Sonntag, 25. Mai 2014

"Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist."

aus glassy
institution logoNeues Modell zur Objektwahrnehmung: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist.

Dr. Julia Weiler 
Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum 

16.05.2014 10:31 

Sehen wir die Welt, wie sie wirklich ist, oder wie wir sie haben wollen? 

Mit dieser Frage haben sich Philosophen und Neurowissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und der Universität Genf beschäftigt. In der Zeitschrift „Consciousness and Cognition“ beschreiben sie ein neues Modell für die Wahrnehmung von Objekten.

Wie die Wahrnehmung mit Begriffen und Hintergrundwissen zusammenhängt

Bislang gab es zwei Theorien, wie die Wahrnehmung von Objekten mit unseren Begriffen, Vorstellungen, Wünschen und dem Hintergrundwissen zusammenhängt, das wir über die Objekte besitzen. Die eine Theorie besagt, dass die Wahrnehmung eines Objekts durch unsere Begriffe geprägt ist und erst durch diese Begriffe möglich wird. Laut dem zweiten Modell ist ein Wahrnehmungsbild auch ohne Begriffe verfügbar; wir erfassen die Welt, so wie sie ist. Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II der RUB und seine Schweizer Kollegin Petra Vetter schlagen ein neues Modell vor: Wahrnehmungen basieren auf Konstruktionsprinzipien, die evolutionär verankert und somit für alle Menschen gleich sind. Sie werden jedoch gleichzeitig durch Vorstellungen, Erinnerungsbilder, Begriffe und Hintergrundwissen geprägt.

Wenn ein bedeutungsloses Fleckenmuster zur Kuh wird

Dass unsere Wahrnehmung von unserem Wissen und unseren Denkprozessen beeinflusst wird, legen Newen und Vetter mit einem einfachen Experiment dar. Zeigt man verschiedenen Personen ein Bild von einem schwarz-weißen Fleckenmuster, können diese darin normalerweise keine Struktur erkennen. Gibt man ihnen jedoch die Information, dass auf dem Bild eine Kuh dargestellt ist, sehen die Betrachter in demselben Muster eine Kuh – und können auch nicht wieder in den Zustand zurückkehren, indem sie ein bedeutungsloses Fleckenmuster gesehen haben.

Hintergrundwissen moduliert Aktivität in primären visuellen Arealen

Petra Vetter zeigte in Experimenten, dass Hintergrundwissen die primären visuellen Areale moduliert, also die Eingangsstation für Informationen des Sehsinns in der Großhirnrinde. Albert Newen schlägt vor, dass es mehrere Arten gibt, wie das Hintergrundwissen und unsere Begriffe die Wahrnehmung beeinflussen. Dazu unterscheidet er vier Ebenen: die Ebene der primären visuellen Prozesse; die Ebene, auf der ein Wahrnehmungsbild entsteht; die Ebene der visuellen Vorstellung; die Ebene der Begriffe, des Wissens und der Überzeugungen. Laut Newen können alle drei höheren Ebenen die Ebene der primären visuellen Prozesse beeinflussen. Dies wird unter anderem durch systematische Fälle von Wahrnehmungsstörungen untermauert.

Titelaufnahme

P. Vetter, A. Newen (2014): Varieties of cognitive penetration in visual perception, Consciousness and Cognition, DOI: 10.1016/j.concog.2014.04.007

Weitere Informationen

Prof. Dr. Albert Newen, Institut für Philosophie II, Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität, 44780 Bochum, Tel. 0234/32-22139, E-Mail: albert.newen@rub.de 


Nota.

Das ist für die Transzendentalphilosophie immer ein bisschen peinlich, wenn sie 'empirisch bewiesen' wird; denn wozu würde sie gebraucht, wenn die Erfahrung ausreicht? 

Freilich redet die Transzendentalphilosophie gar nicht von der Fehlbarkeit unserer Sinneswahrnehmungen. Sie redet davon, dass die Vorstellung von einem Wie-sie-ist wissenslogisch ohne Sinn ist. Dass wir trotzdem Etwas wahrnehmen und nicht Tohuwabohu, liegt an der Vorarbeit - Intention, Erwartung, Vorstellung - des Subjekts.
JE

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