Samstag, 3. Mai 2014

Gesundheit als nicht bloß medizinisches Thema.

aus nzz.ch, 3. Mai 2014, 12:30


Kleine Schriften zur Medizin von Georges Canguilhem
Der Alltagsbegriff der Gesundheit
Der Arzt, Wissenschaftshistoriker und Philosoph Georges Canguilhem (1904–1995) war im französischen Geistesleben einflussreich. Nun liegt eine Auswahl seiner medizinischen Schriften auf Deutsch vor.

von Mario Schärli

Gesundheit wird als Wert allenthalben akzeptiert. Anscheinend kann man nicht falsch liegen, wenn man gute Gesundheit zum neuen Jahr oder zum Geburtstag wünscht, genauso wie man sich selbst im Streben nach Gesundheit kaum je vertun wird. Dem entspricht, dass die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 das «Recht auf einen Lebensstandard» postuliert, der «Gesundheit und Wohl» ermögliche. Es darf angesichts der Zentralität des Gesundseins für das menschliche Leben vermutet werden, dass es nicht nur in den Gegenstandsbereich der Medizin fällt, sondern auch eine tragende Rolle im philosophischen Nachdenken über die menschliche Existenz spielt – oder doch spielen müsste. Beide Fachgebiete miteinander verbunden zu haben, zeichnet den Arzt, Wissenschaftshistoriker und Philosophen Georges Canguilhem (1904–1995) aus, der in der jüngeren französischen Geistesgeschichte als wichtiger Inspirator gelten darf. Eine Sammlung von fünf Aufsätzen und Vorträgen zum Themenkomplex Gesundheit, Krankheit, Medizin liegt nun, begleitet von einem aufschlussreichen Nachwort des Zürcher Wissenschaftshistorikers Michael Hagner, in deutscher Übersetzung vor.

Selbsterhaltung, Selbstgestaltung

Fundamental ist für Canguilhems Zugang zum Thema, dass Gesundheit «kein wissenschaftlicher Begriff, sondern ein Alltagsbegriff» sei. Dieser Grundsatz dient allerdings nicht, wie vielleicht zu vermuten naheläge, als Sprungbrett ins Sammelbecken kruder Kritiken an der modernen Medizin. Die Rückkehr zu einer Heilkunde nach hippokratischem Vorbild, die sich lediglich auf die Selbstheilungskräfte der Natur verlässt, liegt Canguilhem fern. Als Arzt anerkennt er auch diejenigen Methoden seines Fachs, die ermöglichen, was die Natur selbst nicht vermag.

Dennoch könne man im Falle der Gesundheit vom konkreten Lebenszusammenhang nicht abstrahieren, wie es in den naturalistischen Modellen der modernen Medizin geschehe. In diesen werde Gesundheit letztlich auf die maschinengleiche Funktionstüchtigkeit des Körpers reduziert. Selbst wenn diese Tüchtigkeit unbestritten zum Gesundsein gehöre, mache sie nur dessen eine Seite aus, betont Canguilhem. Dem wissenschaftlichen Zugriff dagegen entzogen, weil auf Normen und nicht auf messbaren Fakten beruhend, sei die andere Seite der Gesundheit: die Fähigkeit zum alltäglichen Lebensvollzug. Sie besteht nach Canguilhem wesentlich darin, sich Zwecke zu setzen, sie zu verwirklichen und dabei die Umwelt nach deren Massgabe zu verändern. Als gesunder hat der Organismus also die Fähigkeit zur Selbsterhaltung und zur Selbstgestaltung des Lebens in einem.

Alle Bemühungen um Gesundheit erweisen sich jedoch, soweit sie die Natur auch «verbessern» mögen, angesichts des Todes als vergeblich. Canguilhem gemäss ist es, neben dem Streben nach Erhaltung und Gestaltung des Lebens, gleichermassen eine Eigenschaft aller organischen Strukturen, dass ihre Existenz stets prekär sei. Nicht ohne Drastik formuliert er: «Nichts Lebendiges ist wirklich vollkommen», und «der Tod steckt im Leben, die Krankheit ist sein Zeichen». Krankheiten müssten als Teile des Lebens begriffen werden, die immer schon in es eingeschrieben seien; sie «sind ein Tribut, der von Menschen zu entrichten ist, die ungefragt geboren wurden und zwangsläufig, von ihrem ersten Tag an, einem unvorhersehbaren, aber unausweichlichen Ende zustreben». Die Krankheit sei für den Menschen ein Fingerzeig in Richtung seiner eigenen Sterblichkeit und insofern genauso zu bekämpfen wie zu akzeptieren.

Vita activa

Lesenswert macht Canguilhems Schriften über die Medizin die Verbindung von Fragestellungen der Existenzphilosophie mit Reflexionen über die wissenschaftliche Medizin und die klinische Praxis; so konturiert sich die Medizin als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, Theorie und Praxis. Mit Blick auf Bestrebungen zur Verlängerung eines durchschnittlichen menschlichen Lebens auf über hundert Jahre im Rahmen von «Human Enhancement» würde Georges Canguilhem vielleicht diagnostizieren: Die Fokussierung medizinischer Forschung auf die Dauer des Lebens ist einseitig und beruht am Ende auf einem abstrakten, mechanistischen Verständnis des Menschen. Nicht einfach nach einem längeren Leben, sondern nach einem möglichst lange «tätigen» Leben wäre zu streben – was für die Medizin etwa bedeutete, dass sie nicht nur der Bekämpfung von Krankheiten, sondern auch dem Leben mit ihnen einige Aufmerksamkeit zu schenken hätte.

Georges Canguilhem: Schriften zur Medizin. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien und mit einem Nachwort von Michael Hagner. Diaphanes, Zürich 2013. 160 S., Fr. 24.40.

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