aus nzz.ch, 15.4.2015, 05:30 Uhr
Isaak Babels gesamtes Erzählwerk
Weltliteratur aus Odessa
von Franz Haas
Vor allem auf zwei Büchern beruhte der Ruhm des 1894 in Odessa geborenen Isaak Babel. Aber die nun bei Hanser erschienene Edition seines Gesamtwerks zeigt erst, welch ein ungehobener Schatz da noch auf Leser wartete. Erlebtes und Erfundenes, Gewalt und Lebensfreude sind in Babels Texten unlösbar verflochten.
Ein Wunderwerk der russischen Erzählkunst ist jetzt in einer neuen und kompletten Ausgabe zu bestaunen: die gesamte Prosa von Isaak Babel (1894–1940), dem Juden aus Odessa, der im Bürgerkrieg auf der Seite der Roten war und trotzdem in Stalins Folterkellern verschwand. Er brachte es früh zu Weltruhm mit seinen «Geschichten aus Odessa» und dem schreckgetränkten Erzählzyklus «Die Reiterarmee», die auch bald ins Deutsche übersetzt wurden – und ein sehr junger Elias Canetti bewunderte 1928 in Berlin den liebenswürdigen Autor und seine Prosa, «deren blutigem Glanz jeder erlag, ohne sich am Blute zu berauschen». Doch die zwei berühmten Werke zeigen nur einen Teil von Babels Können, das erst in dieser Neuausgabe und in hervorragenden Übersetzungen ganz sichtbar wird. Hinzu kommen grandiose Texte aus den frühesten Jahren sowie die «Erzählungen vom Ruhm bis zum Verstummen».
Virtuose des Feilens
Isaak Babel war ein besessener Stilist, ein Virtuose des sprachlichen Feilens, was in der Sowjetkultur als Ästhetizismus und Formalismus verunglimpft wurde. Der mächtige Maxim Gorki förderte und schützte ihn lange Zeit, aber nach dessen Tod wurde das Schreiben für Babel immer gefährlicher. Manche Texte wurden verstümmelt, andere behielt er für sich. Seines Wertes ist er sich aber schon ganz früh bewusst: Mit 22 schreibt er ein Feuilleton mit dem Titel «Odessa» über seine Geburtsstadt, «eine Art Marseille oder Neapel» am Schwarzen Meer. Darin urteilt er sehr forsch über die russische Literatur («an Gorkis Liebe zur Sonne ist etwas Verkopftes») und prophezeit, wohl in stolzer Hoffnung auf sich selbst, dass «der literarische Messias» aus der Gegend von Odessa kommen werde, «aus den sonnigen, meerumspülten Steppen».
In der Erzählung «Die Geschichte meines Taubenschlags» verdichten sich einige der wichtigsten Zutaten von Babels Prosa: halbautobiografisches Geflunker, südrussische Folklore mit schroffen Bildern, jüdischer Überlebenskampf und eine schockierende Kombination von Schrecken und Idylle. Es ist die Geschichte eines Zehnjährigen, der als Jude eine schikanös strenge Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestehen muss. Als Belohnung bekommt er von seinen Eltern ein lange ersehntes Taubenpärchen, doch gerade an jenem Tag beginnt das fürchterliche Pogrom von 1905, und Nachbarn verwandeln sich in blutrünstige Hetzer. Ein beinloser Strassenverkäufer nimmt dem Buben eine Taube weg, schlägt ihm damit gegen den Kopf, «und die Innereien des zerquetschten Vogels liefen mir die Schläfe hinab». Schockeffekte dieser Art setzt Babel fein dosiert ein, auch in den «Erzählungen aus Odessa», die von jüdischen Hafenganoven und ihren blutigen Heldentaten berichten.
Mit viel List mischen die Ich-Erzähler auch immer wieder eine feine Dosis poetologischen Selbstkommentars bei. «Man darf eine Erzählung nicht in Seitenstrassen führen. Man darf es nicht einmal dann, wenn in den Seitenstrassen Akazien blühen und Kastanien reifen.» Die Geschichte «Mein erstes Honorar» ist nebenbei auch eine raffinierte Metapher für das Bestreiten des Lebensunterhalts durch Erzählen: Ein armer junger Korrektor einer Druckerei geht zu einer Prostituierten, schwatzt sie voll mit seinen angeblich schlimmen Lebenserfahrungen; er prostituiere sich schon seit zartem Alter bei homosexuellen Männern. So erregt er Mitleid und Staunen, bekommt nun den Sex gratis und zudem «eine Liebe, die ihr nie erleben werdet, hörte Worte, gesprochen von Frau zu Frau». Explizit erotische Stellen bei Babel wurden schon in der Sowjetunion und noch in DDR-Ausgaben «bereinigt», wie der äusserst kundige Kommentar informiert; nun wurden sie nach Möglichkeit wieder restauriert.
Neben dem ständigen Wechsel zwischen Schreckensbildern und purer Poesie fasziniert auch Babels politisches Schlingern – oder dessen Inszenierung. In der Erzählung «Der Weg» ist einiges autobiografisch und vieles erfunden. Der Erzähler schlägt sich von der Ukraine nach Petersburg durch, erlebt schlimmste Gewalt gegen Juden, schleppt sich barfuss durch den Schnee, kommt in einem Schtetl ins Spital, doch da «gab es keinen Arzt, der mir die erfrorenen Füsse hätte amputieren können». In Petersburg angekommen, dient er sich den neuen Machthabern an, als Übersetzer bei der Tscheka, und «so begann vor dreizehn Jahren mein grossartiges Leben, voller Gedanken und Fröhlichkeit». Das schrieb Babel 1930 offenbar mit einigem Galgenhumor, denn um seine eigene Fröhlichkeit stand es nicht mehr bestens.
Moralische Integrität und politisches Lavieren sowie Schönheit und Grausamkeit wechseln sich auch ständig ab in «Die Reiterarmee», einem schillernden Kranz aus 34 Erzählungen. Der Ich-Erzähler namens Ljutov hat wiederum sehr viel Ähnlichkeit mit Babel, er ist ein intellektueller Jude unter Kosaken, die für die Revolution kämpfen, gegen die Weissen und die Polen. Sein gelehrtes Aussehen wird zum Gespött, aber er wird auch gewarnt: «hier sticht man euch ab wegen der Brille». Auf dem polnischen Kriegsgebiet fasziniert ihn mit Schauder der Katholizismus, «der wohlriechende Ingrimm des Vatikans». Unter den wilden Reitern wird er geduldet, fast sogar akzeptiert. Er studiert die Krieger manchmal wie ein Anthropologe, beobachtet eine Gruppe von Kosaken, die eine junge Polin vergewaltigen; deren Körper ist dabei «blühend und stinkend, wie das Fleisch einer frisch geschlachteten Kuh». Bei allem Horror ist diese Welt für ihn aber doch «wie eine Wiese im Mai, wie eine Wiese, über die Frauen und Pferde gehen».
Die Wüste des Krieges
Dieser Brillenträger aus Odessa identifiziert sich zusehends mit den Rohlingen, auch eignet er sich sporadisch ihren Jargon an – «Sterben wir für eine saure Gurke und die Weltrevolution». Doch meist bewahrt er bei aller Verwilderung seine sprachliche Sensibilität, sei es bei Beobachtungen aus der Distanz, sei es bei eigenen intimen Empfindungen: «Die Wüste des Krieges gähnte vor dem Fenster»; die Soldaten werden einquartiert bei einer Frau, «die durch und durch nach Witwenschmerz roch»; und draussen liegt die Welt der «unbesiegbaren galizischen Trostlosigkeit». Aber beim Tanz mit einer anderen Frau «erschüttert» ihn doch die «peinigende Wärme», die von ihrer Brust ausgeht. – Babels Kunst liegt besonders in diesen kühnen Wortkombinationen, die oft knapp am Oxymoron vorbeischrammen, die er zuhauf und im Galopp über die Seiten verstreut.
In den Erzählungen der «Reiterarmee», die ab 1923 erschienen waren, kann Babel sich noch lustig machen über die amtliche Sprache der Partei: «O Statut der RKP! Durch den Sauerteig der russischen Prosa hast du ungestüme Geleise geschlagen.» In den späteren Texten muss er die Ironie immer vorsichtiger verpacken oder sie in die Schublade sperren, wie jene Erzählung von 1930, die erst 1963 in New York erscheinen konnte. Da geht es um die Kollektivierung, die Enteignung und das Aushungern der Kulaken, es blitzen Wörter wie «Requisition» und «Zwangsarbeit» auf, Vokabeln, die in der Sowjetunion offiziell nicht gern gesehen sind.
Doch die Angst, die Vorsicht und das allmähliche Verstummen nützen nichts. Im Mai 1939 wird Isaak Babel abgeholt und nach Folter und «Geständnis» im Januar 1940 erschossen. «Trotzkismus» wird ihm vorgeworfen; die angebliche jüdische Weltverschwörung wird ihm zum Verhängnis, nicht sein Beitrag zur Weltliteratur.
Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. Verlag Carl Hanser, München 2014. 864 S., Fr. 59.90.
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