aus Die Presse, Wien, 25.07.2015 | 18:24 Muräne und Putzerfisch
Auf dem Markt der Fische
Die Intelligenz der schwimmenden Ahnen wurde lang unterschätzt. Nun bringt ein Forscher sie zutage – und damit die Primatologie zum Erbeben.
von Jürgen Langenbach
Sie begegnen einander selten, die beiden Jäger an Korallenriffen im Roten Meer: der Forellenbarsch und die Muräne. Der eine ist am Tag und im offenen Wasser hinter Beute her, die andere stöbert nächtens in Spalten herum. Aber bisweilen begegnen sie einander doch, und dann gehen sie nicht etwa aufeinander los, im Gegenteil, sie tun sich zusammen, der eine gibt der anderen mit dem Kopf einen Wink, die andere gesellt sich zu ihm und jagt aus den Verstecken heraus, was sie kann. Wem Beute zuerst vor das Maul schwimmt, der schnappt zu. Beide profitieren: Vor dem Barsch suchen Fische Schutz in den Korallen, vor der Muräne flüchten sie ins offene Wasser. Tauchen beide gemeinsam auf, ist alles verloren.
Als Redouan Bshary (MPI für Verhaltensphysiologie, Seewiesen) das zum ersten Mal sah, blieb ihm der Mund nur deshalb nicht offen stehen, weil er den Schnorchel darin hatte. Zwei Arten tun sich zum Jagen zusammen? Das gibt es in der Natur nicht, das gibt es nur bei Menschen, die Gehilfen domestizierten: Hunde, Falken etc., auch Delfine treiben mancherorts Fischern Beute zu. Aber Fische? Von ihnen wusste noch der Film „Finding Nemo“ 2003 zu berichten, dass die kognitiven Fähigkeiten mancher gerade dazu reichen, eine Erinnerung für drei Sekunden im Gedächtnis zu behalten. Schon 1960 jedoch wurde berichtet, dass frei lebende Fische sich sechs Monate an eine fütternde Hand erinnerten. Wenn man sie darauf konditioniert, Futter mit einem Ton zu assoziieren, dann haben Forellen das nach 14 Sitzungen verinnerlicht, Ratten brauchen 40. (Animal Cognition 18, S.1)
Ihrer Intelligenz wegen ist auch Bshary auf die Fische gekommen: Sein Doktorvater, Roland Noë, hat 1994 postuliert, dass es unter Tieren oft wie unter Menschen auf einem Markt zugeht: Sie tauschen Leistungen, etwa Futter gegen Schutz (Behavioral Ecology and Sociobiology 35, S.1). „Eine attraktive Theorie – aber es gab keine starken Daten“, urteilte Bshary und folgte einem Wink des Fischökologen Hans Fricke: Er möge sich Putzerfische ansehen. (Nature 521, S.413)
Das sind Dienstleister, die andere Fische von Parasiten auf der Haut befreien – sie beweiden sie –, und an ihnen bemerkte Bshary im Detail, dass es auf dem Markt der Tiere nicht anders als auf einem der Menschen zugeht: Wenn ein seltener Kunde vorbeikommt, wird zuerst er geputzt, die Alltagsklientel muss warten, sie hat keine Wahl. Umgekehrt bringt derjenige, der morgen nicht mehr da ist, eine größere Versuchung, ihn zu betrügen: nicht Parasiten von seiner Haut zu beißen, sondern von der Haut selbst bzw. dem Schleim auf ihr zu naschen. Solcher Betrug wieder kommt seltener vor, wenn der Klient ein Raubfisch ist. Natürlich werden auch andere ungehalten, wenn sie Bisse spüren, sie suchen das Weite, Putzerfische eilen hinterher und besänftigen, mit Fächeln. Und sie passen aufeinander auf: Oft putzen sie paarweise, dann wird weniger betrogen. (Nature 455, S.464)
Macht des Blicks.
Und alle halten unentwegt die Augen offen: Potenzielle Klienten beobachten, wie Putzer putzen, und wenn Putzer beobachtet werden, putzen sie besser (Current Biology 21, S.1140). Das erinnert stark an Wohltätigkeitsveranstaltungen, bei denen Prominente edel, hilfreich und gut werden, wenn und solange das Auge der TV-Kamera auf ihnen ruht. Auch das andere Verhalten der Putzer ist menschlich: Mit schlechter Ware zu betrügen gehört zum Markt, Kundenärger zu beschwichtigen auch.
Menschlich? Bei Fischen? Sie sind unsere Ahnen, nach ihrem Bauplan formen sich unsere Körper: Sie haben vor 470 Millionen Jahren das Rückgrat erfunden, den Schädel auch, an ihm platzierten sie links und rechts Sinnesorgane, wir haben so viel von ihnen, dass Paläontologe Neil Shubin (Chicago) überall auf den Straßen „Fische herumlaufen“ sieht („Der Fisch in uns“, S. Fischer). Er hat auch das Fossil jenes Fischs gefunden, der vor 375 Millionen Jahren als erster an Land stieg und zum Ahnherrn aller Vierfüßler wurde.
Von ihnen erhob sich endlich einer auf zwei Beine und blickte wohlgefällig zurück: Er ist die Krone der Schöpfung oder auch das Endprodukt der Evolution, allenfalls seine engeren Verwandten lässt er gelten, auch in der Wissenschaft: Sie sprach lang den Primaten – wir gehören dazu – eine ganz eigene Intelligenz zu, die sie weit über die restliche Tierwelt erhebt.
Dann kam der erste Strich durch die Rechnung, von Vögeln: Viele, vor allem aus der Familie der Raben, handeln mit höchster Intelligenz, und das, obwohl sie den Teil des Gehirns, der uns zu vergleichbaren Leistungen befähigt, überhaupt nicht haben, den Neokortex. Das hat Ludwig Edinger, der Vater der vergleichenden Neuroanatomie, im 19.Jahrhundert bemerkt; es verfestigte sich zum Vorurteil vom Spatzenhirn. Das hielt lang, erst in den 1960er-Jahren fand man ein Pendant zum Neokortex im Vogelgehirn, und heute schüttelt keiner mehr den Kopf, wenn Krähenforscher John Marzluff (Seattle) schwärmt: „Rabenvögel sind fliegende Affen.“
Und Fische sind schwimmende: Bshary beobachtet nicht nur, sondern experimentiert auch: Er hat etwa die Fähigkeiten von Putzerfischen, Kapuzineraffen und Schimpansen verglichen, zudem war seine vierjährige Tochter in den Test einbezogen: Für alle gab es zwei Näpfe mit Leckereien, einen permanent und einen nur temporär zugänglichen, sie hatten verschiedene Farben. Die Putzerfische begriffen als Erste, dass man klugerweise zunächst zu dem greift, was nicht lang da ist. Die anderen Tiere zogen nach, für die Vierjährige war es jedoch zu schwierig.
Nun wurden die Farben ausgetauscht: Die Fische waren abermals besser (PLoS ONE e49068). Dieses Reversal Learning ist eine hohe Leistung, bisher sprach man es nur Primaten zu. Nun lösten die Putzerfische ein mittleres Beben aus, aber Frans de Waal, ein führender Primatologe, begrüßt es durchaus. Er sieht durch Bshary den „Primatenchauvinismus“ erschüttert. Ihre Intelligenz allein würde Barsch und Muräne nicht zum gemeinsamen Jagen ermuntern – ihnen hilft, dass Fische Beute in einem Stück schlucken. Würden etwa Hyänen und Leoparden eine ähnliche Kooperation versuchen, käme es anschließend zum Kampf ums Fleisch.