«Digital Humanities» und die Geisteswissenschaften
Geist unter Strom
Wenn die Geisteswissenschaften nicht wie die Naturwissenschaften konsequent auf digitale Daten setzten, hätten sie keine Zukunft, findet die modisch gewordene Bewegung der «Digital Humanities».
von Urs Hafner
Die einen reden von Revolution, die anderen von Hysterie, wieder andere sind des Themas schlicht überdrüssig. Das Reizwort, das in den Geistes- und Sozialwissenschaften umgeht, heisst «Digital Humanities», übersetzt: digitale Humanwissenschaften, also digitale Wissenschaften vom Menschen. Der virulente Begriff wird jedoch in erster Linie auf die Geisteswissenschaften bezogen. Das macht seinen Reiz aus: Er bringt unvereinbar Erscheinendes zusammen, auf der einen Seite die Geisteswissenschaften mit ihrer altbewährten Hermeneutik, dem Verstehen von Texten und Handlungen, dem Deuten der verborgenen Sinnstrukturen der Welt – und auf der anderen Seite die Zukunft, das Neue, das Digitale und dessen schier unbegrenzte Möglichkeiten, alle Arten von Daten zu speichern, zu verwalten, zu berechnen und auszuwerten.
Ein neues Regime
Nun weiss jeder Geisteswissenschafter, wie auch immer er zum Digitalismus steht, dass dieser Gegensatz so nicht existiert. Auch der Altphilologe mailt, benutzt Datenbanken, verwaltet auf seinem Computer Informationen und schaut sich im Netz dankbar digitalisierte Handschriften und Editionen an, die er sonst in entlegenen Archiven aufsuchen müsste; besonders die digitale Aufbereitung von Texteditionen klassischer Autoren stösst unter Geisteswissenschaftern auf breite Akzeptanz, zumal man diese nun einfach nach Stichworten durchforsten kann. Und selbst die grösste Digitaleuphorikerin kommt – auf der anderen Seite – nicht umhin, die Bilder oder Texte, mit denen sie arbeitet, zu interpretieren, wenn sie denn Geisteswissenschafterin sein will. Der Aufruhr, den die Digital Humanities auslösen, rührt vor allem daher, dass ihre Anhänger das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften angreifen – und dass diese Wissenschaften in einer Krise stecken. Sonst würden sie gelassener reagieren.
Seit dem Aufstieg des New Public Management und des Innovationsparadigmas am Ende des letzten Jahrhunderts stehen alle Wissenschaften vermehrt unter Druck, und wahrscheinlich werden sie ihn in naher Zukunft angesichts knapper werdender Bundesmittel noch mehr spüren. Sie müssen in einer «ökonomisierten» Forschungslandschaft Drittmittel einwerben, ihre Leistungen belegen, ihren Nutzen nachweisen und zur volkswirtschaftlichen Prosperität beitragen. Im Idealfall sollten sie ein marktfähiges Produkt oder wenigstens ein schlagendes Resultat hervorbringen. Vor allem die Geisteswissenschaften machen unter diesem neuen Regime keine gute Figur, abgesehen von einigen wenigen Historikern, die ihre sich entweder mit nationalgeschichtlichen Themen oder mit den Biografien prominenter Gestalten beschäftigenden Bücher einem breiten Publikum gut verkaufen, dafür aber nicht ganz selten die Verachtung ihrer Akademikerkollegen ernten. In die Defensive geraten, stehen die Geisteswissenschaften unter dem Generalverdacht des «L'art pour l'art».
Interessanterweise gelten für die Naturwissenschaften nicht die gleichen Massstäbe, auch wenn ihre Grundlagenforschung oft ebenfalls wenig «Positives» und «Zählbares» produziert. Sie geniessen allerdings wie etwa die Biologie den Vorteil, sich mit ihren Forschungen in eine Kette einzureihen, an deren Ende verheissungsvoll ein neues Medikament oder eine bahnbrechende Therapie winkt. Auf dem steinigen Pfad dorthin, das scheint allgemein akzeptiert zu sein, müssen auch Umwege und Rückschläge in Kauf genommen werden. Umgekehrt üben etwa die Erkenntnisse der Teilchenphysik, auch wenn sie nur wenige wirklich begreifen dürften, eine so grosse Faszination aus, dass die gewaltigen Summen, die zum Beispiel das Cern verschlingt, kaum hinterfragt werden.
Dass die meisten Geisteswissenschaften (wie auch manche Naturwissenschaften) kaum marktkompatibel sind, leuchtet ein, nicht jedoch, wieso sie sich so schwertun, der Gesellschaft ihre kulturellen Leistungen, ihren «Nutzen», mitzuteilen. Eigentlich müssten sie in die Offensive gehen. In den angelsächsischen Ländern ist ihre Lage mittlerweile prekär. Die Geisteswissenschaften erhielten kaum mehr öffentliche Gelder und müssten sich fast vollständig durch Studiengebühren finanzieren, sagt der Philologe Gerhard Lauer von der Universität Göttingen. Wenn sie so weitermachten wie bisher, hätten sie keine grosse Zukunft. Lauer ist ein Anhänger der Digital Humanities.
Die digitalen Werkzeuge scheinen in der Tat wie gerufen zu kommen. Sie verschaffen den Geisteswissenschaften einen zeitgemässen Anstrich und versprechen den Anschluss an die statistisch arbeitenden Naturwissenschaften, welche die Nase bei den Forschungsförderern vorn haben. Doch was versteht man eigentlich unter Digital Humanities des Näheren? Für Claire Clivaz, Theologin und bekennende Befürworterin des «digital turn», haben diese eine «neue Ära» eingeläutet: Nun befassten sich die Geisteswissenschaften endlich nicht mehr nur mit Texten, sondern auch mit unzähligen Dokumenten, mit Tönen und Bildern. – Mit Letzteren haben sie freilich schon länger zu tun.
Clivaz arbeitet am 2013 gegründeten Laboratoire de cultures et humanités digitales der Universität Lausanne, einem Zentrum der Digital Humanities in der Schweiz. Das «Labor» (nicht zufällig bezeichnet der Begriff für gewöhnlich eine naturwissenschaftliche Forschungseinrichtung), das mit den drei Fakultäten der Sozial-, der Geisteswissenschaften und der Theologie verbunden ist, möchte alle Forschenden der Universität Lausanne, die sich mit Digital Humanities beschäftigen, zusammenführen. Als Vorbild erwähnt Clivaz nicht von ungefähr keine geistes-, sondern eine naturwissenschaftliche Disziplin, nämlich die boomende Bioinformatik mit ihren interaktiven und dreidimensionalen Datenvisualisierungen. Das traditionelle «close reading» sei nach wie vor wichtig, doch die Zukunft liege auch in den «big data», ob einem das nun gefalle oder nicht. Nicht zuletzt sei in diesem Bereich Geld vorhanden.
Text und Autorschaft
Ähnlich sieht das Enrico Natale, Historiker und Leiter von Infoclio.ch, der von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften unterstützten digitalen Plattform der Geschichtswissenschaften in der Schweiz. Sie präsentiert nicht nur Stelleninserate, Veranstaltungshinweise und Rezensionen, sondern organisiert Veranstaltungen und schafft Kontakt zu internationalen Projekten. Für Enrico Natale sind die Digital Humanities der Teil der Geschichtswissenschaften, der – nicht ganz unbescheiden – die «Metareflexion» leiste, der über die sich mit der Digitalisierung im Umbruch befindende Wissenschaftspolitik, das Problem der Urheberrechte und die neuen Kommunikationsmöglichkeiten nachdenke.
Für viele ihrer Anhänger sind die Digital Humanities nicht weniger als die neue Disziplin, die die Geisteswissenschaften revolutioniert. Bis jetzt allerdings fällt der Leistungsausweis eher bescheiden aus. Vor zwei Jahren präsentierten Forscher an einer Tagung in Bern eine Reihe von Digital-Humanities-Projekten. Die Rede war zeitgeistkonform von mehr Praxis, mehr Anwendung, mehr Öffentlichkeit, mehr Feedback, mehr Daten und mehr Vernetzung, doch neue Erkenntnisse blieben rar. Unübersehbar zeigte sich die Faszination für das positivistische Neugruppieren grosser Datenmengen, wobei der Aufwand oft in keinem Verhältnis zum Ertrag stand. Inwiefern die digitalen Techniken den Geistes- und Sozialwissenschaften über traditionelle Hilfsdienste hinaus dienlich sein könnten, blieb unklar.
Klar hingegen wurde, dass der argumentative Text, der noch immer das Herz der Geisteswissenschaften bildet, seinen Status verliert. Noch zeugt er als abgeschlossenes Werk, sei es als Aufsatz oder Monografie, von den Begründungen und den Schlüssen seines Autors, der darin seine Erfahrungen, Überlegungen und Lektüren hat einfliessen lassen; noch bildet er ein «Narrativ», das insbesondere in den Geschichtswissenschaften den Lesern eine anhand der Quellen plausibilisierte Geschichte erzählt. Der Text der Zukunft dagegen ist, wenn es nach manchen Vertretern der Digital Humanities geht, eine im Netz «offen» zugängliche Publikation – als ob alles, was dort kosten- und codefrei zugänglich ist, damit der gesamten Weltöffentlichkeit zur Verfügung stünde, die sich brennend etwa für die neusten spezialistischen Erkenntnisse interessierte. Das sich in der Wissenschaftswelt ausbreitende Wort «open» habe, ob es nun um «open data», «open access» oder «open source» gehe, eine starke ideologische Färbung; je mehr «Offenheit», desto mehr Fortschritt und Wohlstand, lautet die simple Gleichung.
Die «offene» Publikation nun stellt die traditionelle Autorschaft infrage: Mehrere Leute können an ihrer Entstehung mitwirken, sie bleibt unabgeschlossen, an die Stelle der Verweise treten massenhaft aggregierte Daten und Objekte. Der Text löst sich auf, verflüssigt sich. Bei dieser Publikation geht der Leser nicht mehr davon aus, dass der Text einen von ihm zu entschlüsselnden Sinn enthält. Er identifiziert in der Publikation vermehrt auftretende einzelne, nicht unbedingt textförmige Elemente, die er weiterverwendet. Diese Arbeit kann auch von einem Programm übernommen werden, das algorithmisch Daten erfasst und sortiert. Allerdings kann ein solches Programm die Daten bloss in Relationen der Wahrscheinlichkeit zueinander setzen, nicht aber daraus Kausalitäten ableiten. Und es kann Texte nicht deuten.
Viele Anhänger der Digital Humanities untermauern ihre Vision gern und mit einigem Sinn für Provokation mit den Arbeiten der Poststrukturalisten Roland Barthes, Jacques Derrida, Michel Foucault und anderen, die den «Tod des Autors» und die Auflösung des Texts schon in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts vorweggenommen hätten. Die anarchischen Zeichendeuter und Diskursanalytiker, die Schöpfer kunstvoller und origineller Monografien als Digitalisten avant la lettre? Diese Sicht beruht auf einem groben Missverständnis. Mit ihren Angriffen auf objektivistische und orthodoxe Tendenzen der Geisteswissenschaften wollten sie gerade das Bewusstsein schärfen für die Macht und den Eigensinn der Sprache.
Was aber bedeutet die Verflüssigung des Textes für die Geisteswissenschaften? Wenn die Digital Humanities sich als eigenständige Disziplin etablieren und mehr sein wollten als eine Hilfswissenschaft – wie in der Historiografie die Heraldik oder die Numismatik –, müssten sie über die methodischen Konsequenzen des Einsatzes des Digitalen nachdenken, sagt Markus Krajewski, Medientheoretiker an der Universität Basel. Das sei bis jetzt kaum geschehen. Er plädiert dafür, die Perspektive umzukehren: nicht zu fragen, was die Geisteswissenschaften von den Digital Humanities, sondern was diese von den Geisteswissenschaften lernen müssten. Für Krajewski nämlich, auch er der Provokation nicht abgeneigt, sind die Digital Humanities nichts Neues. Sein Parforceritt: Die Digitalkalkulation auf der Basis von 0 und 1 gehe auf den 1716 verstorbenen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zurück; die massenhafte E-Mail-Kommunikation sieht er bereits im intensiven Briefverkehr der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik angelegt; Googles Anspruch hätten schon die Organisationstheoretiker Paul Otlet und Wilhelm Ostwald im Fin de siècle vertreten; Facebooks schöne neue Welt gründe auf Datenstrukturen, mit denen bereits im 18. Jahrhundert (etwa mit der Zeitleiste) das Wissen effizienter gestaltet worden sei; und im Internetserver spiegle sich einerseits die antike römische Post und andererseits der barocke Kammerdiener . . .
Und nun?
Social Media in Antike und Mittelalter? Auf jeden Fall regt die medienhistorische Perspektive dazu an, die grosse Aufregung um die Digital Humanities zu relativieren. Zunächst einmal sind die digitalen Werkzeuge wie seinerzeit der Buchdruck eine neue Technik, die den Wissenschaften die Arbeit erleichtert – aber auch neue Fragen aufwirft: Was passiert mit dem Text unter der Herrschaft des Algorithmus, was passiert beim Leser, wenn – digitale und additiv zusammengestellte – Texte nur noch flüchtig gelesen werden oder gar nicht mehr gelesen werden sollen? Der Aufstieg der Digital Humanities könnte die Geisteswissenschaften aber auch ermuntern, sich selbstbewusst auf ihre Stärken zu besinnen, auf das Lesen (nicht nur von Texten, sondern der Welt), das Nachdenken und Fragenstellen.
Was aber sicher nicht schaden würde: mehr zu wissen über das Funktionieren der Techniken, die man ganz selbstverständlich verwendet, über das Glasfaserkabel und über die Funktionsweise von Datenbanken und Repertorien. Der von Forschern benutzte «Ngram Viewer» von Google beispielsweise, mit dem sich fast fünf Millionen Bücher in verschiedenen Sprachen durchsuchen lassen, beruht auf einer undurchsichtigen Auswahl von Büchern, was die Aussagekraft der Ergebnisse erheblich beeinträchtigt. In diesem Punkt sind sich Skeptiker wie Adepten der Digital Humanities für einmal einig.
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