aus Die Presse, Wien, 5. 4. 2015
Die Welt ertasten
Unser ältester und feinster Sinn, jener für Berührung, läuft über Mechanismen, die erst allmählich aufgedeckt werden. Zentral ist ein Ionenkanal.
von Jürgen Langenbach
Sitzen Sie gerade auf einem buckligen Brett oder auf flaumigen Federn? Keine Sorge, es geht nicht um das Erschnüffeln Ihres Privaten, sondern um das Ertasten der Welt. Es geht darum: Wer härter sitzt, verhandelt auch härter, beim Kauf eines Automobils etwa. Und wer etwas Hartes in der Hand hält, tut das auch, Psychologe Joshua Ackerman (MIT) hat es gezeigt (Science 328, S.1712). So weit reicht die Macht des Sinnes, der uns als erster beim Erkunden der Umgebung hilft und mit dem das größte unserer Organe ausgestattet ist: Wenn wir erwachsen und 1,70 Meter groß sind, umschließen uns etwa 1,7 Quadratmeter Haut, gespickt mit Sensoren. Aber auch als wir erst 1,6 Zentimeter groß und ein Gramm schwer waren – in der achten Woche im Uterus –, wandten wir das Gesicht ab, wenn es eine unangenehme Berührung spürte.
So früh entwickelt sich kein anderer Sinn. Mit 14 Wochen ist die Haut am ganzen Körper berührungs-, nach 26 Wochen auch schmerzempfindlich: Der Tastsinn ist weitverzweigt und hochdifferenziert, Prurirezeptoren melden juckende Reize, Nozizeptoren schmerzhafte, Thermorezeptoren achten auf heiß und kalt, „low threshold mechanoreceptors“ auf leichte Berührungen – sowohl auf jene, die wir passiv spüren (taktil), als auch jene, mit denen wir aktiv tasten (haptisch). Dabei spielen Nervenenden mit, die in Zellen eingebettet sind, in Meissner-Korpuskeln etwa. Bei uns und anderen Säugetieren sind auch Merkelzellen zentral.
Diese haben nichts mit politischem Fingerspitzengefühl zu tun, sondern sind nach dem Göttinger Anatomen Friedrich Merkel benannt. Er entdeckte sie 1875 in der äußersten Schicht der Haut, der Epidermis, und nannte sie Tastzellen – kurz darauf erhielten sie seinen Namen. Aber was genau ertasten sie, und wie tun sie es? Sie fühlen alles, was Feingefühl braucht – ein Gestreicheltwerden ebenso wie einen Lichtschalter im Dunkeln. Ellen Lumpkin (Columbia University) zeigte es 2009 an Mäusen, deren Merkelzellen sie gentechnisch ausgeschaltet hatte. Wie fühlen sie so fein? Ardem Patapoutian (Scripps) ist den molekularen Details nachgegangen: Zentral für die Wahrnehmung und Übertragung ist ein Ionenkanal, Piezo2 (Nature 516, S.121).
Auch dieser Versuch lief an Mäusen, aber der Ionenkanal ist nicht nur in ihren Zellen aktiv, sondern auch in jenen von Tieren, die selten in Labors quaken: Enten. Mit ihnen experimentiert Elena Grachova (Yale), um Sensoren zu isolieren, die wirklich nur mit Ertasten zu tun haben und zudem nicht mit anderen Sinnen verbunden sind. Beides ist schwer zu trennen: Man sieht oft auch, wonach man tastet, und in unseren Fingerspitzen sind neben Mechanorezeptoren eben viele andere Sensoren, jene für Temperatur etwa. Enten sehen nichts, wenn sie im Schlamm grundeln, auch dessen Wärme oder Kälte interessiert sie nicht. Sie sind bei jeder Temperatur nur hinter einem her: Futter. Deshalb ist der Entenschnabel dicht gepackt mit Mechanosensoren – Pendants zu Merkelzellen, sie heißen Grandry-Korpuskeln –, auch sie laufen über Piezo2. Nicht eine dieser Zellen findet man bei Vögeln, die mit dem Auge jagen, Hühnern etwa. Auch keine haben Wasservögel, die nicht haptisch jagen, wie Blässhühner (Pnas, 111, S.14941).
Berührendes Sozialleben.
Beim Jagen wird der Tastsinn eher selten eingesetzt– manche Schlangen sowie Sternmulle und Maulwürfe mit extrem ausgebildeten Nasen nutzen ihn. Für das Sozialleben ist er zentral: An mangelnder Berührung kann man stärker leiden als an mangelndem Futter, das zeigte Harry Harlow in den 1950er-Jahren an jungen Rhesus-Äffchen. Er trennte sie von ihren Müttern und bot ihnen als Ersatz Rohre aus Drahtgeflecht mit Babyflaschen. Sie gab es in zwei Varianten, die einen waren nackter Draht, die anderen mit Frottee überzogen, beide waren im Käfig. Aber einmal hatte die Frotteemutter Futter, jene aus Blech nicht, das andere Mal war es umgekehrt – die Kleinen hatten die Wahl. Sie fiel immer auf Frottee, auch wenn es dort nichts gab, die Zwangswaisen brauchten beruhigende Berührung, selbst die eines simplen Surrogats (Science 130, S.421).
Solche Versuche gingen heute nicht mehr durch – auf Fotos in der Publikation sieht man den Äffchen die Verzweiflung an –, dafür laufen ganz andere, freiwillige: Harlow wurde nicht nur für das Design des Experiments kritisiert, sondern auch dafür, dass er den Befund eins zu eins auf Menschen umlegte. Bei diesem spielt aber die Kultur stark mit hinein: Als Sidney Jourard Paare in Kaffeehäusern in San Juan, Puerto Rico und in London beobachtete, berührten einander jene in San Juan innerhalb einer Stunde im Durchschnitt 180 Mal. Jene in London taten es überhaupt nicht. Dabei bewirken Berührungen viel, selbst zwischen Wildfremden: Wenn Bedienungen beim Servieren ihre Gäste streifen, fällt das Trinkgeld höher aus. Als Bibliothekare experimenthalber beim Überreichen der Leihkarte die Hand der Klienten berührten – so leicht, dass die es gar nicht realisierten –, bewerteten die Klienten die Bibliotheken höher.
Aber wer geht noch Essen, gar in die Bibliothek? Ein SMS an den Pizzaboten genügt, und im Netz braucht man auch nur noch einen Finger – plus Maus. Das formt ganz neue Menschen, jene der „Touch Generation“. Diese erinnert den Neuropsychologen Jude Nicholas (Bergen) an Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle: Gott haucht Adam mit der Fingerspitze Leben ein! (Faghæfte Nr. 12). Die Assoziation kommt daher, dass Nicholas Hörsehbehinderte betreut. Ihre Welt wird mit allem Ertastbaren weiter: Vielleicht gibt es bald Handys mit der Gebärdensprache Hörsehbehinderter, sie läuft über Fingerberührungen. Für andere ist eher das Gegenteil von Erfahrungserweiterung zu fürchten. Alberto Galland (Mailand) formuliert es so (Bioscience and Biobehavioral Reviews 34, S.246): „Unglücklicherweise fehlen den Interaktionen auf große Distanz (wie am Telefon oder im Internet) die taktilen Komponenten der Kommunikation völlig. Kein Mausklick kann den Fleisch-zu-Fleisch-Kontakt ersetzen.“
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
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