Die Logik erhellte das Mittelalter
Gelehrte aller Religionen philosophierten auch im scheinbar finsteren, unwissenschaftlichen Mittelalter auf hohem Niveau, vor allem über Aristoteles' Logik.
von Ronald Posch
Aristoteles starb vor mehr als 2300 Jahren. Seine Philosophie jedoch nie: „Es ist irgendwie faszinierend, dass man heute noch von sich sagen kann, man sei Aristoteliker“, erklärt der Philosoph Christophe Erismann, der bereits in Lausanne, Genf, Paris und Helsinki forschte und mit seinem neuen Projekt an der Uni Wien tätig sein wird. Er erhält eine mit rund zwei Millionen Euro dotierte Förderung vom Europäischen Forschungsrat, kurz ERC. Erismann will im Projekt zeigen, dass sich im neunten Jahrhundert nach Christus Philosophen im gesamten Mittelmeerraum – unabhängig von ihrer Religion – mit der antiken Geisteswelt beschäftigten. Vor allem die Logik des Aristoteles beeinflusste ihr Denken.
„Der Glaube der Gelehrten hat ihre Fähigkeit zu philosophieren nicht geschwächt oder gar verlöschen lassen, sondern im Gegenteil oft stimuliert“, sagt Erismann. Gerade die Logik sei seit der Spätantike häufig in religiösen Kontroversen angewendet worden, etwa um die Richtigkeit der einen oder anderen Position nachzuweisen. Im Mittelalter gab es keine Alternative zur aristotelischen Logik, weshalb sich die griechisch-bzyantinische, lateinische, syrische und arabische Geisteswelt mit ihr beschäftigte.
Erisman will das unter anderem am Beispiel von drei Gelehrten des neunten Jahrhunderts nachweisen. Johannes Scottus Eriugena war ein christlicher Theologe. Der in Irland geborene Gelehrte forschte in Laon und Reims im heutigen Frankreich zur Zeit Kaiser Karls des Kahlen (843 bis 877 n. Chr.). Patriarch Photius von Konstantinopel knüpfte in seinen Schriften zur gleichen Zeit an die antiken Gelehrten an. Abū Yūsuf Ya‘qūb ibn Isāq al-Kindī beschäftigte sich als erster Araber mit den antiken griechischen Ideen. Er gilt als Begründer der arabischen Philosophie. Erismann will herausfinden, wie die Logik die Traditionen dieser Gelehrten verbindet, wie sie sich unterscheidet und ob sie zum Austausch zwischen ihnen anregte.
Was Erismann jetzt schon weiß, ist, dass die Geistesgeschichte des neunten Jahrhunderts die damaligen politischen Mächte unter einem anderen Blickwinkel erscheinen lässt. Das Jahrhundert biete ein positives Beispiel für Wissenschaftsförderung: „Wenn das neunte Jahrhundert ein Zeitalter des intellektuellen Wetteiferns war, so war es das auch dank der damaligen Mächte, die dies unterstützten. Anhand des historischen Beispiels lässt sich gut über die Bedeutung der Förderung der Wissenschaften nachdenken.“ Die Geisteswissenschaften spielten eine große Rolle, obwohl die Zeit politisch instabil war.
Intellektuelle Welt erblühte im Krieg
Damals teilte sich das Reich Karls des Großen auf. Die Söhne des großen Königs stritten sich darum. Es zerfiel nach schweren Konflikten in drei Teile, wobei Karl der Kahle die westlichen Reichsteile – das schon im Kleinen die Umrisse des heutigen Frankreichs zeigte – beherrschte. Das Byzantinische Reich erlitt schwere militärische Niederlagen gegen die Bulgaren, aber vor allem gegen die Araber. Es verlor etwa die Inseln Kreta und Sizilien an muslimische Truppen.
In der muslimischen Welt beherrschten die Kalifen der Abbasiden-Dynastie ein Gebiet, das von Nordafrika bis Zentralasien reichte. Sie führten ständig Krieg. Zudem plünderten und handelten die Wikinger entlang von Küsten und Flüssen in ganz Europa. Doch in dieser politisch instabilen, finsteren Zeit erhellte die Logik die Welt rund um das Mittelmeer.
„Im neunten Jahrhundert blüht die intellektuelle Welt auf. Es fand eine Erneuerung der Wissenschaften statt“, erklärt Erismann. Sowohl das Reich von Karl dem Kahlen als auch Byzanz und das abbasidische Kalifat „durchlebten eine bemerkenswerte Phase intellektuellen Schaffens und eine intensive Übersetzungs- und Kopiertätigkeit antiker Texte“. Wir verdanken es den Kopien dieser Zeit, dass wir die antiken Schriften heute noch lesen können. Sie wären sonst verloren gegangen.
Im Mittelmeerraum gibt es trotz unterschiedlicher Religionen eine gemeinsame Denktradition. Oft wird das heute, scheinbar absichtlich, verdrängt: „Ohne die Vergangenheit idealisieren zu wollen, kann man sich vorstellen, dass die gebildeten Eliten der verschiedenen Kulturen die gleichen Texte lasen und sich somit gewissermaßen besser verstanden“, sagt Erismann. Heute fände sich kein einziges vergleichbares Buch, das von allen Europäern und Völkern des Mittelmeerraumes gelesen werde.
Die Logik erklärt die Gesetze des Denkens. Der vollständige altgriechische Begriff lautet übersetzt „Kunst des Denkens“. Es gilt, die folgerichtigen Schlüsse aus Argumenten zu ziehen. Im Mittelalter war die Logik nicht nur eine Sprachwissenschaft, sondern auch eine umfassende Erforschung der Dinge in ihren Beziehungen zueinander. Die Logik ermöglicht es, sich die Frage zu stellen, ob alles für sich existieren kann oder nicht. Wenn Aristoteles sagt: „Der Apfel ist rot“, dann bedeutet das in seiner Logik, dass der Apfel selbstständig existiert und die Röte seine Qualität beschreibt.
Nota. - Das finstere Mittelalter ist eine Erfindung der europäischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, die ihren Hauptgegner in der römischen Kirche sah. Da war das Bild der Kirche als Bewahrer und Pflege der antiken Bildung nicht populär. Das zu korrigieren ist schon recht. Aber man muss es nicht gleich übertreiben. Denn wenn in der Logik Aristoteles die unbestrittene Autorität war, herrschte im Reich der Weltanschauung zumindest in der christlichen Welt ebenso unangefochten die platonische Ideenlehre, oder vielmehr ihre neuplatonische Radikalisierung. Erst mit dem Universalienstreit des 13. Jahrhunderts erfuhr Aristoteles - übrigens vor allem unterm Einfluss seines arabischen Kommentators Averroes (der in den islamischen Ländern wenig Beachtung fand, weil dort die antike Bildung schon wieder in Verruf war) - einen Sieg über Plato. Aber er bescherte der Scholastik auf die Dauer ihre heute sprichwörtliche sterile Spitzfindigkeit. Um der Bildung im Abendland einen neuen Schub zu geben und um eigentlich die Wissenschaft in die Welt zu setzen, war es dann wieder notwendig, dass Galileo ausdrücklich auf... Plato zurückgriff, und gerade auf die Ideenlehre...
JE
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