aus Tagesspiegel.de, 01.07.2015 18:53 Uhr Clint Eastwood vor dem schiefen Turm von Pisa
Studie zum Gedächtnis
Der Moment des Lernens
Schnellmerker im Schläfenlappen: Erstmals ist es gelungen, einzelnen Zellen im menschlichen Gehirn beim Erzeugen von Gedächtnisinhalten zuzusehen
Von Hartmut Wewetzer
Wissen Sie noch, was Sie getan haben, als Sie vom Fall der Berliner Mauer erfuhren? Was haben Sie gerade gemacht, als die gekaperten Flugzeuge in die Twin Towers flogen? Die meisten Menschen können solche einschneidenden Momente mit persönlichen Erinnerungen verbinden. Ihr Gehirn hat beides miteinander verknüpft, das historische Ereignis und das private Erleben. Vereinfacht gesagt: Gedächtnis entsteht aus Verknüpfungen. Forscher haben nun erstmals zeigen können, was beim Herausbilden von Erinnerungen in einzelnen Nervenzellen des menschlichen Gehirns passiert.
Matias Ison von der britischen Universität Leicester und sein Team arbeiteten mit 14 Patienten, die unter schweren Krampfanfällen (Epilepsie) litten. Diesen Patienten waren Elektroden im Gebiet des mittleren Schläfenlappens eingesetzt worden. Die elektrischen Messfühler zeichneten die Impulse von mehr als 600 einzelnen Nervenzellen in diesem Areal auf. Die Elektroden dienten dazu, für die epileptischen Anfälle ursächliche elektrische Störherde ausfindig zu machen, um sie danach chirurgisch zu entfernen. Die Hirnforscher benutzten die Elektroden jedoch vorübergehend zu einem anderen Zweck, wie sie im Fachblatt „Neuron“ berichten. Mit ihrer Hilfe studierten sie, wie Erinnerungen mit einzelnen Nervenzellen in Verbindung stehen.
Lernen, dass Clint Eastwood und der schiefe Turm von Pisa zusammengehören
Die Versuchspersonen betrachteten auf Bildschirmen zunächst Fotos von Familienmitgliedern, Schauspielern, Sportlern und bekannten Orten wie dem Eiffelturm, dem Weißen Haus und dem schiefen Turm von Pisa. Dann wurden Prominente und berühmte Orte in Fotomontagen verknüpft: Clint Eastwood tauchte vor dem Schiefen Turm auf, Jennifer Aniston vor dem Eiffelturm und Tiger Woods vor dem Weißen Haus.
Während des Experiments registrierten die Wissenschaftler die Impulse der einzelnen Nervenzellen. Ihre elektrischen Entladungen, „Feuern“ genannt, unterschieden sich. War die Nervenzelle „gleichgültig“ gegenüber einem Bild, „feuerte“ sie lediglich dreimal in der Sekunde. Reagierte sie auf das Bild, stieg die Rate auf 13-mal pro Sekunde, gut das Vierfache.
Für Nervenzellen gilt: Ein bisschen Lernen gibt's nicht
Viele Nervenzellen waren imstande, nach nur einer einzigen Präsentation eines kombinierten Bildes – etwa Eastwood und der Turm – den Zusammenhang zu „lernen“ und zu erinnern. War eine Zelle zunächst nur auf Eastwood ansprechbar, reagierte sie nach dem Anblick der Fotomontage nun auch auf den Turm, wenn er allein abgebildet war. Und eine Zelle, die bislang nur beim Anblick des schiefen Turms gefeuert hatte, tat dies nun auch, sobald Clint Eastwoods Konterfei auftauchte. Dabei galt das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Zellen „kapierten“ den Zusammenhang oder blieben stumm. Ein bisschen Lernen gab es nicht.
„Es war frappierend zu sehen, wie dramatisch diese Veränderungen waren, traten sie doch bereits im Moment des Lernens auf. Und das sogar schon im ersten Anlauf“, sagt der Studienleiter Matias Ison. Das blitzschnelle Verknüpfen zweier „Konzepte“ (Eastwood und Turm), verbunden mit rascher Änderung der Nervenaktivität, sei die ideale Grundlage zum Erschaffen neuer „episodischer“ Erinnerungen, meint Ison. Womit wir wieder bei „Episoden“ wie dem Mauerfall wären, die sich in das Gedächtnis jedes Zeitgenossen eingebrannt haben.
Eine Erinnerung wird auf ein Netzwerk von Zellen verteilt
Der mittlere Teil des Schläfenlappens gilt als wichtiges Zentrum für das Entstehen von Erinnerungen. Die Studie legt jetzt nahe, dass das Verknüpfen von „Inhalten“ (wie Eastwood und Turm) und damit das Entstehen von Erinnerungen auf einzelne Nervenzellen in dieser Hirnregion zurückgeführt werden kann. Bisher waren lediglich im Tierversuch an einzelnen Nervenzellen Lernprozesse studiert worden.
Allerdings darf das nicht zu dem Fehlschluss verleiten, bestimmte Zellen würden bestimmte Gedächtnisinhalte speichern. Es gibt im Gehirn keine einzelne Nervenzelle, die für Clint Eastwood, die Berliner Mauer oder den schiefen Turm von Pisa zuständig ist. Erinnerungen werden vielmehr in Netzwerken von Zellen organisiert, über deren Aufbau vieles noch ungeklärt ist.
Die Wissenschaftler wollen nun studieren, warum manche Verknüpfungen langfristig bestehen bleiben und Teil des Langzeitgedächtnisses werden, während andere einfach vergessen werden. Auch für die Behandlung von Gedächtnisverlust, etwa infolge von Alzheimer, erhoffen sich die Forscher Fortschritte.
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