziert hat: Der kleine Konrad wurde ebenso zur "Entenmutter" wie später seine grünen Gummistiefel, denen dann bedingungslos nachgewatschelt wurde.
Dass sich kleine Enten und andere Vögel in den ersten Minuten nach dem Schlüpfen visuelle Merkmale für ihr Leben merken können, ist Verhaltensforschern also längst bekannt. Unerforscht war bis jetzt jedoch, wie "abstrakt" Prägungen sein können.
Objektpaare als Ersatzmütter
Dieser Frage gingen Forscher um Alex Kacelnik (Universität Oxford) in Experimenten nach, bei denen sie frisch geschlüpfte Enten auf Kombinationen aus zwei Objekten prägten, die in Form und Farbe entweder gleich oder unterschiedlich waren. So bekam ein Entenküken etwa zwei gleichgroße blaue Kugeln als Bezugsobjekte, ein anderes ein Duo bestehend aus einer gelben und einer blauen Kugel. Ähnliches galt auch für Formen: Ein Jungtier wurde auf zwei gleiche Pyramiden geprägt, ein anderes auf einen Würfel und einen Quader (siehe Foto). university of oxford Video: Wie sich Entlein an den Konzepten "gleich" und "ungleich" orientieren.
In einem zweiten Schritt entzogen die Verhaltensforscher die geometrischen Mutterpaare und die Küken wurden vor die Wahl gestellt, einem anderen, ihnen unbekannten Objektpaar zu folgen. Dabei hatten sie jeweils zwei zur Auswahl: Jene Küken etwa, die auf zwei gleichgroße Kugeln geprägt worden waren, hatte die Wahl zwischen zwei gleichen Pyramiden und einem Gespann aus zwei unterschiedlichen Objekten.
Wie Kacelnik und Kollegen im Wissenschaftsmagazin "Science" berichten, orientierten sich die Entlein bei ihrer Wahl des neuen Bezugsobjekts nach einem ziemlich abstrakten Konzept, nämlich jenem von "gleich" und "ungleich", egal, ob es um Formen oder Farbkombinationen ging. Für Kacelnik und seine Kollegen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass selbst die Prägung – eine der grundlegendsten Formen des Lernens – allem Anschein nach auf relativ komplexen Denkvorgängen basiert.
Für Ed Wasserman, der die Studie in "Science" kommentierte, zeigt das Experiment dreierlei: Erstens sind Tiere, die wir für nicht sehr klug halten, zu ziemlich abstrakten Gedanken fähig, zweitens gilt das auch schon für Jungtiere. Und drittens brauchen sie für diese abstrakte und relationale Lernleistung nicht einmal besondere Anreize.
Abstract
Science: "Ducklings imprint on the relational concept of ,same or different´"
Nota. - Klaus Taschwer nimmt kein Blatt vor den Mund, er spricht geradeheraus von "denken". Er sagt allerdings auch "Prägung". Wenn das ein Wort hier richtig ist, ist das andere falsch. Und ich hatte Recht: Es waren die Oxforder Forscher selbst, die diesen Unfug verzapften, ohne es zu merken. Wenn es ihnen mit dem 'denken' ernst war, hätten sie eine wissenschaftliche Sensation entdeckt, die an die allergrößte Glocke gehängt gehört. Aber sie haben's eben nicht gedacht, sondern bloß gemeint.
JE
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