aus scinexx Ordnung ins Chaos bringen - eine der faszinierendsten Fähigkeiten unseres Gehirns
Wie das Gehirn die Welt sortiert
Schubladendenken wird von zwei verschiedenen Hirnarealen gesteuert
Komplexes Kategoriensystem: Beim Versuch die Welt zu ordnen, wendet das menschliche Gehirn verschiedene Strategien an. Bochumer Neurowissenschaftler haben nun herausgefunden, dass zwei unterschiedliche Hirnareale diese Vorgehensweisen steuern. Eines spielt beim Kategorisieren anhand von Prototypen eine bedeutende Rolle. Das andere greift, wenn wir mit konkreten Beispielen vergleichen müssen. Zwischen beiden Lernmustern bestehe jedoch ein komplexes Wechselspiel, so die Forscher.
Die Welt um uns herum ist komplex und verändert sich ständig. Eine der faszinierendsten Leistungen unseres Gehirns ist es, dieses Chaos zu ordnen und die Informationslast zu reduzieren. Dafür bilden wir Schubladen oder Kategorien, in die wir Neues einsortieren – und wenden dabei verschiedene Strategien an. Wo im Gehirn diese Vorgehensweisen gesteuert werden, hat nun ein Forscherteam um Robert Lech von der Ruhr-Universität Bochum untersucht.
Vogel – oder kein Vogel?
Um zu erkennen, wo das Gehirn aktiv ist, wenn es sortiert, stellten die Neurowissenschaftler einer Gruppe von 28 Probanden eine Kategorisierungsaufgabe und beobachteten dabei deren Gehirnaktivität mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie. Für den Versuch sollten die Teilnehmer Objekte in verschiedene Gruppen einordnen.
Auf diese Weise testeten die Forscher das Vorgehen des Gehirns bei den beiden wichtigsten Einordnungsstrategien, die wir täglich anwenden: die sogenannte Ausnahme-Strategie und die Prototyp-Strategie. Erklären lassen sich diese Methoden mit einem einfachen Beispiel: Wollen wir wissen, ob ein bestimmtes Tier in die Kategorie "Vogel" passt, nehmen wir zunächst einen abstrakten Vogel als Vergleich und überprüfen das Vorhandensein der wichtigsten Merkmale der Kategorie – zum Beispiel Flugfähigkeit, Schnabel und Federn.
Muss jedoch eine Ausnahme wie ein Strauß oder ein Pinguin kategorisiert werden, funktioniert diese Strategie schlecht. In diesem Fall greift die Ausnahme-Strategie: Wir vergleichen das Tier mit einer Vielzahl ganz unterschiedlich aussehender Tiere, die bereits in die Kategorie eingeordnet wurden. Kurzum: Wir gleichen es mit konkreten Beispielen ab.
Komplexes Wechselspiel
Der Blick ins Gehirn der Versuchsteilnehmer zeigte: Beide Strategien werden offensichtlich von unterschiedlichen Gehirnarealen reguliert. Ordneten die Probanden Objekte anhand eines Prototyps ein, war vor allem der linke Gyrus fusiformis aktiv. Dieser Bereich des Gehirns ist für das Erkennen abstrakter Objekte zuständig. Beim Abgleichen mit konkreten Beispielen hingegen war der rechte Hippocampus besonders aktiv, ein Areal, das eine wichtige Rolle spielt, wenn Erinnerungen abgerufen werden.
Die Forscher vermuten, dass zwischen beiden Lernmustern ein komplexes Wechselspiel besteht. "Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass für beide Strategien jeweils eigene Bereiche im Gehirn zuständig sind. Im Verlauf des Lernens haben wir aber auch festgestellt, dass sich der Rhythmus der Aktivierung bei beiden Arealen angleicht. Das deutet darauf hin, dass sich die zu Grunde liegenden Denkprozesse nicht sauber trennen lassen", erklären die Forscher. Weitere Modelle und Studien sollen dieses Zusammenspiel nun näher untersuchen. (Behavioural Brain Research, 2016; doi: 10.1016/j.bbr.2016.05.049)
(Ruhr-Universität Bochum, 26.07.2016 - DAL)
Nota. - 'Nicht sauber trennen lassen': das heißt, sich räumlich und zeitlich nicht eindeutig abgrenzen, 'defi-nieren' lassen. Es ist erst der vom Menschen selbst erdachte Begriff, der definiert. Wer sich des begrifflich fortschreitenden, 'diskursiven' Denkens befleißigt, läuft auf Schritt und Tritt Gefahr, in Schubladen- und Kästchendenken zu verfallen; richtiger gesagt: Er hat längst damit angefangen. Vernünftig bleibt - oder wird - das erst dank unentwegter Reflexion, alias Kritik, die ihn immer wieder daran erinnert, dass Begriffe ab-sichtsvoll und daher tendenziös selbstverfertigte Denk-Zeuge sind, nicht aber selber Erkenntnisse darstellen.
JE
Dienstag, 26. Juli 2016
Freitag, 22. Juli 2016
Wie weit sind Befindlichkeitsstörungen erblich?
aus derStandard.at, 1. Juli 2016, 13:31
Das Glück liegt nicht in den einzelnen Genen
Eine Studie mit 300.000 Menschen hat ergeben, Wohlbefinden, Depression und neurotisches Verhalten können angeboren sein, aber die Effekte einzelner Gene sind winzig
Manche Menschen geraten in eine Depression wenn es mal nicht so gut läuft, andere schütteln das Unwohlsein ab und wenden sich neuen Abenteuern zu. Zufriedenheit ist eine äußerst subjektive Empfindung. Hat also ein Mensch die Fähigkeit zum Glücklichsein, der andere nicht?
Eine umfangreiche internationale Studie des "Social Science Genetic Association Consortiums" (SSGAC) hat konkrete Genabschnitte gefunden, die Wohlbefinden, Depression und neurotisches Verhalten beeinflussen. Das Konsortium von 178 Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen untersuchte anonymisierte genetische Daten von fast 300.000 Menschen und entdeckte Abschnitte im Genom, die mit Lebenszufriedenheit und Glücklichsein in Verbindung stehen. "Psychologisches Wohlbefinden wird größtenteils durch die Umwelt, aber auch durch genetische Faktoren beeinflusst. Welche Genabschnitte dabei eine Rolle spielen, war bis jetzt nahezu unbekannt", erklärt Gert G. Wagner, Mitautor der Gen-Studie.
Das Wissenschaftskonsortium hat drei genetische Varianten identifiziert, die mit subjektivem Wohlbefinden in Zusammenhang stehen. Es wurden auch elf genetische Varianten für Neurotizismus und zwei für Depressionen gefunden. Die genetischen Varianten für Depressionen konnten von den Forschern in einer unabhängigen Stichprobe von 370.000 zusätzlichen Studienteilnehmern repliziert werden.
Glück selbst in der Hand
"Obwohl die genauen biochemischen Mechanismen, die diesen Befunden zugrunde liegen, noch weitestgehend ungeklärt sind, scheinen die identifizierten Genorte die Regulation der Genexpression des Gehirns zu beeinflussen. Hierauf können nun zukünftige funktionell-genetische Experimente aufbauen", sagt Lars Bertram von der federführenden Interdisziplinären Plattform für Genomanalytik der Universität zu Lübeck. "Den größten Anteil vom Glück haben wir allerdings noch selbst in der Hand", betonen die Wissenschaftler.
Trotz der ausgeprägten statistischen Signifikanz der Befunde seien die identifizierten Gene nur für einen Bruchteil der Erblichkeit von psychologischem Wohlbefinden verantwortlich und erklären weniger als ein Prozent der Unterschiede im Wohlbefinden in der Bevölkerung. Die geringe Erklärungskraft einzelner Gene widerspräche allerdings nicht der oftmals hohen Erblichkeit von Persönlichkeitseigenschaften innerhalb einer Familie, so Philipp Köllinger, Professor für "Gen-Ökonomie" an der Freien Universität Amsterdam, der zu den Hauptautoren gehört.
Ungewöhnlich große Studie
"Ganz der Opa!" – die verblüffenden Ähnlichkeiten innerhalb einer Familie sind von Tausenden, wenn nicht von Millionen verschiedenen genetischen Varianten beeinflusst. Die Forscher gehen jedoch davon aus, dass künftig durch Studien in einer Größenordnung von mehreren Millionen Probanden weitere genetische Varianten für psychologisches Wohlbefinden gefunden werden.
Schon jetzt ist die Größe der Studie für die Sozialwissenschaften recht neu. "In den Sozial- und auch den Gesundheitswissenschaften haben große Konsortien, wie man sie zum Beispiel aus der Atomphysik kennt, bislang keine Rolle gespielt. Seitdem wir uns aber auch mit den genetischen Grundlagen menschlichen Verhaltens beschäftigen, ist das ganz anders geworden", sagt Wagner. (red.)
Nota. - Die salomonische Lösung der Problems: angeboren oder selbstgemacht? ist nun fast hundert Jahre alt und stammt von Alfred Adler: Angeboren werden lediglich Dispositionen. Was aus ihnen wird, hängt von Vielem ab; in erster Linie von der sozialen Umgebung und dem eigenen Willen.
JE
Das Glück liegt nicht in den einzelnen Genen
Eine Studie mit 300.000 Menschen hat ergeben, Wohlbefinden, Depression und neurotisches Verhalten können angeboren sein, aber die Effekte einzelner Gene sind winzig
Manche Menschen geraten in eine Depression wenn es mal nicht so gut läuft, andere schütteln das Unwohlsein ab und wenden sich neuen Abenteuern zu. Zufriedenheit ist eine äußerst subjektive Empfindung. Hat also ein Mensch die Fähigkeit zum Glücklichsein, der andere nicht?
Eine umfangreiche internationale Studie des "Social Science Genetic Association Consortiums" (SSGAC) hat konkrete Genabschnitte gefunden, die Wohlbefinden, Depression und neurotisches Verhalten beeinflussen. Das Konsortium von 178 Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen untersuchte anonymisierte genetische Daten von fast 300.000 Menschen und entdeckte Abschnitte im Genom, die mit Lebenszufriedenheit und Glücklichsein in Verbindung stehen. "Psychologisches Wohlbefinden wird größtenteils durch die Umwelt, aber auch durch genetische Faktoren beeinflusst. Welche Genabschnitte dabei eine Rolle spielen, war bis jetzt nahezu unbekannt", erklärt Gert G. Wagner, Mitautor der Gen-Studie.
Das Wissenschaftskonsortium hat drei genetische Varianten identifiziert, die mit subjektivem Wohlbefinden in Zusammenhang stehen. Es wurden auch elf genetische Varianten für Neurotizismus und zwei für Depressionen gefunden. Die genetischen Varianten für Depressionen konnten von den Forschern in einer unabhängigen Stichprobe von 370.000 zusätzlichen Studienteilnehmern repliziert werden.
Glück selbst in der Hand
"Obwohl die genauen biochemischen Mechanismen, die diesen Befunden zugrunde liegen, noch weitestgehend ungeklärt sind, scheinen die identifizierten Genorte die Regulation der Genexpression des Gehirns zu beeinflussen. Hierauf können nun zukünftige funktionell-genetische Experimente aufbauen", sagt Lars Bertram von der federführenden Interdisziplinären Plattform für Genomanalytik der Universität zu Lübeck. "Den größten Anteil vom Glück haben wir allerdings noch selbst in der Hand", betonen die Wissenschaftler.
Trotz der ausgeprägten statistischen Signifikanz der Befunde seien die identifizierten Gene nur für einen Bruchteil der Erblichkeit von psychologischem Wohlbefinden verantwortlich und erklären weniger als ein Prozent der Unterschiede im Wohlbefinden in der Bevölkerung. Die geringe Erklärungskraft einzelner Gene widerspräche allerdings nicht der oftmals hohen Erblichkeit von Persönlichkeitseigenschaften innerhalb einer Familie, so Philipp Köllinger, Professor für "Gen-Ökonomie" an der Freien Universität Amsterdam, der zu den Hauptautoren gehört.
Ungewöhnlich große Studie
"Ganz der Opa!" – die verblüffenden Ähnlichkeiten innerhalb einer Familie sind von Tausenden, wenn nicht von Millionen verschiedenen genetischen Varianten beeinflusst. Die Forscher gehen jedoch davon aus, dass künftig durch Studien in einer Größenordnung von mehreren Millionen Probanden weitere genetische Varianten für psychologisches Wohlbefinden gefunden werden.
Schon jetzt ist die Größe der Studie für die Sozialwissenschaften recht neu. "In den Sozial- und auch den Gesundheitswissenschaften haben große Konsortien, wie man sie zum Beispiel aus der Atomphysik kennt, bislang keine Rolle gespielt. Seitdem wir uns aber auch mit den genetischen Grundlagen menschlichen Verhaltens beschäftigen, ist das ganz anders geworden", sagt Wagner. (red.)
Nota. - Die salomonische Lösung der Problems: angeboren oder selbstgemacht? ist nun fast hundert Jahre alt und stammt von Alfred Adler: Angeboren werden lediglich Dispositionen. Was aus ihnen wird, hängt von Vielem ab; in erster Linie von der sozialen Umgebung und dem eigenen Willen.
JE
Donnerstag, 21. Juli 2016
Da sitzt es ja, das Ich!
aus scinexx
Selbstreflektion zeigt sich in Gehirn
Unterschiede im präfrontalen Cortex bei introspektiven Menschen entdeckt
Ob ein Mensch über eine gute Selbstreflektion verfügt und die Richtigkeit seiner Entscheidungen realistisch einschätzen kann, zeigt sich auch am Gehirn. Wissenschaftler haben festgestellt, dass eine spezifische Region des Stirnhirns bei introspektiven Menschen leicht vergrößert ist. Wie sie in „Science“ berichten, eröffnet dies wertvolle Einblicke in die Biologie unsers Bewusstseins.
Entscheidung über Fleckenmuster
Für ihre Studie entwickelten die Wissenschaftler um Geraint Rees, Stephen Fleming und Rimona Weil vom University College London zunächst ein spezielles Experiment, mit dem sie die Selbsteinschätzung von Probanden nach dem Lösen einer Aufgabe spezifisch abfragen und die Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Abschneiden ermitteln konnten. In den Experimenten bekamen die 32 Freiwilligen jeweils zwei Computerbildschirme mit jeweils sechs gemusterten Flecken gezeigt. Auf einem der beiden Screens war einer der Flecken eine Winzigkeit heller als die anderen fünf.
Die Probanden sollten diesen Bildschirm identifizieren und gleichzeitig angeben, wie sicher sie sich über die Korrektheit ihrer Entscheidung waren. Das Experiment war dabei von den Forschern bewusst so angelegt, dass die Identifikation der richtigen Grafik für jeden Probanden etwa gleich schwer war. Dafür wurde der Schwierigkeitsgerad jeweils individuell auf die Fähigkeiten der Personen eingestellt. Unterschiedlich war damit in erster Linie die Einschätzung ihrer getroffenen Entscheidung.
Wie in einer Quizshow
Nach Ansicht der Wissenschaftler sollten Personen, die gute Fähigkeiten der Selbsteinschätzung und -beobachtung besitzen, sich nach einer richtigen Entscheidung sicherer sein als nach einer falschen. „Es ist wie in der Quizshow ‚Wer wird Millionär’“, erklärt Weil. „Ein introspektiver Kandidat wird seine finale Antwort abgeben, wenn er sich relativ sicher ist und vielleicht einen Freund anrufen, wenn er unsicher ist. Ein Kandidat, der über weniger gute Selbstbeobachtung verfügt, wird auch weniger effektiv einschätzen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit seine Antwort die richtige ist.“
Mehr graue Substanz
Nach dem Experiment untersuchten die Forscher zusätzlich die Hirnstruktur und Aktivität der Probanden mittels Magnetresonanztomografie (MRI) und setzten die Ergebnisse der Scans mit der Fähigkeit zu korrekten Selbsteinschätzung ins Verhältnis. Tatsächlich stießen sie auf eine Korrelation: Eine kleines Gebiet grauer Hirnsubstanz im rechten vorderen Bereich der Hirnrinde, dem präfrontalen Cortex, war bei den Probanden mit guter Selbstbeobachtung etwas größer ausgeprägt als bei ihren weniger erfolgreichen Kollegen. Auch die Struktur der benachbarten weißen Substanz zeigte Unterschiede.
Einblick in Biologie des Bewusstseins
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte demnach die Ausprägung dieses kleinen Gehirnbereichs, der direkt hinter unseren Augenliegt, ein Indikator für unsere Fähigkeiten zu Introspektion sein. Wie genau dieser Zusammenhang zwischen Selbsteinschätzung und der weißen und grauen Substanz aber funktioniert, ist noch absolut unklar. Die Forscher betonen auch, dass ihre Ergebnisse nicht notwendigerweise bedeuten, dass Individuen mit mehr grauer Substanz in diesem Bereich mehr Selbstbeobachtung betreiben als andere Menschen. Sie könnten aber ein Hinweis auf das Niveau der Selbstbeobachtung sein, zu dem ein Individuum fähig ist.
„Wir wollen wissen, warum wir uns bestimmter mentaler Prozesse bewusst sind, während andere sich in Abwesenheit abspielen“, erklärt Fleming. „Es könnte unterschiedliche Niveaus des Bewusstseins geben, von der einfachen Erfahrung bis zur Reflektion über diese Erfahrung. Introspektion liegt am oberen Ende dieses Spektrums – indem wir diesen Prozess erforschen und ihn zum Gehirn in Beziehung setzen, hoffen wir mehr Einblick in die Biologie des bewussten Denkens zu erhalten.“
(American Association for the Advancement of Science, 20.09.2010 – NPO)
Nota. - Na schön, lassen wir die Kirche im Dorf: Ob da "das Ich" sitzt, steht noch in dern Sternen. Und ob Introspektion und Reflexion schlicht dasselbe sind, wäre noch zu disku-tieren. Das Wort 'Selbstreflektion' verbirgt mehr, als es entdeckt. Und dann sind es ja mehrere Zentren, deren vorgängiges Zusammenspiel ein 'Ich' immer wieder erst werden lässt. Und schließlich handelt es sich augenscheinlich um keine positive, sondern um eine kriti-sche Funktion – die Fähigkeit zum Problematisieren. Das Ich als das Vermögen, Fragen zu stellen – damit kann sich auch der Transzendentalphilosoph anfreunden.
Auf jeden Fall sind Wolf Singer und seine Parteigänger um ihr bestes Streitross ärmer.
JE, 20. 9. 2010
Mittwoch, 20. Juli 2016
Unser kosmologisches Standardmodell hat sich leider bewährt.
Ausschnitt aus der dreidimensionalen Karte zeigt die Verteilung von fast 50000 Galaxien. Die Farben signalisieren den Abstand von der Erde (gelb heisst nah). (Bild: Daniel Eisenstein and SDSS-III)
aus nzz.ch, Weltmodell auf dem Prüfstand
Eine dreidimensionale Karte des Weltalls bestätigt, dass unser Universum von dunklen Kräften regiert wird. Bei Kosmologen weckt der Erfolg ihres Standardmodells zwiespältige Gefühle.
von Christian Speicher
In den letzten zwanzig Jahren hat sich in der Kosmologie ein Weltmodell etabliert, das nicht rundum glücklich macht. Zwar wird das Standardmodell der Kosmologie durch verschiedene Beobachtungen gestützt. Da es jedoch zu 95 Prozent auf unbekannter Physik beruht, würden es nicht wenige Kosmologen begrüssen, wenn sich Risse in diesem Theoriegebäude zeigten. Diese Hoffnung ist nun einmal mehr enttäuscht worden. Eine dreidimensionale Karte des Universums, die 1,2 Millionen Galaxien umfasst, zeigt, dass sich das Weltall seit einigen Milliarden Jahren genau so entwickelt, wie es das Standardmodell der Kosmologie erwarten lässt.
Spielball dunkler Mächte
Das
Weltmodell, das sich in den letzten Jahren herauskristallisiert hat,
fusst auf der Einsteinschen Gravitationstheorie. Es postuliert aber,
dass es neben der gewöhnlichen Materie noch andere Materie- und
Energieformen geben muss. Da wäre die dunkle Materie, die durch ihre
Anziehungskraft massgeblich zur Ausbildung von Strukturen im frühen
Universum beigetragen haben soll. Der grosse Gegenspieler der dunklen
Materie ist die dunkle Energie. Diese hypothetische Energieform wirkt
der Gravitation entgegen und beschleunigt deshalb die Expansion des
Universums. Zusammen machen dunkle Materie und dunkle Energie laut
Standardmodell über 95 Prozent des Universums aus. Die gewöhnliche
Materie der leuchtenden Sterne ist also der Spielball «dunkler» Mächte.
Dieses
Bild – so lückenhaft es auch ist – ist in den letzten Jahren immer
wieder bestätigt worden. Einen weiteren sehr genauen Test liefert nun
der «Baryon Oscillation Spectroscopic Survey» (Boss). In den letzten
zehn Jahren hat ein internationales Team von Astrophysikern mit einem
Teleskop in New Mexico 1,2 Millionen Galaxien kartiert, die über ein
Volumen von 650 Milliarden Kubiklichtjahren verteilt sind. Die
nächstgelegenen Galaxien sandten ihr Licht vor 2 Milliarden Jahren aus,
die entferntesten vor 7 Milliarden Jahren. Damit deckt die Untersuchung
jene Epoche ab, in der sich die Expansion des Universums zu
beschleunigen begann.
Der
Wechsel der Perspektive lässt die räumliche Verteilung der Galaxien
erkennen, die zwischen zwei und sieben Milliarden Lichtjahre von der
Erde entfernt sind. (Bild: Jeremy Tinker and SDSS-III)
Akustischer Fingerabdruck
Die Forscher interessierten sich vor allem für die grossräumige Verteilung der Galaxien in diesem Volumen. Eine aufwendige Analyse zeigt,
dass die Galaxien einen ganz bestimmten Abstand voneinander bevorzugen,
der mit der Expansion des Universums grösser wird. Man nennt diese
charakteristische Längenskala auch akustische Skala, weil sie dem
Universum 380 000 Jahre nach dem Urknall durch Schallwellen aufgeprägt
wurde. Indem man aus der Galaxienverteilung extrahiert, wie diese Skala
mit der Zeit gestreckt wurde, lässt sich im Prinzip die gesamte
Expansionsgeschichte des Universums rekonstruieren.
Die Grafik zeigt das Universum zu drei verschiedenen Zeiten. Ganz rechts sieht man den Mikrowellenhintergrund. In den kleinen Unregelmässigkeiten war schon damals die grossräumige Struktur des Universums angelegt. Zu erkennen ist auch das ringförmige Muster, das dem Mikrowellenhintergrund durch Schallwellen aufgeprägt wurde. Mit der Expansion des Universums wächst auch der Durchmesser des Rings, was sich auf die grossräumige Verteilung der Galaxien in späteren Epochen auswirkt. (Bild: E.M. Huff, the SDSS-III team)
Die
Auswertung der Daten bestätigt das Standardmodell der Kosmologie auf
ganzer Linie: Der bevorzugte Abstand zwischen den Galaxien hat sich im
fraglichen Zeitraum just so entwickelt, wie es das Seilziehen zwischen
der anziehenden dunklen Materie und der abstossenden dunklen Energie
erwarten lässt. Die Erweiterung des Standardmodells um zusätzliche
Parameter – etwa zusätzliche Neutrino-Sorten – führte nicht zu einer
besseren Übereinstimmung mit den Beobachtungsdaten.
Zudem
sind die Daten mit einer Unsicherheit von nur 5 Prozent mit der
Vorstellung verträglich, dass die dunkle Energie – was immer sich hinter
ihr verbirgt – eine kosmologische Konstante ist. Kompliziertere
Modelle, in denen sich die dunkle Energie mit der Zeit verändert, können
zwar nicht ausgeschlossen werden, machen die Übereinstimmung mit den
Daten aber nicht besser.
Gravitation wie im Bilderbuch
Zu
guter Letzt liefern die Daten auch eine Bestätigung der Einsteinschen
Gravitationstheorie. In einem expandierenden Universum bewegen sich die
Galaxien wie Rosinen in einem aufgehenden Kuchenteig voneinander weg.
Daneben haben sie aber auch noch eine Eigenbewegung. Denn die
Gravitationskraft zieht die Galaxien dorthin, wo mehr Materie vorhanden
ist. Durch die Analyse dieser Eigenbewegung konnten die Forscher zeigen,
dass es keine Notwendigkeit gibt, die Einsteinsche Gravitationstheorie
auf kosmischen Skalen zu modifizieren.
Für
das Standardmodell der Kosmologie sind diese Resultate zweifellos ein
Erfolg. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Natur der dunklen
Materie und der dunklen Energie weiterhin rätselhaft bleibt.
Möglicherweise hätte man mehr gelernt, wenn sich in den Daten
Widersprüche zum Standardmodell angedeutet hätten, sagt Ariel Sanchez
vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching, der
massgeblich an der Untersuchung beteiligt war. Doch man könne sich das
Verhalten der Natur nicht aussuchen.
Die Hoffnung vieler Kosmologen beruht nun auf weiterführenden Untersuchungen. Das Nachfolgeprojekt eBoss sammle
bereits seit zwei Jahren Daten, sagt Jean-Paul Kneib von der ETH
Lausanne, der das Projekt leitet. Mit den ersten Ergebnissen sei in
einigen Monaten zu rechnen. Anders als mit Boss werde der Fokus auf der
Zeit zwischen 7 und 10 Milliarden Jahren vor heute liegen. Indem man die
Expansionsgeschichte des Universums weiter in die Vergangenheit zurück
verfolge, sollten sich die Parameter des Standardmodells noch genauer
bestimmen lassen. Auf diese Weise, so hofft Kneib, werde man das Wesen
der dunklen Energie noch genauer eingrenzen können.
aus scinexx Die baryonischen akustischen Oszillationen hinterließen subtile Schwankungen in der Galaxienverteilung.
Größte 3D-Galaxienkarte verrät Expansion des Kosmos Vermessung von 1,2 Millionen Galaxien spricht gegen eine höhere Hubble-Konstante
Fünf Milliarden Lichtjahre tief und ein Viertel des Himmels groß: Das sind die Ausmaße der bisher größten dreidimensionalen Galaxienkarte, die Astronomen je erstellt haben. Auf Basis von rund 1,2 Millionen Galaxien haben Forscher damit die kosmische Expansion präzise nachgemessen. Das Spannende daran: Ihre Werte für die Hubble-Konstante stimmen zwar gut mit einigen vorherigen überein - nicht aber mit allen.
Sie ist noch immer die große Unbekannte im Universum: die Dunkle Energie. Sie ist die Triebkraft für die Expansion des Kosmos, doch woraus sie besteht und wie stark sie zu verschiedenen Zeiten wirkte, ist weitgehend ungeklärt. Messungen der Expansionsrate sorgen immer wieder für Rätselraten, weil sie je nach Methode deutlich voneinander abweichen.
650 Milliarden Kubiklichtjahre
Ein Team aus hunderten von Astronomen hat nun die bisher umfangreichste dreidimensionale Galaxienkarte fertiggestellt. Die Forscher des Baryon Oscillation Spectroscopic Survey (BOSS) hatten bereits vor zwei Jahren erste Vorabversionen dieser Karte genutzt, um die Entfernungen von 1,2 Millionen Galaxien mit einem Prozent Genauigkeit zu vermessen – so präzise wie nie zuvor.
"Zehn Jahre lang haben wir Messungen von 1,2 Millionen Galaxien über ein Viertel des Himmels hinweg gesammelt, um damit die Struktur des Universums in einem Volumen von 650 Milliarden Kubiklichtjahren zu kartieren", sagt Jeremy Tinker von der New York University, einer der Leiter des Projekts. Die jetzt abgeschlossene Karte zeigt Galaxien aus der Zeit von vor zwei bis sieben Milliarden Jahren und erfasst damit eine entscheidende Zeit: Bisherigen Erkenntnissen nach nimmt die kosmische Expansion seit etwa fünf bis sechs Milliarden Jahren an Tempo zu.
"Eingefrorene" Dichtewellen als Messlatte
Um die Ausdehnungsrate und damit die Wirkung der Dunklen Energie zu messen, analysieren die Forscher in der neuen Karte subtile Schwankungen in der Verteilung der Galaxien. Sie entstanden durch Dichtewellen im frühen Kosmos, sogenannte Baryonische Oszillationen. Rund 400.000 Jahre nach dem Urknall brach die Kopplung von Licht und Materie jedoch zusammen, so dass das Muster dieser Dichtewellen quasi "eingefroren" wurde.
Genau das ermöglicht die Messung der kosmischen Expansion: Weil sich diese primordialen Dichtewellen sowohl in der kosmischen Hintergrundstrahlung als auch in der späteren Galaxienverteilung widerspiegeln, können Forscher durch Vergleiche beider auf die seither erfolgte Expansion schließen.
Diskrepanzen bei der Expansion
Das Ergebnis: Die BOSS-Forscher kommen auf einen Wert der Hubble-Konstante von 67,6 Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec (km/s/Mpc). Damit aber liegen sie sehr nahe an dem Wert von 67,15 km/s/Mpc, den der Planck-Satellit im Jahr 2013 ermittelt hatte – und deutlich niedriger als die erst vor wenigen Wochen veröffentlichten Ergebnisse eines Teams, das die Expansion anhand von Supernovae und veränderlichen Sternen bestimmt hatte.
"Unsere Karte sagt uns, dass sich der Einfluss der Dunklen Energie in dem von uns betrachteten Zeitausschnitt sehr langsam, wenn überhaupt, verändert hat", erklärt Florian Beutler von der University of Portsmouth.
Die Auswertungen der Galaxienkarte scheinen damit das klassische Modell eines flachen Universums mit kalter, Dunkler Materie (ΛCDM) zu bestätigen. Nach diesem halten sich der Einfluss der Masse und der Dunklen Energie so die Waage, dass die Expansion erst nach unendlich langer Zeit stoppen wird. Auch das von den Forschern beobachtete Verhalten der Galaxien entspricht genau den Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Offene Fragen bleiben
Die Diskrepanzen mit den neuesten Supernovae-Messergebnissen der Hubble-Konstante bleiben damit jedoch bestehen. "Ob dies mit einer Kombination aus statistischen und systematischen Fehlern erklärt werden kann oder ob das flache ΛCDM-Modell zusammenbricht, ist eine spannende offene Frage", konstatieren die Forscher.
In jedem Falle hat sich die neue Galaxienkarte schon jetzt als ein wertvolles Werkzeug der Kosmologie erwiesen: "Wir glauben, dass der Baryon Oscillation Spectroscopic Survey einen wichtigen kosmologische Meilenstein markiert, indem er präzise Messungen der Materieverteilung in einem enormen Volumen des Kosmos mit detaillierten Modellierungen und Beobachtungen des kosmischen Mikrowellenhintergrunds verbindet", so das Fazit der Astronomen. (Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, in press; arXiv:1607.03155)
(Lawrence Berkeley National Laboratory / BOSS, 15.07.2016 - NPO)
Nota. - Am liebsten wäre den Naturwissenschaftlern ein Modell, das einfach und schön ist.
Das macht sie sympathisch. Aber unschuldig ist es nicht: denn sie liebäugeln heimlich immer wieder mit einem intelligent design, und danach sieht das gegenwärtige Standardmodell mit all seinen Ungleichgewichten, notwendigen Zusatzannahmen, diskreten Größen und Regelwidrigkeiten ganz und gar nicht aus.
Einfach und schön, das sind ästhetische Maßstäbe, und dass sie unserer Intelligenz als ihr eigenes Ideal vorschweben, ist am Ende vielleicht deren ultimative Rechtfertigung. Aber sie kann sich doch nicht selber zum Maßstab des Universums aufwerfen; wie ein Zwölfjähriger, den der Hafer sticht!
JE
Dienstag, 19. Juli 2016
Was weiß der Naturforscher vom freien Willen?
Abstract
Das
Feld der Naturwissenschaft ist konstituiert durch das Kausalprinzip. Wo
Kausalität ist, ist für Freiheit kein Raum. Kein Wunder also, daß die
Hirnforschung einen Sitz des freien Willens nicht "finden" konnte.
Der Mensch ist nämlich kein Naturprodukt. Als einziges Lebewesen hat er seine
angestammte Umwelt verlassen und ist in eine offene Welt aufgebrochen. Diese
Welt ist keine Ansammlung von Dingen, sondern ein Raum von Bedeutungen. Es gibt
ihn nur für den, der danach fragt. Und anders
"gibt es" auch keine Kausalität
Ich bin meine Welt.
Ludwig Wittgenstein*
Seit den fünfziger Jahren galt die
Kernphysik als Königin und Leitbild der Wissenschaften. In den Achtzi-gern trat
die Molekularbiologie an ihre Stelle. Inzwischen ist die Hirnforschung an der
Reihe. Und das macht einen Unterschied! Denn von
"Lebenswissenschaften" ist auf einmal die Rede, und das klingt so,
als könnten die Naturforscher neuerdings über Dinge urteilen, die früher Sache
von Philosophie und Geistes-wissenschaften waren. Seit zwei, drei Jahren
diskutieren Naturwissenschaftler, ob es einen freien Willen gibt.
Die Neurophysiologie zeigt uns die Stellen
im Kopf, wo das Bewußtsein entsteht; und - in einem technischen Sinn - sogar,
wie. Kann sie auch erklären, was das Bewußtsein ist? Und was in ihm vorkommt?
Der wunde Punkt ist natürlich das Ich. Es sei "eine Illusion, daß wir im
Gehirn ein Kommandozentrum haben, in dem das Ich residiert und wertet,
entscheidet und befiehlt", sagt der Hirnforscher Wolf Singer. Stattdessen
müßten wir uns "das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst
organisierenden Zustand denken"1 - quasi immer nur ad hoc.
Seit es sie als solche gibt, verstehen sich
die Naturwissenschaften heimlich oder unverhohlen als Inbegriff des wahren
Wissens.2 Sie sind methodisch exakt und lassen nichts gelten, was
sie nicht experimentell überprüfen können. Demgegenüber hatten die (heute
wieder so genannten) Moral Sciences,
die sich nicht mit der Natur, sondern mit dem handelnden Menschen beschäftigen,
einen wackligen Stand. Sie können keine ‚Gesetze’ postulieren, die sie nur noch
empirisch prüfen müßten, denn ihre Grundvoraussetzung sind das Ich und seine
Freiheit. Die Menschen machen ihre Geschichte wohl nicht aus freien Stücken,
sagt Marx, aber sie machen sie selbst. Täten sie es nicht, dann herrschte in
ihren ureigensten Angelegenheiten entweder blinder Zufall und es ließen sich
darüber keinerlei sinnvolle Aussagen treffen; oder es walten fremdartige
"Kräfte", die der Menschheit wie die antiken Götter von außen ihre
Schicksale zudiktieren. Sollen indes Einsichten möglich werden, die sinnvolles
Handeln begründen können, dann bleiben in den Moral Sciences Freiheit und Ich
zwar nicht als Erklärungsgrund im Einzelnen, wohl aber als Rechtsgrund im
Ganzen unhintergehbar. Ohne die ist ihr Wissen hinfällig.
Vor-Entscheidungen
"Im Bezugssystem neurobiologischer
Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste
Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das
je unmittelbar Vorausgegangene", schreibt Wolf Singer.3 Wenn
die Argumente der Hirnphysiologen im Bezugssystem neurobiologischer Forschung
verblieben wären, gäbe es gar keine Kontroverse. Sie beanspruchen aber, mit
ihren neuen Ergebnissen in die Prämissen anderer Wissensfelder einzugreifen:
"Unaufschiebbar werden schon jetzt Überlegungen über die Beurteilung von
Fehlverhalten, über die Beurteilung von Schuld und unsere Begründungen von
Strafe."4 Und für die Pädagogik entscheidet die Frage nach der
persönlichen Verantwortung geradezu über Sein oder Nichtsein.
Eine neue Frage ist es allerdings nicht,
die die Hirnforscher mit ihren neuen Forschungsresultaten da aufwerfen. Es ist
der alte Hut der Kausalität. Wenn nämlich der frühere Zustand den späteren
Zustand ‚determiniert’, dann handelt es sich um ein Verhältnis von
"Ursache" und "Wirkung", was wohl sonst? Der Satz, daß
nichts ohne zureichende Ursache geschieht, ist indessen kein
Forschungsergebnis, das sich überprüfen ließe, sondern eine Prämisse. Er ist,
indem er die Physik begründet, der Grund-Satz aller Naturwissenschaft: da durch
ihn, und nur durch ihn, jeder rationelle Begriff von ‚Natur’ überhaupt erst möglich
wird. Auf ihm "beruht" die Naturforschung ebenso sicher wie die
Mathematik auf ihren Axiomen. In beiden Fällen ist nichts "erwiesen",
sondern wird als gültig lediglich angenommen. Aber in beiden Fällen bewährt
sich die Annahme durch die Leistungen, die sie ermöglicht.5
Mit einem kleinen, feinen Unterschied: Ihre
Mathematik machen die Mathematiker selber. Deren Gegenstände sind nichts
anderes als ihre eigenen Operationen. Wenn dank ihrer Prämissen ihre
Operationen gelingen, sind alle Probleme aufgelöst, es bleibt kein unerklärter
Rest. Die Gegenstände der Realwissenschaften machen die Wissenschaftler aber
nicht selber. Dort können sich die Prämissen nur pragmatisch bewähren:
regulativ am einzelnen Fall, sie helfen beim Auffinden von Erkenntnissen;6
sind selber aber keine Erkenntnis, die ihrerseits etwas begründen könnte.
Wie ist das aber heute? Sie haben kein Ich
finden können; da treten die Naturforscher den Moral Sciences entgegen und
sagen: Wir haben unsere Kausalität, und ihr habt nix. Doch da sind sie im
Irrtum. Sie haben ihre Kausalität gerade so schlecht und so recht wie die Moral
Sciences ihren freien Willen.
Der Allverursacher
Die Logisierung, nämlich Mathematisierung
der Welt durch Descartes und Newton im 17. Jahrhundert gilt als der Sieg der
Vernunft über den Mythos. Wissenschaftlich und rational ist nur jene
Weltbetrachtung, die alles Sicht- wie alles Denkbare unter die Kategorie von
Ursache und Wirkung faßt. Dabei ist das selber ein Mythos, wenn auch einer von
höherer Ordnung. Die alten Mythen erzählten - anders als die Wissenschaft, die
in allgemeinen Sätzen spricht - immer von besonderen Ereignissen, die
sinnbildlich auf Mehr deuten. Dieser moderne Metamythos handelt aber von Allem
und Jedem.
Spinoza hat ihn zum mechanischen
Universalsystem ausgetüftelt:7 Der Erste Verursacher - deus sive natura - konstruiert sich ordine geometrico zur Welt. Da hat die
Kausalität keine Lücke - Determiniertheit aller Orten. Die Willensfreiheit war
auch für ihn das große Skandalon. "Die Menschen täuschen sich darin, daß
sie glauben, sie seien frei. Diese Meinung besteht bloß darin, daß sie sich
ihrer Handlungen bewußt sind, die Ursachen aber, wovon sie bestimmt werden,
nicht kennen. Das also ist die Idee ihrer Freiheit, daß sie keine Ursache ihrer
Handlungen kennen. Denn wenn sie sagen, die menschlichen Handlungen hängen vom
Willen ab, so sind das Worte, von welchen sie keine Idee haben. Was der Wille
ist und wie er den Körper bewegt, wissen sie ja alle nicht, und diejenigen, die
etwas anderes vorgeben und einen Sitz und Aufenthalt der Seele erdichten,
erregen damit nur Lachen und Verdruß."8 Substanziell mehr haben
die Hirnphysiologen unserer Tage in dieser Sache auch nicht vorgebracht.
Wenn ich mich einmal entschlossen habe, den
Fluß des wirklichen Geschehens in eine zeitliche Folge von Zuständen aufzulösen,
und ferner entschlossen bin, das Nacheinander der Zustände als ein Machen
aufzufassen, dann werde ich, was Wunder, allenthalben Ursachen und deren Folgen
antreffen. Aber aus welchem Rechtsgrund durfte ich so verfahren? "Wir
wissen mit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei ist, als daß alles, was
geschieht, eine Ursache haben müsse", sagt Lichtenberg;9 könne
man also nicht das Argument umkehren und sagen: Unsre Begriffe von Ursache und
Wirkung "müssen sehr unrichtig sein", weil unser Wille sonst nicht
frei sein könnte?
Sein älterer Zeitgenosse David Hume hatte
die Idee der Kausalität bereits zwar nicht für unrichtig, aber doch für
rational unhaltbar erklärt.10 Die Vorstellung, daß das, was post hoc
- nach-jetzt - geschieht, propter hoc geschähe: wegen-jetzt, sei eine bloße
Gewohnheit der alltäglichen Anschauung ohne jeden vernünftigen Grund. Noch kein
Mensch hat sich bei dem Satz, daß Etwas ist, "weil" etwas Anderes
vorher war, je wirklich etwas denken können - es sei denn, er hat sich einen Macher hinzugedacht. Als Descartes und
Newton seinerzeit die moderne, wissenschaftliche Weltanschauung begründeten,
haben sie das nicht verhohlen: In ihrer mathematisierten ‚Natur’ wurde die
Kausalität durch "wirkende Kräfte" gewährleistet, die der Schöpfer
ihr eingepflanzt hatte; mechanische Kräfte: Druck und Stoß. Als etwa Newton ins
Weltall die "Anziehungskraft" einführte, fehlte ihm im leeren Raum
ein Medium, durch welches sie ‚übertragen’ werden konnte; also wurde gleich der
‚Äther’ mit hinzu erfunden! Im folgenden Jahrhundert obsiegten dann die
Empiriker. Wirkende Kräfte waren experimentell nicht nachzuweisen. Auf den
Sensualisten Locke folgte der Skeptiker Hume.
Alles hat seine Zeit, seit den Revolutionen
der Thermodynamik ist Newtons Physik überholt, und in Einsteins Universum ist
an wirkende Kräfte schon gar nicht mehr zu denken. Wer heute in der
Wissenschaft die Kausalität nicht heuristisch-regulativ, sondern als Begründung
verwenden will, muß sich seinen Macher klammheimlich hinzudenken. Wer etwas
anderes vorgibt, erregt... Lachen und Verdruß.
Denn natürlich ist der Satz, daß nichts
ohne zureichende Ursache geschieht, viel älter als Newton und alle
Wissenschaft. "Ich bemerke etwas und suche nach einem Grund dafür, das heißt
ursprünglich: Ich suche nach einer Absicht darin und vor allem nach einem, der
Absicht hat, nach einem Subjekt, einem Täter: alles Geschehen ein Tun - ehemals
sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit. Die
Frage ‚warum?’ ist immer die Frage nach der Causa finalis, nach einem ‚Wozu?’
Was uns die Festigkeit des Glaubens an Kausalität gibt, ist nicht unsere
Gewohnheit des Hintereinander von Vorgängen, sondern unsere Unfähigkeit, ein
Geschehen anders interpretieren zu können als ein Geschehen aus Absichten. Es
ist der Glaube, daß alles Geschehen ein Tun sei, daß alles Tun einen Täter
voraussetzt", sagt Nietzsche.12
Das führt uns zu folgender
schwindelerregenden Konsequenz: "Der populäre Glaube an Ursache und Wirkung
ist auf die Voraussetzung gebaut, daß der freie Wille Ursache sei von jeder
Wirkung. Erst daher haben wir das Gefühl der Kausalität."13
Allerdings ist es nicht der freie Wille von dir und mir, sondern der freie
Wille des Welturhebers. Wenn alles seine Ursache hat, dann muß am Anfang der
Kette eine Erste Ursache stehen.14 Mit der Kausalität glaubten die
Menschen, den Urheber bei der Arbeit belauscht zu haben: Die Natur hat einen
"Plan". Nichts tut sie ohne Bedacht. Und vergeudet nichts! Die
Kausalität ist eine säkulare Theologie. Sie gehört zum Bild von der Natur als
einem Haushälter. Sie ist die Apotheose der bürgerlichen Gesellschaft.
Reich des Machbaren
Bekanntlich war es Humes siegreicher
Angriff auf die Kausalität, der Immanuel Kant aus seinem "dogmatischen
Schlummer" gerissen und die Kopernikanische Wende von der metaphysischen
Spekulation zur Kritischen Philosophie veranlaßt hatte. Nicht in der Natur, die
wir betrachten, hätten Kategorien wie Kausalität und Notwendigkeit ihre
Ursache, sondern in den transzendentalen Voraussetzungen unserer
Betrachtungsweise.
Wo die Menschen diese Voraussetzungen
herhaben, hat Kant nicht erötert. Er läß durchblicken, daß er eine Vermutung
habe, aber ausgesprochen hat er sie nicht. Jürgen Habermas war - hundert Jahre
nach Marx - weniger delikat: "Die Leistungen des transzendentalen Subjekts
haben ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung",15
und die hat sie in den letzten zweieinhalb Millionen Jahren, seit sie ihre
Urwaldnische verlassen hat und aufrecht geht, selbergemacht. Was aber war die
pragmatische Grundlage, auf der die Menschen in ihrer fraglichen, weil offenen
Welt Erfahrungen, die ihnen als Wegmarken dienten bei ihrer Lebensführung, überhaupt
machen konnten? "A beabsichtigt, p herbeizuführen. A glaubt, daß er p nur
dann herbeiführen kann, wenn er a tut. Folglich macht sich A daran, a zu
tun."16 Das ist es, was Georg H. von Wright den
"praktischen Syllogismus" nennt: "das Schema einer auf den Kopf
gestellten teleologischen Erklärung". Es ist die Urform allen Syllogismus,
die Urform unseres logischen Schlußfolgerns schlechthin.
Indes, ein Raum, in dem es vor allen Dingen
auf das Verfolgen von Zwecken und auf das Kalkulieren der geeigneten Mittel, wo
es aufs Haushalten ankommt, ist die Welt nicht an und für sich, und jedenfalls
nicht immer gewesen. Sie war es nicht - und ist es bis heute nicht - im
Lebensraum der Jäger und Sammler, die von einem wirtlichen Ort zum nächsten
ziehen, bis sie auch den abgeweidet haben und ihr Wanderleben fortsetzen. Erst als
unsere Vorfahren nach zwei Millionen Jahren das Wandern aufgaben zugunsten von
Ackerbau und fester Wohnstatt; als mit der Arbeitsteilung der Austausch begann
und das Berechnen des Gewinns; erst als das Wirtschaften anfing und aus den
isolierten Wandergruppen eine Gesellschaft erwuchs, mußte aus den vielfältigen,
phantasievoll animierten Welt-Bildern der Naturvölker eine gemeinsame Welt
hervorgehen. Ihr Grundcharakter ist Machbarkeit. Seither haben die aktuellen
Probleme aus unserer haushälterischen Welt von Zweck und Mittel, von Ursache
und Wirkung die gedankliche Täigkeit der Menschen so vordringlich beherrscht,
daß schließlich ‚unserer’ Welt auch der logische Vorrang vor den individuellen
Welten eines jeden Einzelnen zugefallen ist. ‚Meine’ Welt erscheint seither als
eine schadhafte, unvollständige, als eine Fehlform "der" Welt: das
Kind, der Wilde, der Narr. Der Erwachsene, der "Gebildete" lebt
selbstverständlich ganz und gar in unserer Welt.17
Welt-weites Netz
Die logische Priorität unserer vor meiner
Welt gehört nicht zum Wesen der Sache und ist nur eine historisch gewachsene
optische Täuschung.
Im Lauf der Evolution hat sich eine jede Gattung ihre passende biologische Nische eingerichtet und zu einer Umwelt umgewidmet, wo die Bedeutung eines jeden Dings für das Individuum festgeschrieben ist durch seinen Platz im ökologischen Geflecht.18 Als unsere Urahnen von den Bäumen stiegen und aus der angestammten Urwaldnische zu ihrer Wanderschaft in einen fremden weiten Raum aufbrachen, mußten sie sich nicht nur auf zwei Beine erheben, sondern auch den Verlust ihres ererbten Bedeutungsrahmens (über-)kompensieren: indem sie für das Neue neue Bedeutungen erfanden, in Symbolen objektivierten, in den fragwürdig offenen Raum hinein projizierten und zu einem world-wide web19 verknüpften.
Diese Welt "gibt es" nur im
Denken, und auch nur, wenn sie von jedem Neuankömmling neu gedacht wird. Was
die Dinge seiner Umwelt dem Tier bedeuten, "versteht sich von selbst"
- da muß es das Tier nicht auch noch verstehen. Ein Mensch hat eine Welt aber
nur, wenn er sie versteht. Das ist eine Vorstellungsarbeit: Wenn alle Dinge
"eine Bedeutung haben", ermöglicht und erfordert diese ihre
gemeinsame Qualität, sie als eine Gesamtheit aufzufassen, indem die Bedeutung
des Einen zur Bedeutung des Andern ins Verhältnis gesetzt wird, so daß schließlich
die Bedeutung eines Jeden in den Bedeutungen aller Andern ihre Grenze findet.
Die Welt ist dann die Totalität der Verweisungszusammenhänge.
Logisch mag man das Verhältnis umkehren:
indem man die (gedachte) Totalität aller (möglichen) Verweisungen als Inbegriff
der Welt an den Anfang setzt und die tatsächlich stattfindenden Verweisungen
und schließlich die je einzeln "ursächlich" bestimmt-werdenden
Bedeutungen daraus hervorgehen läßt; wie in den metaphysischen Systemen des 17.und 18. Jahrhunderts, in denen sich - als Inbegriff unserer Welt - die
Marktwirtschaft und die bürgerliche Gesellschaft ankündigten.20
Doch wenn es auch so wäre, daß die Welt,
einmal erfunden, gegeben ist wie es die tierischen Umwelten sind - so muß sie
sich jeder Neuankömmling doch jedesmal wieder aufs Neue aneignen. Er
konstruiert sich seine Welt nicht aus freien Stücken, aber er konstruiert sie
selbst. Und er könnte das mehr oder weniger tun. Wenn ihm das auch am vorgegebenen
Material leichter fällt als den abertausenden Generationen vor ihm, die alles
erst erfinden mußten - im Prinzip ist es doch "so gut, als ob" er mit
dem Bedeuten der Dinge ganz von vorn anfinge. Und die ‚erste’, elementare
Bedeutung: die Scheidung von Ich und Nichtich. Indem ich ein Anderes
"bedeute", bedeute ich ipso facto ‚mich’ als das Andere dieses - und
jedes andern - Andern. In einer natürlichen Umwelt kann es ein Ich nicht geben.
Aber ohne Ich kann es die Welt nicht geben.
Ich in der Welt
Meiner Welt liegt unsere Welt gewissermaßen
zu Grunde. Und unserer Welt liegt meine Welt zu Grunde. Das einemal
kategorisch, das andermal genetisch. Daß ich überhaupt darauf komme, die Daten,
die mir meine Sinne melden, zu einer "Welt" zu konstruieren, liegt
daran, daß ich in die Welt der Andern hineingeboren bin. Und daß ich vor diesem
Horizont meine Welt konstruiere, liegt daran, daß es meine Sinne sind, die mir ‚Daten’
gemeldet haben, und daß ich sie zu einander fügen muß. Daß ich meine Welt konstruieren muß, liegt an den Andern. Daß es diese Welt sein wird, liegt... an meinen
Sinnes-Daten, die dadurch, daß ich eine Welt aus ihnen baue, zu den meinen überhaupt
erst werden!
"Ich" konstruiere eine Welt. Es
wird meine Welt sein: Darum bin ich
Ich. Aber zu unserer Welt gehöre ich auch, das ist ja das Problem! Unsere Welt wird von Ursachen und
Wirkungen zusammengehalten, aber in meiner Welt wirke ich selbst, und nun muß
ich wissen, was ich da draußen soll, weil ich sonst mein Leben dort nicht führen
kann. Die Befähigung, mein Leben in meiner Welt und in unserer Welt zugleich zu
führen, ohne in die Irre zu gehen, nennt man Bildung. Der Vereinigungspunkt,
von dem aus ich beide Welten zugleich überschaue, ist die Idee, nach der ich
mich richten zu sollen glaube. 21 Wie ohne ihn Erziehung überhaupt möglich
wäre, ist nicht abzusehen. Ob "Ich" dafür der am besten geeignete
Name ist, darüber mag man ja streiten. Aber auch mit den Naturforschern?
Fragend
Im Unterschied zu den tierischen Umwelten
ist die Welt - unsere und die meine - gar keine Gegend, sondern nur deren
Horizont. Denn im geschäftigen Alltag begegnen mir immer nur Dinge - dies und
das und jenes, und das meiste davon kenne ich. So erging es auch unsern
Urahnen, als sie aus der angestammten Urwaldnische ins weite, offene Feld
ausbrachen: Dies und das war ihnen vertraut und bedeutete, was es schon immer
bedeutet hatte. Anderes war ihnen in den Nischen nicht vorgekommen. Aber im
offenen Feld kam Anderes vor; nicht als bedeutungslos, sondern als fraglich - weil
nun das Ganze fraglich war. Das war eine ganz neue Bedeutung. Die Welt ist
entstanden aus dem Verlust der sich-selbst-bedeutenden Umwelt: als ein Raum, in
den ich fragend blicke.
Und in dem ich mir schließlich selber
fraglich werde. Denn wer fragt, muß endlich antworten - und sich verantworten:
Warum so und nicht anders? Mit welchem Recht? "Welches ist also die
Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist seine Urteilskraft. Die bestimmende
Ursache liegt in ihm selbst."22 Schlichte Worte, aber sie begründeten
die kopernikanische Wende der Vernunft: Das Herzstück von Rousseaus "Émile"
ist das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Dort hat Kant das Ich als
Angelpunkt der kritischen Philosophie gefunden.23 Eins ist mit
Sicherheit wahr: So wahr ich urteile,
urteile ich. Wenn überhaupt etwas
gewiß ist, ist es das; und wenn nicht dies, dann gar nichts, und ich muß
verstummen. Das und nichts anderes bedeutet Freiheit in transzendentalem Verständnis.
Und das transzendentale Ich ist bei Kant jene Instanz, die die mannigfaltigen
sinnlichen Eindrücke aufeinander bezieht und zu einer ‚Erfahrung’ zusammenfaßt.
Vom ihm wissen wir nur, weil - und daß - dieser Akt des Zusammenfassens tatsächlich
geschieht; weil und indem wir tatsächlich Erfahrungen machen - und tatsächlich
urteilen. Eine ‚Substanz’ des Ich, die ja nur die "Seele" der
Theologen sein könnte, schließt Kant dagegen aus der theoretischen Erörterung
ganz aus: weil sie jenseits möglicher Erfahrung liegt;24 auch
jenseits der Erfahrungen der Hirnphysiologie, wie wir eben hören und schon
vorher wußten.
"Kein materielles Wesen ist durch sich
selbst tätig; ich aber bin es. Man kann es mir bestreiten: ich fühle es, und
dieses Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die es
bestreitet."25 Das transzendentale Ich als erkenntnislogisches
Konstrukt und das Ich als praktisch-ästhetische Idee, als Bild, das mir als
meine Bestimmung vorschwebt, sind von der empirischen Person und ihrer Nerventätigkeit
gleich weit entfernt. Sie bezeichnen beide etwas, das an der Ichheit notwendig,
und nicht das, was daran zufällig ist. Mit dem empirischen Selbst haben sie
dies gemein: Sie teilen ihm einen Sinn mit; teils, wo es herkommt, teils, wo es
hinsoll.
Nun ist es der Hirnforschung gelungen, mittels ihrer modernen bildgebenden Verfahren zu zeigen, über welche Kanäle derlei Bedeutungen entstehen. Sollten sie uns eines Tages zeigen können, wo und wie die elektrochemischen Reaktionen im menschlichen Gehirn "in Bedeutungen umschlagen"; wenn sie uns zusehen lassen, "wie Bedeutung entsteht" und uns gar die Bedeutungen selber sichtbar machen; wenn sie uns also zeigen, wie sie mit ihren ‚Ursachen’ bis ins Reich der Bedeutungen hinein ‚wirken’ können - dann dürfen sie sich bei uns andern beklagen, daß wir ihnen keinen Ort zeigen können, wo ein Ich sitzt. Bis dahin sollen sie sich mit dem Hinweis zufrieden geben, daß sie sich mit ihrer methodischen Option für Ur-sache und Wirkung den Zugang zu diesen Dingen von vornherein abgeschnitten hatten. Und bis dahin behält Lichtenberg recht. Das Ich und seine Freiheit sind uns sicherer verbürgt als die Notwendigkeit von Ursachen.
Nun ist es der Hirnforschung gelungen, mittels ihrer modernen bildgebenden Verfahren zu zeigen, über welche Kanäle derlei Bedeutungen entstehen. Sollten sie uns eines Tages zeigen können, wo und wie die elektrochemischen Reaktionen im menschlichen Gehirn "in Bedeutungen umschlagen"; wenn sie uns zusehen lassen, "wie Bedeutung entsteht" und uns gar die Bedeutungen selber sichtbar machen; wenn sie uns also zeigen, wie sie mit ihren ‚Ursachen’ bis ins Reich der Bedeutungen hinein ‚wirken’ können - dann dürfen sie sich bei uns andern beklagen, daß wir ihnen keinen Ort zeigen können, wo ein Ich sitzt. Bis dahin sollen sie sich mit dem Hinweis zufrieden geben, daß sie sich mit ihrer methodischen Option für Ur-sache und Wirkung den Zugang zu diesen Dingen von vornherein abgeschnitten hatten. Und bis dahin behält Lichtenberg recht. Das Ich und seine Freiheit sind uns sicherer verbürgt als die Notwendigkeit von Ursachen.
Der Beweis? Daß ich diese Frage überhaupt
stellen kann.
*) Tractatus 5.63
*) Tractatus 5.63
1) Wolf Singer, "Vom Bild zur
Wahrnehmung", in: Ch. Maar, H. Burda (Hg.), Iconic Turn, Köln 2004, S. 75f.
2) vgl. J. Ebmeier, "Vom Grund und
Gegenstand der Erziehung; Einleitung zur Kritik der pädagogischen
Vernunft" in Leviathan 3/2001; insbes. S. 412-418
3) Wolf Singer, "Vom Gehirn zum Bewußtsein",
in: ders., Der Beobachter im Gehirn, Ffm. 2002, S. 75
4) ebd. S. 76
5) gr. axios: wert (adj.)
6) gr. heuriskein: finden; heuristisch: was
das Finden erleichtert
7) Spinoza, Die Ethik (lat./dt.), Stuttgart
1977
8) ebd, S. 195ff. [p. II, prop. 35; scholium]
9) Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher,
Ffm. 1984, S. 405
10) David Hume, An enquiry concerning human understanding (1748); dt. Eine Untersuchung ber den menschlichen Verstand, Hamburg 1984
11) Für Spinoza war "deus sive
natura" selber Kraft.
12) Nietzsche, Werke (ed. Schlechta), München
1965, Bd. III, S. 501
13) ebd, S. 876
14) Ohne eine erste Ursache gäbe es überhaupt
keine Ursachen.
15) Jürgen Habermas, Technik und
Wissenschaft als ‚Ideologie’, Ffm. 1969, S. 161
16) Georg Henrik v. Wright, Erklären und
Verstehen, Ffm. 1974, S. 93
17) zur Unterscheidung von ‚unserer’ und ‚meiner’
Welt siehe: J. Ebmeier, "Die Grenzen der pädagogischen Vernunft" in:
PÄD Forum 4/2003, S. 177f.
18) vgl. Helmut Plessner, "Über das
Welt-Umweltverhältnis des Menschen" in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 8,
Ffm. 1983
19) "Symbolnetz", sagt Ernst
Cassirer; in: ders., Versuch über den Menschen, Hbg. 1990, S. 47
20) "Ich sage, daß Dinge mit einander
verknüpft sind, wenn ein jedes unter ihnen den Grund in sich enthält, warum das
andere neben ihm zugleich ist, oder auf dasselbe folgt..., und solcherart sind
die Dinge in der Welt der Zeit nach mit einander verknüpft, weil sie dem Raume
nach mit einander verknüpft sind..., da alles in einander gegründet ist":
Christian Wolff, ‚Deutsche Metaphysik'’ in: ders., Gesammelte Werke Abt. I, Bd. 2
(1740), Hildesheim 1983; S. 332; 335; 340.
21) Es ist, streng genommen, eine ästhetische
Idee; s. J. Ebmeier, "Herbarts Einsicht. Vom ästhetischen Grund der
Bildung" in: PÄD Forum 5/2003
22) Rousseau, Emil oder Über die Erziehung,
Paderborn 1971, S. 292
23) vgl. Ernst Cassirer, "Kant und
Rousseau" in: Rousseau, Kant, Goethe, Hbg. 1991
24) In der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten nennt Kant das Ich einmal ein ‚Ding an sich’. Aber das ist praktische
Philosophie, und er begründet nicht mit dem Ich die Sittlichkeit, sondern
leitet, umgekehrt, aus dem Postulat der Sittlichkeit das Ich her. Und wie sonst
bleibt offen, ob unter Ding-an-sich eine platonische Idee oder bloß ein
Noumenon zu verstehen ist...
25) Rousseau aaO, S. 293
Nochmal über Benjamin Libet und die Willensfreiheit.
aus scinexx
Warum unser Wille freier ist als gedacht
Psychologen präsentieren alternative Erklärung für das berühmte Libet-Experiment
Komplett ferngesteuert – oder doch nicht? Deutsche Psychologen haben eine neue Hypothese zum freien Willen formuliert. Darin stellen sie klar: Die menschliche Willensfreiheit und das bislang wichtigste Gegen-Experiment dazu müssen sich nicht widersprechen – wenn man die Ergebnisse anders interpretiert. Demnach seien die typischen Hirnsignale, die schon lange vor einer bewussten Entscheidung messbar sind, nicht der Auslöser von Entscheidung und Handlung. Sie erleichterten die Wahl lediglich.
Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen? Werden wir von unserem Gehirn womöglich nur ferngesteuert? Diese Frage beschäftigt Hirnforscher, Psychologen und Philosophen schon seit den 1980er Jahren. Damals zeigte das berühmte Experiment des Physiologen Benjamin Libet, dass unsere Handlungen schon lange vor der bewussten Entscheidung im Gehirn angelegt zu sein scheinen. Denn noch bevor wir uns bewusst sind, wie unsere Wahl ausfallen wird, aktiviert das Gehirn spezifische Schaltkreise für eine der beiden Möglichkeiten.
- Das Libet-Experiment und die Freiheit, nein zu sagen.
- Dein Wille ist freier, als man dir weismachen will...
- Dein Wille ist freier, als du denkst; II.
- Dein Wille ist freier als du denkst, III.
Dieses frühe sogenannte Bereitschaftspotenzial galt Libet und vielen anderen als eindeutiger Beleg: Das subjektive Gefühl der freien Willensentscheidung sei eine Illusion. Seitdem haben Forscher jedoch auch immer wieder Hinweise dafür gefunden, dass die menschliche Willensfreiheit doch nicht so eingeschränkt ist wie Libets Ergebnisse vermuten lassen. So können wir eine vorab gefällte Entscheidung etwa bis zu einem gewissen Punkt noch bewusst
Negatives Hirnsignal als Auslöser?
Auch die Psychologen um Stefan Schmidt vom Universitätsklinikum Freiburg sind sich sicher, dass unser Wille freier ist als gedacht. Sie haben nun eine alternative Erklärung für Libets Beobachtungen formuliert und zu diesem Zweck vorhandene Studien zu dem Thema ausgewertet sowie eigene Untersuchungen durchgeführt.
Die Wissenschaftler konzentrierten sich dabei vor allem auf die Funktion des frühen Bereitschaftpotenzials. Den Forschern zufolge ergibt es sich aus der Addition sehr langsamer Hintergrundschwankungen in der Gehirnaktivität und steigt 400 bis 500 Millisekunden vor Beginn der Handlung typischerweise in den negativen Bereich. Doch löst dieses charakteristische Hirnpotential wirklich unsere Entscheidung aus?
Schmidt und seine Kollegen konnten bei einer Durchführung des Libet-Experiments nachweisen, dass das nicht unbedingt so sein muss. Anders als bei Libet üblich werteten sie jeden experimentellen Durchgang einzeln aus, anstatt bis zu 40 Durchgänge zu mitteln. Dabei zeigte sich: Das Hirnsignal war in einem Drittel der Durchgänge positiv oder neutral statt wie erwartet negativ.
Bereitschaftspotenzial erleichtert Entscheidungen
"Das widerspricht der gängigen Annahme, dass der Anstieg eine direkte Vorbereitung der Handlung ist", sagt Schmidt. Laut der Hypothese der Forscher ist das Bereitschaftspotenzial demnach nicht die Ursache von Entscheidung und Handlung, sondern ein Begleitphänomen – das jedoch durchaus einen Einfluss auf unser Tun hat.
"Wir wissen aus den Experimenten, dass ein negatives Bereitschaftspotenzial Entscheidungen erleichtert, sie aber nicht auslöst. Es ist einer von vielen Einflussfaktoren", so Schmidt. Das Ansteigen des Potenzials in den negativen Bereich werde offensichtlich als innerer Impuls oder Bedürfnis verspürt, sich für die Handlung zu entscheiden. Viele Entscheidungen fallen deshalb dann, wenn die langsamen Schwankungen im negativen Bereich sind.
Impuls muss nicht gefolgt werden
Die Wissenschaftler führten das Experiment auch mehrfach mit meditationserfahrenen Versuchspersonen durch. Diese sind aufgrund der Stabilisierung ihrer Aufmerksamkeit besser als nicht Meditierende in der Lage, innere Vorgänge zu beobachten und zu berichten. Einem Meditationsmeister gelang es, den inneren Impuls zum Handeln – sprich: die negative Schwankung – zuverlässig zu identifizieren.
Folgte er dem Impuls, verstärkte sich das Bereitschaftspotential wie erwartet. Widerstand er dem Impuls, wurde es schwächer. Verzögerte er die Handlung nach dem Impuls, verschob sich auch das Bereitschaftspotential entsprechend. "Wir werden nicht nur nicht vom Bereitschaftspotenzial bestimmt, wir können es sogar bewusst verändern", schließen die Forscher. (Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 2016; doi: 10.1016/j.neubiorev.2016.06.023)
(Universitätsklinikum Freiburg, 18.07.2016 - DAL)
Nota. - Benjamin Libet hat, entgegen obiger Notiz, die fatalistische Interpretation seines Experiments nie geteilt.
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