aus nzz.ch, 14. 7. 2016
Der Geist und seine Gezeiten
Der Informatiker David Gelernter ist vom Computermodell des Geistes enttäuscht und versucht eine eigene Perspektive auf das menschliche Bewusstsein zu entwickeln – mithilfe von Literatur und Kunst.
von Manuela Lenzen
Die Gedanken führen ein merkwürdiges Eigenleben. Deshalb war die Versuchung stets gross, einen grundsätzlichen Unterschied zu machen zwischen Geist und Körper, denkender und ausgedehnter Substanz, dem Unsterblichen und dem Sterblichen. Der jüngste, aber beileibe nicht mehr junge dieser Dualismen ist das Computermodell des Geistes: Der Geist ist demnach das Programm, das auf dem Gehirn als einem besonders komplizierten Computer läuft. Auch David Gelernter hat sich einst, wie er berichtet, mit der Hoffnung in die Informatik gestürzt, den menschlichen Geist in silicio nachbauen zu können. Er war an der Entwicklung wichtiger Programmiersprachen und paralleler Rechnerarchitekturen beteiligt. Heute ist er Informatikprofessor an der Yale University – und enttäuscht. Sein neues Buch ist eine unkonventionelle Abrechnung mit jenem Computermodell.
Das Gehirn als Computer?
Gelernter kritisiert vor allem zweierlei: Die Verfechter des Computermodells konzentrierten sich einseitig auf das rationale Denken. Und sie vergäßen, dass für den menschlichen Geist die Innenperspektive entscheidend sei: die Tatsache, dass es sich für uns auf eine bestimmte Weise anfühle, in der Welt zu sein. Eine Maschine, die die Regeln der Logik befolge, sei zwar vielleicht ganz beeindruckend, bilde aber nur einen winzigen Teil dessen ab, was den menschlichen Geist ausmache. Denn dieser umfasse ein ganzes Spektrum von Zuständen, von denen das rationale Räsonieren nur das eine Extrem darstelle. Das andere Extrem bildeten un- oder vorbewusste Zustände, in denen der Mensch wenig Kontrolle über sein mentales Leben habe. Zwischen diesen Extremen bewege sich der Geist auf und ab – im Laufe des Tages in Phasen von Wachheit und Erschöpfung und im Lebenslauf vom Erwachen des bewussten Geistes beim Kleinkind bis zur Abenddämmerung im höchsten Alter. Dieses Auf und Ab hat dem Buch seinen Titel gegeben: «Gezeiten des Geistes».
Immer wieder, so Gelernter, wechseln wir zwischen Phasen disziplinierten Nachdenkens, Phasen mittlerer Konzentration, in denen unser Geist gelegentlich abschweift, das Gedächtnis Dinge aufblitzen lässt, die nicht unbedingt zum Thema gehören, oder Emotionen an die Oberfläche drängen, sowie schliesslich Phasen geringer Konzentration, in denen wir durch Tagträume irrlichtern, die Selbstwahrnehmung schwindet und das Gedächtnis sich selbständig macht. Eine umfassende Theorie des menschlichen Geistes müsse diese ganz unterschiedlichen Zustände einbeziehen.
Um ihnen auf die Spur zu kommen, stützt sich Gelernter auf die, die er die wirklichen Fachleute für den Geist nennt: Künstler, vor allem Schriftsteller, zuerst Shakespeare und Tolstoi, dann eine ganze Galerie von William Blake, Wordsworth, Dostojewski und Tschechow bis J. M. Coetzee und Jenny Erpenbeck. Zu diesen Fachleuten gehört auch Sigmund Freud, dem der Autor attestiert, tief in «die Substanz des Lebens» eingedrungen zu sein. Mithilfe der Genannten gelingt Gelernter eine reiche und fein differenzierte Beschreibung der im Alltag so leicht übersehenen Übergänge zwischen dem Gedachten, dem Gefühlten, dem Erinnerten, dem Vermuteten und dem Gewussten. Er scheut sich nicht, Phänomene ernst zu nehmen, um die die meisten Bewusstseinstheorien einen Bogen machen: die schweifenden Gedanken beim Einschlafen, Visionen, Vorstellungen von Magie. Für diese Bestandsaufnahme allein schon lohnt es sich, das Buch zu lesen.
Der menschliche Geist ist in der Tat so viel reicher als die Algorithmen der schnellsten Superrechner. Das gilt vermutlich selbst dann noch, wenn wir eines Tages nicht mehr unterscheiden können, ob wir es mit einem Menschen oder einem künstlichen Agenten zu tun haben. Schade ist allerdings, dass der Autor zwar Husserl kurz zitiert, die seit einigen Jahren wieder aktuelle, in den USA allerdings kaum wahrgenommene Phänomenologie aber ignoriert.
Dabei hat diese ein begriffliches Instrumentarium für den Umgang mit wissenschaftlich heiklen Themen wie der Introspektion entwickelt, das Gelernter hätte nutzen können. Stattdessen hantiert er auf eigene Faust und nicht sehr trennscharf mit den Begriffen «Bewusstsein», «Geist» und «Gedächtnis».
Gelernter bestimmt, wie in der künstlichen Intelligenz (KI) üblich, Kreativität als das Erschaffen von Analogien, erklärt Emotionen als Zusammenfassungen von Körperzuständen und betont den Wert des Vergessens für das Lernen des wirklich Wichtigen: Erst indem wir vergessen, können wir das Wichtige aus dem Meer des Unwichtigen herausheben. Auch hier hätte man sich mehr Anschluss an neuere Arbeiten in Psychologie, Philosophie und auch KI-Forschung gewünscht.
Im Rückgriff auf Freud handelt Gelernter viel über die Bewusstseinszustände am unteren Ende des geistigen Spektrums. Dabei gelingen ihm geradezu poetische Sätze: «Jede Nacht sagt uns unser Geist, wer wir sind. Und jeden Morgen vergessen wir es wieder.» Eine gute Begründung dafür, die Tiefenpsychologie so in den Mittelpunkt zu stellen, bleibt er allerdings schuldig.
Politische Folgerungen
Dafür präsentiert er einige politische Folgerungen aus seiner Sicht der Dinge: Wenn wir uns auf die Schmalspurdefinition des Geistes als rationaler Problemlöser einlassen, wenn wir Schulen und Erziehung danach ausrichten, nur diesen Aspekt des Geistes zu fördern, verpassen unsere Kinder ihr wichtigstes Lernziel – andere Menschen zu verstehen. Die «jungen Leute» ruft er auf, Facebook abzuschalten und wieder Menschen in die Augen zu blicken.
Dem kann man kaum widersprechen. Die Verve allerdings, mit der Gelernter gegen die Computertheorie des Geistes angeht, verwundert, denn diese steht nicht erst seit gestern in der Kritik. Schon Alan Turing, einer der Urväter der KI-Forschung, hatte einen alternativen Weg beschrieben, intelligente Maschinen zu bauen; dazu gehört, dass der Computer Sinnesorgane bekommt, eigene Erfahrungen macht, unterrichtet wird. Dieser Weg wird in der KI-Forschung immer häufiger beschritten. Tatsächlich ist die Situation schon lange viel komplexer, als Gelernter sie darstellt: Während der Computer in der Kognitionsforschung nur noch selten als Modell für den Geist herhalten muss, inspirieren sich die Forscher umgekehrt am menschlichen Geist, um Computer zu verbessern. Vielleicht werden auch künstliche Intelligenzen dereinst Gezeiten haben. David Gelernter zeigt eindrucksvoll, welchen Weg sie bis dahin noch vor sich haben.
David Gelernter: Gezeiten des Geistes. Die Vermessung unseres Bewusstseins. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Ullstein, Berlin 2016. 392 S., Fr. 31.90.
Nota. - Rationalistisch nennt man Theorien, die auf der Vorstellung beruhen, die Wirklichkeit sei nach denselben Regeln gestaltet wie das vernünftige Denken. Wie anders wäre denn zu verstehen, dass das vernünftige Denken die Wirklichkeit begreifen kann? Rational nennen wir das Denken, das sich in eindeutigen Zeichen darstellen lässt, die durch feste Verfahrensregeln operativ miteinander verknüpft sind.
Ein solches Denken lässt sich digital darstellen. Sowohl die Begriffe als auch die Operationsregeln können durch digits repräsentiert werden. Trifft die rationalistische Prämisse zu, dann ist das Computermodell des Geistes richtig: denn unser wirkliches Denken ist Teil der Wirklichkeit, die sich nach der Voraussetzung digital erfassen lässt.
Doch für die Annahme, die Wirklichkeit sei nach vernünftigen Regeln gestaltet, gibt es keinen Grund. Manch einer möchte es gerne glauben - mehr nicht. Vermuten ließe sich allenfalls, unser vernünftiges Denken habe sich im Lauf der Evolution so gut es eben ging den Gesetzen der Wirklichkeit angepasst. Das setzte aber voraus, dass in unsern denkenden Köpfen tatsächlich die Wirklichkeit vorkäme. Aber wie könnte das sein, wie käme sie dort hinein?
Was in unsern Köpfen vorkommt, ist vielmehr das Bild, das wir uns aufgrund der Meldungen, die unsere Sinnesorgane an unser Gehirn senden, von der Wirklichkeit machen; selber machen. Wenn unsere Begriffe und Verfahrensregeln irgendetwas darstellen könnten, dann doch allenfalls die Bilder, die wir uns machen, und nicht die Art und Weise, wie wir sie machen! Und sogleich springt das Paradox ins Auge: Bilder in 'Begriffen' und 'Regeln'! Das ist wie Feuerwasser auf einem Grill.
Aber auch empirisch lässt sich beobachten, dass unser wirkliches Denken, nämlich Vorstellen durchaus nicht digital und algorithmisch vonstatten geht, sondern in wilden Kaskaden und Kapriolen. Und es geschieht nicht zuständlich, sondern in Spasmen. Das lässt sich feststellen bei ganz nüchternem Verstand, dafür braucht man keinen tiefenpsychologischen Schamanen und keinen begeisterten Sänger. Was die Logik und die Begriffe tun, ist ganz bescheiden dies: Sie bringen Ordnung in dieses Tohuwabohu, aber nicht, weil es selbst nach einer Ordnung ruft, sondern weil wir anders unsere Vorstellungen keinem andern mitteilen könnten - und nicht einmal behalten, genau besehen.
Doch was die Ordnung an Deutlichkeit in die Bilderwelt bringt, das scheidet sie an Farben und Formen aus. Die Begriffe mag man schärfen, so viel man will: Den Reichtum der Vorstellungen werden sie niemals fassen. Und da sind Kunst und Dichtung eher am Platz, da hat Gelernter Recht.
JE
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