Freitag, 9. Mai 2014

Physik-Fabeln?

Laut Stringtheorie besitzt der Raum mehr als drei Dimensionen. An jedem Punkt der Raumzeit hängt eine Mannigfaltigkeit mit zusätzlichen Dimensionen, die jedoch «aufgerollt» und damit nicht wahrnehmbar sind.
 aus nzz.ch, 8. Mai 2014, 05:30


Märchen-Physik
Verabschiedet sich die Grundlagenphysik von der Realität? Die moderne Physik stösst manche Zeitgenossen vor den Kopf. Sie habe den Kontakt zur Empirie verloren, lautet ein gängiger Vorwurf. Wer so argumentiert, verkennt, dass Grundlagenphysik auch bedeutet, Undenkbares denkbar zu machen.

von Eduard Kaeser

Es mutet paradox an: Eben erst hören wir triumphale Töne anlässlich der Entdeckung des Higgs-Bosons, und gleichzeitig mischen sich dissonante Rufe eines regelrechten Physik-Bashings ein, des Vorwurfs, die Grundlagenphysik treibe sich nur noch in windigen Höhen der Spekulation herum. Wie die Finanzwelt erlebt heute die Physikwelt ihre «Blase». Buchtitel künden von der Krise, dem Ende, dem Bankrott der Physik. Kürzlich hat der englische Wissenschaftsautor Jim Baggott in seinem Buch «Farewell to Reality» die neuesten Entwicklungen der Stringtheorie und der Quantenkosmologie kritisch unter die Lupe genommen. Die Physik sei zu weit gegangen. Märchen-Physik – «fairy tale physics» – nennt er sie, die «Verrat an der Wahrheit» verübe und an der Grenze zur Vertrauenserschwindelei liege. Die Physik stellt heute Fragen, die zu beantworten den Horizont der Empirie übersteigt. Deshalb, so Baggott, ist sie – zumindest auf gewissen Gebieten – in das Stadium einer postempirischen Wissenschaft ohne Bodenhaftung übergetreten – man könnte auch sagen: ins Stadium der Metaphysik.

Neuralgische Punkte

Das Stichwort «Abschied von der Realität» bietet Anlass, den Blick auf drei neuralgische Stellen der zeitgenössischen Physik zu werfen: auf eine wissenschaftspolitische, eine disziplinäre und eine erkenntnistheoretische. Die erste Neuralgie ist offensichtlich. Die theoretische Physik tut sich zunehmend schwer, die Relevanz ihrer Ergebnisse einer kritischen Öffentlichkeit zu erläutern. Die Prognosen der Teilchenphysik erreichen an ihrer vordersten Front immer höhere Energieniveaus, auf denen die Experimente proportional teurer werden. Man denke nur an das Milliardenunternehmen des Large Hadron Colliders LHC.

Anstössig daran kann dem wissenschaftlichen Normalkonsumenten und Steuerzahler vorkommen, dass der enorme Aufwand den Ertrag nicht rechtfertigt, trotz des massierten Pop-Science-artigen Aufschminkens der neuen Resultate zu Revolutionen und Versprechen, dass das «Beste noch komme» – manch ein Physiker schreckt ja nicht vor religiöser Salbaderei zurück.

Kurzum, die theoretische Physik hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Auf dem Spiel steht das Vertrauen in ein Erkenntnisunternehmen, das über Jahrhunderte hinweg den Wissenschaften als Ideal einer exakten «experimentellen Philosophie» diente. Ironischerweise scheint sich nun diese Vorbilddisziplin in ein neues spekulatives Netz zu verstricken. Bezeichnend, was der amerikanische Nobelpreisträger Sheldon Glashow schon 1986 in der Zeitschrift «Physics Today» schrieb: «Zum ersten Mal seit dem Mittelalter sehen wir, wie unsere noble Forschung enden könnte, nämlich damit, dass der Glaube die Wissenschaft erneut ersetzt.» Die mathematische Rabulistik der Stringtheoretiker, wie sie sechs Dimensionen in einem Raumgebiet der Grössenordnung von 10-33 Metern zerknautschen können, übertrumpft tatsächlich die Spekulationen mittelalterlicher Theologen, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben.

Symmetrien als Leitfaden

Es fällt auf, wie viele Mathematiker sich an der modernen Physik versuchen. «Abschied von der Realität» lässt sich deshalb auch so lesen: Die mathematische Physik koppelt sich ab von der Physik. Das hat durchaus interne Gründe. Der wohl zentralste Grund sind sogenannte Symmetrien. Eigentlich entsprechen sie einer alltäglichen Intuition: Ein «echtes» physikalisches Gesetz kann nicht vom Beobachterstandpunkt abhängen; es gilt an jedem Ort, zu jeder Zeit des Universums. Es sollte – wie man sagt – symmetrisch gegenüber zeitlichen und räumlichen Transformationen sein.

Dieser Intuition hat eine geniale Mathematikerin, Emmy Noether, 1918 eine exakte mathematische Fassung gegeben, in einem nach ihr benannten Theorem: Jeder solchen Symmetrie-Transformation entspricht eine bestimmte physikalische Erhaltungsgrösse; der zeitlichen Transformation die Energie, der räumlichen der Impuls, der Drehung der Drehimpuls.

Die Bedeutung der Idee liegt in der Umkehr ihrer Logik. Wenn wir in einem physikalischen Prozess beobachten, dass eine Grösse – etwa die elektrische Ladung – erhalten bleibt, dann muss die Theorie, welche den Prozess beschreibt, eine bestimmte Symmetrie aufweisen. Findet man sie, ist man auf dem besten Weg zur mathematischen Fassung der Theorie. Die Forderung nach einer bestimmten Symmetrie fungiert so gesehen wie ein Theorien-Bauinstrument. Weinberg, Glashow und Salam stellten ihre Nobelpreis-gekrönte vereinheitlichte Theorie der elektromagnetischen und schwachen Wechselwirkung genau so auf.

«Abschied von der Realität» heisst Abschied vom Standardmodell der Teilchen. Es weist zu viele freie Parameter auf, d. h. Konstanten wie etwa die Teilchenmassen oder die Stärken der fundamentalen Kräfte, die es nicht erklären kann, sondern einfach als Gegebenheit experimenteller Messung hinnimmt. Physiker aber wollen das Gegebene hinterfragen. Dazu brauchen sie eine Theorie mit grösserem Tiefgang. Die Idee, via neue, zunehmend ausgeklügeltere Symmetrien zu einer solchen zu gelangen, ist ein verlockendes Forschungsmotiv. Von weitem winkt der Nobelpreis. Aber der Preis, den man dafür zahlt, ist nicht zu unterschätzen.

Ein Beispiel mag das veranschaulichen. Materie, wie wir sie gewöhnlich kennen, besteht aus einer Riesenzahl von Teilchen, deren Verhalten man nur statistisch erklären kann. Das Standardmodell teilt alle Teilchen in zwei Klassen mit unterschiedlicher Statistik ein: in Fermionen und Bosonen. Die Frage stellt sich natürlich schnell, ob denn diese auffällige Zweiteilung Ausdruck einer tiefer liegenden Super-Symmetrie – und damit einer fundamentaleren Theorie der Teilchen und Kräfte – sein könnte; einer «Mutter»-Theorie, die womöglich auch die Gravitation einschlösse. Sie verspricht, erklären zu können, warum die Teilchen gerade die Masse haben, die sie haben.

Das Problem ist bloss, dass man sich dadurch eine wahre Teilchen-Inflation einhandelt. Zu jedem bekannten Teilchen postuliert die Symmetrie einen Superpartner: z. B. zum Elektron ein Selektron, zum Quark ein Squark, mit derselben Masse. Bisher hat man sie nicht beobachtet. Und warum nicht? Die gängige Antwort lautet: Weil sich die Super-Symmetrie in der Welt, wie wir sie kennen, versteckt. 

Die Physiker nennen dieses Versteckspiel Symmetriebrechung. Eine Folge davon ist, dass die Superteilchen grössere als theoretisch erwartete Massen haben können und deshalb mit den heute zur Verfügung stehenden Beschleunigern nicht erzeugt werden können. Folglich müsste man noch grössere Beschleuniger bauen, um die supersymmetrischen Teilchen zu entdecken.

So gesehen mutet die Super-Symmetrie wie eine theoretische Hydra an: Um die zahlreichen willkürlichen Parameter im Standardmodell zu erklären (zu eliminieren), konstruiert man ein Post-Standardmodell mit noch viel mehr Parametern. Das ist die zweite Neuralgie: Unter den Physikern ist eine interne Kontroverse über der Frage entbrannt, ob man denn mit dem Aufstieg in immer dünnere theoretische Höhen nicht eine Strategie verfolge, die dem alten alchimistischen Prinzip «Ignotum per ignotius» zu ähneln beginnt: Erklären von etwas Unbekanntem aus noch Unbekannterem.

Absurdes macht sich bezahlt

Zynismus wirkt hier freilich billig. Oft lohnt es sich, eine Theorie auch dann weiter zu verfolgen, wenn der Realitäts-Check vorerst nicht möglich ist. Paul A. M. Dirac, einer der grössten Theoretiker des letzten Jahrhunderts, formulierte die erste relativistische Quantenfeldtheorie des Elektrons. Deren Grundgleichung liess allerdings eine Lösung zu, die in den 1920er Jahren als absurd galt, weil sie das Vakuum als einen See negativer Energie postulierte.

Dirac indes, von der mathematischen Schönheit seiner Gleichung überzeugt, verstiess sie nicht. Er interpretierte den «Dirac-See» einfach um und erweiterte auf diese Weise den mathematischen Sprachschatz der Physik, der es im Besonderen ermöglichte, das Konzept der Antimaterie zu formulieren. Das Anti-Elektron oder Positron wurde schon vier Jahre nach seiner Postulierung in der kosmischen Strahlung nachgewiesen. Inzwischen ist es ein zentraler Bestandteil der bildgebenden medizinischen Technologie.

Erweiterung der Realität

Sicher müssen Stringtheoretiker und Supersymmetriker mit ihren Superteilchen länger warten als Dirac mit seinem Antiteilchen. Viele sagen: zu lange. Hier stossen wir auf die dritte Neuralgie: Welchen Erkenntnisgewinn bringen uns denn Theorien einer «Märchen-Physik», die den empirischen Boden verlassen hat? Vielleicht sollte man die Frage nicht so stellen und stattdessen in Erwägung ziehen, dass Theorien nicht nur dazu da sind, Phänomene und Effekte zu erklären, sondern vielmehr noch, neue Phänomene und Effekte überhaupt erst denkbar zu machen. Die Quantentheorie machte so undenkbare Dinge wie die Strahlung von Schwarzen Löchern oder verschränkte Quantenzustände denkbar. Das erinnert nun stark an das Sagbar-Machen des vorher Nicht-Sagbaren: das Wesen der Poesie. Sie ist nicht Abschied, sondern Erweiterung der Realität.

Wie sagte Gottfried Benn: «Es gibt nur zwei verbale Transzendenzen: die mathematischen Lehrsätze und das Wort als Kunst.» Ich würde die theoretische Physik hinzufügen. Sie ist voller bizarrer mathematischer Poesie. Sie ist die Poetin unter den Naturwissenschaften – eingedenk der Urbedeutung von «poiein»: Hervorbringen. Hervorbringen neuer Muster, Zusammenhänge, Ordnungen, Gesetze, die sich günstigstenfalls im Experiment, in der Erfahrung bestätigen.

Vergessen wir zudem nicht einen historischen Präzedenzfall. Am Anfang des 20. Jahrhunderts erklärte eine Koryphäe der damaligen Physik, Lord Kelvin, pontifikal vor der British Association for the Advancement of Science: «In der Physik gibt es nichts Neues mehr zu entdecken. Was uns bleibt, sind immer präzisere Messungen.» Das war eine epochale Fehldeutung. Das 20. Jahrhundert sollte sich als eine Ära physikalischer Entdeckungen nie da gewesenen Ausmasses (und nie da gewesener Folgelast) herausstellen. Und wir stehen erst am Anfang des 21. Jahrhunderts.

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