Samstag, 31. Mai 2014

Ein Quant in Worte fassen.

aus derStandard.at,

Zwischen Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit
Naturwissenschaften entfernen sich zunehmend von sprachlichen Diskursen - Um dem entgegenzuwirken, lud der PEN-Club zu einer Debatte über Philosophie und Quantenphysik


In der modernen Naturwissenschaft wird die Formalisierung auf die Spitze getrieben. Aktuelle Erkenntnisse zu versprachlichen ist oft kein einfaches Unterfangen. Die Schriftstellervereinigung PEN-Club wollte es kürzlich im Presseclub Concordia in Wien dennoch versuchen. Beim Thema "Quantenphysik populär" hat man sich dort vor allem um die Verbindung von den Theorien der Quantenphysik mit der Philosophie bemüht.

Mazumdar war genauso unter den Vortragenden wie Michael Esfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne, der seine Ausführungen mit einer grundsätzlichen Frage begann: "Was ist Materie?" In der klassischen Physik sei die Antwort einfach: Die Materie besteht aus Atomen. Der Atomismus kam bei den Vorsokratikern auf, mit Newton setzte er sich schließlich auch in der Wissenschaft durch.

In der Quantenphysik ist die Frage nach der Materie nicht so einfach zu beantworten. Die Theorie entstand ja um 1900 mit der Entdeckung, dass Energie in Paketen auftritt - also "quantisiert" - und nicht, wie die Physiker zuvor angenommen haben, in völlig beliebiger Größe.
 
Welle und Teilchen

Welle und Teilchen sind in der klassischen Vorstellung sich gegenseitig ausschließende Konzepte: Etwa ist ein Teilchen an einem Punkt im Raum lokalisiert, die Welle jedoch ausgedehnt. Da die Quantenphysik ihren Objekten sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften zuschreibt, fallen die Materiemodelle deutlich komplexer aus - Ausdrücke wie "Welle-Teilchen-Dualismus" oder Komplementarität versuchen, die widersprüchlichen Konzepte auf einen Begriff zu bringen und verwirren damit sicherlich so manch einen Leser.

"Mit der Quantenphysik haben wir einen Formalismus, der uns erlaubt, Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse auszurechnen, aber der sagt uns nicht, was Materie ist", sagte Esfeld. Der entscheidende Unterschied zwischen klassischer Physik und Quantenphysik liegt für Esfeld in den Eigenschaften der Materie, die dafür zuständig sind, damit Gesetze beschreiben zu können.
Um in der klassischen Physik die Bewegungsbahn eines Teilchens auszurechnen, reicht es, wenn man etwa dessen Masse und Geschwindigkeit kennt - diese Eigenschaften kommen jedem Teilchen für sich genommen zu. In der Quantenmechanik betreffen die Eigenschaften, um Bewegungsbahnen zu berechnen, aber nie nur ein einzelnes Teilchen. So wird in der Quantenmechanik berücksichtigt, dass sich das Teilchen je nach experimenteller Anordnung unterschiedlich bewegt.

Eine Konsequenz daraus ist, wie Mazumdar sagte, dass sich in der Quantenphysik "die Beobachtung selbst als ein physikalischer Prozess meldet, der die beobachtete Wirklichkeit verändert". Wem das zu kompliziert klingt, dem hilft vielleicht die Erinnerung an Niels Bohr: Er war einer der Pioniere der Quantenphysik und hätte das als eine "neue Fassung des alten philosophischen Dualismus von Subjekt und Objekt interpretiert", sagte Mazumdar. Mit der Quantenphysik scheitere somit der Anspruch der klassischen Physik, die Sprache vollständig zu formalisieren und dabei alles Subjektive zu entfernen.

In Anlehnung an die Wissenstheorien von Michel Foucault meinte Mazumdar schließlich, dass die Einheit des Wissens nur hergestellt werden kann, wenn verschiedene Formen der Sprache koexistieren können - ähnlich der komplementären Natur der Quantenobjekte, die Wellen- und Teilcheneigenschaften vereinen.
 

Wissen: Physik im Kleinen

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Effekte der Quantenphysik entdeckt wurden, gingen die Physiker zunächst davon aus, dass diese nur im subatomaren Bereich eine Rolle spielen. Mittlerweile wurde jedoch klar, dass es keine prinzipielle Grenze zwischen Quantenwelt und klassischer Welt gibt - der Übergang ist fließend.
Derzeit konzentriert sich die Forschung auf Quantum Computing, wie die Grundlagen für den Quantencomputer, Quantenteleportation oder Quantenkryptografie. Ebenfalls wird intensiv an der Vereinheitlichung von Quantenphysik und Relativitätstheorie gearbeitet. (trat)

Literaturtipps
  • Michael Esfeld: "Philosophie der Physik", 18 Euro, Suhrkamp 2012
  • Michael Esfeld: "Naturphilosophie als Metaphysik der Natur", 10 Euro, Suhrkamp 2007
  • Pravu Mazumdar: "Der archäologische Zirkel", 45 Euro, Transcript 2008

Donnerstag, 29. Mai 2014

Halt dich fit, glaub an Gott.

Ribera, St. Peter
aus Süddeutsche.de,
 
Moderner Glaube  
Warum Religion gut tut

von Matthias Drobinski

...sagen die Therapeuten, Mediziner, Hirn- und Sozialforscher: Glauben tut gut. Wer fromm ist, lebt gesünder, wiegt weniger und hat einen niedrigeren Cholesterinspiegel als der Ungläubige, und außerdem ein stabileres Immunsystem. Er muss seltener ins Krankenhaus, und wenn, ist er schneller wieder draußen. Er ist häufiger zufrieden mit seinem Leben, lebt in stabileren Beziehungen, hat mehr Freunde und Bekannte als der, dem der liebe Gott egal ist. Er ist mit größerer Wahrscheinlichkeit Vereinsmitglied und sozial engagiert und mit geringerer Wahrscheinlichkeit ein Neonazi. Mehr als 1200 Studien soll es mittlerweile geben, die dies alles bestätigen, und auch Tilmann Moser hat seine These von der Gottesvergiftung relativiert: Eine reife Religiosität hilft im Leben, und sei es als Krückstock, auf den man sich stützen kann, wenn der Gang durchs Leben schwer fällt. ...

Religion hilft. Das ist schön, das ist gut und wird zu selten gesagt im Zeitalter der Kirchenskandale. Aber das reicht nicht, und je länger man darüber nachdenkt, desto größer wird das Unbehagen. Beten und Meditieren hilft dem Immunsystem - so wie rechtsdrehender Joghurt der Darmflora oder Krankengymnastik dem lädierten Knie? Der Kirchgang am Sonntagmorgen dient dem Wohlbefinden wie Schwimmen und Sauna am Samstagnachmittag?

Der Glaube als Teil der Wellness- und Fitness-Bewegung, das ist eine gruselige Vorstellung. Religion wird zum Zweck, zur spirituellen Badewanne. Und wem es hinterher nicht besser geht, wer immer noch Fragen hat, wem der Zweifel ein hartnäckiger Begleiter bleibt- der hat was falsch gemacht, hat die geforderte Leistung nicht erbracht. Wer nicht geheilt von dannen geht, wer weiterhin Sorgen hat und ratlos vor seinem Leben steht, hat nicht richtig geglaubt. Hinter dieser Vorstellung steht die religiös gewordene Drohung der Positive-Thinking-Ideologie: Sieh es positiv - oder stirb.

Mittwoch, 28. Mai 2014

Evolution der Genetik.

paul marx, pixelio.de
aus nzz.ch, 28. Mai 2014, 19:05

Kataloge menschlicher Proteine
Der Evolution zuschauen


Unser Erbgut ist nicht statisch. Neue Proteine entstehen, nicht benötigte Gene werden stillgelegt. Das zeigt die nun präsentierte Entschlüsselung fast aller Proteine aus 30 Zelltypen.

Die biologische Entwicklung von Erwachsenen ist keineswegs so abgeschlossen wie weithin angenommen. Unser Erbgut befindet sich vielmehr auch nach Jahrtausenden des Menschseins weiterhin in einer Phase des Ausprobierens. Einen Blick auf solche Testmanöver in unseren Zellen zeigen zwei nun präsentierte, jeweils sehr umfangreiche Kataloge unserer Proteine.¹,²

Pseudogene sind doch aktiv

Sowohl das Team unter Leitung von Akhilesh Pandey von der Johns Hopkins University in Baltimore ¹ als auch jenes um Bernhard Küster von der Technischen Universität München ² haben jeweils etwa 18 000 Proteine aufgespürt. Rund 10 000 dieser Eiweissstoffe kommen immer in fast allen untersuchten Zelltypen vor, sie organisieren sozusagen den unspezifischen Alltag dort. Die US-Forscher haben die Eiweisse aus 30 verschiedenen menschlichen Zelltypen isoliert, die Münchner Wissenschafter auch noch Proteine aus Körperflüssigkeiten wie Blut und Urin in ihre Untersuchungen mit einbezogen. Die entnommenen Eiweissmoleküle wurden gereinigt, zerkleinert und die Fragmente mithilfe modernster Massenspektrometrie einzeln identifiziert.

Dabei wurden einige hundert Proteine gefunden, von deren Existenz bis anhin niemand etwas geahnt hatte. Denn die ihnen zugrunde liegenden Gene waren entweder unbekannt oder als sogenannte Pseudogene klassifiziert. Damit bezeichnet man Genabschnitte, die zwar Ähnlichkeiten mit normalen Genen aufweisen, bisher aber als beständig inaktiv eingeschätzt wurden. Welche Funktion diese neuen Proteine besitzen, ist derzeit unklar. Wie Küster vermutet, könnte es sich bei einigen dieser Proteine um neu entstandene Prototypen handeln. Sollten diese in bestehende Reaktionskaskaden passen oder auch eine neue Funktion aufweisen, die der Zelle ein besseres Überleben ermögliche, blieben sie eventuell erhalten.

Auch Beweise für die zweite Spielart der Evolution, das Aussortieren nicht mehr benötigter Gene, haben die Forscher entdeckt. Beide Teams stellten unabhängig voneinander fest, dass die Eiweissprodukte von ungefähr 2000 Genen in keiner der untersuchten Zelltypen und Körperflüssigkeiten vorkommen. Das könnten im Einzelfall technische Unzulänglichkeiten sein, auch seien manche dieser Erbgutabschnitte nur aufgrund von computerbasierten Vorhersagen und vermutlich fälschlicherweise zu Genen ernannt worden, erklärt Küster einen Teil des Rätsels. Aber in diesem Pool der «stummen» Gene befänden sich beispielsweise auch eine Reihe von Genen, die bei Tieren die Bauanleitung für Geruchsrezeptoren enthielten. Da der Mensch den Geruchssinn zum Überleben aber kaum noch benötigt, wurde es für die Zellen vermutlich energetisch gesehen zu aufwendig, die nutzlos gewordenen Riechproteine herzustellen. Also wurden deren Gene dauerhaft stillgelegt. Weder unser Erbgut noch die Proteinproduktion sind also statisch, die Evolution des Menschen läuft noch.

Proteinprofile von Zelltypen

Die Teams haben nun erstmals auch eine sehr detaillierte Liste der in den einzelnen Zelltypen vorhandenen Proteine erstellt. Somit weiss man nun auch, welche Eiweissmoleküle im Normalfall in welcher Menge zum Beispiel in einer Leber- oder einer Nervenzelle aktiv sind. Man will nun Proteinprofile gesunder Zellen mit denen von Patienten vergleichen, um so den einer Erkrankung zugrunde liegenden zellulären Defekt gezielter behandeln zu können. Die Vergleiche könnten auch frühzeitig Anzeichen für den Ausbruch von Krankheiten liefern. Das Münchner Team hat in einem ersten Schritt bereits die Wirkung von 24 gängigen Krebsmedikamenten auf 35 entartete Zelllinien charakterisiert. So hoffe man, künftig die Wirkung einer Substanz schon vor dem ersten Einsatz genauer abschätzen zu können, erläutert Küster.

Montag, 26. Mai 2014

Gerald Edelman, der Neurodarwinist.

Dr. Gerald M. Edelman at Rockefeller University in 1972, in front of a gamma globulin model
aus New York Times, MAY 22, 2014


Gerald M. Edelman, Nobel Laureate and ‘Neural Darwinist,’ Dies at 84
Dr. Gerald M. Edelman, who shared a 1972 Nobel Prize for a breakthrough in immunology and went on to contribute key findings in neuroscience and other fields, becoming a leading if contentious theorist on the workings of the brain, died on Saturday at his home in the La Jolla section of San Diego. He was 84.

Dr. Edelman was known as a problem solver, a man of relentless intellectual energy who asked big questions and attacked big projects. What interested him, he said, were “dark areas” where mystery reigned.

“Anybody in science, if there are enough anybodies, can find the answer,” he said in a 1994 interview in The New Yorker. “It’s an Easter egg hunt. That isn’t the idea. The idea is: Can you ask the question in such a way as to facilitate the answer? And I think the great scientists do that.”

His Nobel Prize in Physiology or Medicine came in 1972 after more than a decade of work on the process by which antibodies, the foot soldiers of the immune system, mount their defense against infection and disease. He shared the prize with Rodney R. Porter, a British scientist who worked independent of Dr. Edelman. The Nobel committee cited them for their separate approaches in deciphering the chemical structure of antibodies, also known as immunoglobulins.

Dr. Edelman discovered that antibodies were not constructed in the shape of one long peptide chain, as thought, but of two different ones — one light, one heavy — that were linked.

From this, he and a research team at Rockefeller University in Manhattan determined the structure of an entire immunoglobulin molecule. Their advance, as well as Dr. Porter’s, “incited a fervent research activity the whole world over, in all fields of immunological science,” the Nobel committee said.

From the mid-1970s on, Dr. Edelman was largely concerned with the brain and the nature of consciousness — “how the brain gives rise to the mind,” as he put it. He rejected the prevalent notion that the best model for the brain was a computer.

Rather, he took a lesson from his earlier work in immunology. He had helped establish that antibodies work according to a process akin to Darwinian selection, and he now postulated a theory of the brain called neuronal group selection, which came to be known as “neural Darwinism.

Within the dense thicket of nerve cells in the brain, known as neurons, are a vast array of neuronal groups. Dr. Edelman believed that when something happened in the world — something encountered by one of our senses — some neuronal groups responded and were strengthened by a series of biological processes. Those groups, he concluded, became more likely to respond to the same or a similar stimulus the next time, and thus did the brain learn from its own experience and shape itself over the course of a life.

Dr. Edelman discussed neural Darwinism and his theories connecting biology and consciousness in four books, including “Bright Air, Brilliant Fire: On the Matter of the Mind” (1992). They were received with both admiration and skepticism, praised as visionary by some and judged incomprehensible by others.

Gunther Stent, a pioneer of modern biology, expressed his frustration, saying: “I consider myself not too dumb. I am a professor of molecular biology and chairman of the neurobiology section of the National Academy of Sciences, so I should understand it. But I don’t.”

Since then, however, elements of Dr. Edelman’s work have been supported by experimental research.

“To some degree, it’s still an intractable subject,” said Peter Vanderklish, a neuroscientist and professor at the Scripps Research Institute in La Jolla, where he and Dr. Edelman were colleagues. “There isn’t going to be any kind of theory of the brain that doesn’t involve elements of his ideas. The brain is never — never has been or ever will be — in the same state twice, and will never encounter the same environmental cues twice. What’s attractive about his model is that it tries to address that reality.”

Gerald Maurice Edelman was born on July 1, 1929, in the Ozone Park neighborhood of Queens. ... 

Dr. Edelman was the author of hundreds of articles and papers. His books include “A Universe of Consciousness: How Matter Becomes Imagination” (2000), written with Giulio Tononi, a psychiatrist and neuroscientist at the University of Wisconsin.

Dr. Tononi described Dr. Edelman in an interview as a major thinker whose ideas pushed science forward. “When he started doing this, thinking that the brain might work by selection, as the evolution of species does and the immune system does, the way people were looking at the brain was completely different,” Dr. Tononi said.

As to the durability of Dr. Edelman’s ideas, he added: “The overall spirit has been vindicated. That’s how I would put it.”


Sonntag, 25. Mai 2014

"Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist."

aus glassy
institution logoNeues Modell zur Objektwahrnehmung: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist.

Dr. Julia Weiler 
Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum 

16.05.2014 10:31 

Sehen wir die Welt, wie sie wirklich ist, oder wie wir sie haben wollen? 

Mit dieser Frage haben sich Philosophen und Neurowissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und der Universität Genf beschäftigt. In der Zeitschrift „Consciousness and Cognition“ beschreiben sie ein neues Modell für die Wahrnehmung von Objekten.

Wie die Wahrnehmung mit Begriffen und Hintergrundwissen zusammenhängt

Bislang gab es zwei Theorien, wie die Wahrnehmung von Objekten mit unseren Begriffen, Vorstellungen, Wünschen und dem Hintergrundwissen zusammenhängt, das wir über die Objekte besitzen. Die eine Theorie besagt, dass die Wahrnehmung eines Objekts durch unsere Begriffe geprägt ist und erst durch diese Begriffe möglich wird. Laut dem zweiten Modell ist ein Wahrnehmungsbild auch ohne Begriffe verfügbar; wir erfassen die Welt, so wie sie ist. Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II der RUB und seine Schweizer Kollegin Petra Vetter schlagen ein neues Modell vor: Wahrnehmungen basieren auf Konstruktionsprinzipien, die evolutionär verankert und somit für alle Menschen gleich sind. Sie werden jedoch gleichzeitig durch Vorstellungen, Erinnerungsbilder, Begriffe und Hintergrundwissen geprägt.

Wenn ein bedeutungsloses Fleckenmuster zur Kuh wird

Dass unsere Wahrnehmung von unserem Wissen und unseren Denkprozessen beeinflusst wird, legen Newen und Vetter mit einem einfachen Experiment dar. Zeigt man verschiedenen Personen ein Bild von einem schwarz-weißen Fleckenmuster, können diese darin normalerweise keine Struktur erkennen. Gibt man ihnen jedoch die Information, dass auf dem Bild eine Kuh dargestellt ist, sehen die Betrachter in demselben Muster eine Kuh – und können auch nicht wieder in den Zustand zurückkehren, indem sie ein bedeutungsloses Fleckenmuster gesehen haben.

Hintergrundwissen moduliert Aktivität in primären visuellen Arealen

Petra Vetter zeigte in Experimenten, dass Hintergrundwissen die primären visuellen Areale moduliert, also die Eingangsstation für Informationen des Sehsinns in der Großhirnrinde. Albert Newen schlägt vor, dass es mehrere Arten gibt, wie das Hintergrundwissen und unsere Begriffe die Wahrnehmung beeinflussen. Dazu unterscheidet er vier Ebenen: die Ebene der primären visuellen Prozesse; die Ebene, auf der ein Wahrnehmungsbild entsteht; die Ebene der visuellen Vorstellung; die Ebene der Begriffe, des Wissens und der Überzeugungen. Laut Newen können alle drei höheren Ebenen die Ebene der primären visuellen Prozesse beeinflussen. Dies wird unter anderem durch systematische Fälle von Wahrnehmungsstörungen untermauert.

Titelaufnahme

P. Vetter, A. Newen (2014): Varieties of cognitive penetration in visual perception, Consciousness and Cognition, DOI: 10.1016/j.concog.2014.04.007

Weitere Informationen

Prof. Dr. Albert Newen, Institut für Philosophie II, Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität, 44780 Bochum, Tel. 0234/32-22139, E-Mail: albert.newen@rub.de 


Nota.

Das ist für die Transzendentalphilosophie immer ein bisschen peinlich, wenn sie 'empirisch bewiesen' wird; denn wozu würde sie gebraucht, wenn die Erfahrung ausreicht? 

Freilich redet die Transzendentalphilosophie gar nicht von der Fehlbarkeit unserer Sinneswahrnehmungen. Sie redet davon, dass die Vorstellung von einem Wie-sie-ist wissenslogisch ohne Sinn ist. Dass wir trotzdem Etwas wahrnehmen und nicht Tohuwabohu, liegt an der Vorarbeit - Intention, Erwartung, Vorstellung - des Subjekts.
JE

Freitag, 23. Mai 2014

Bauchhirn.

aus scinexx

Bauchgefühl beeinflusst Angst
Signale aus dem Bauch beeinflussen die Reaktion des Gehirns bei angeborenen und erlernten Ängsten

Der Bauch redet mit: Unser Bauchgefühl beeinflusst nicht nur unsere Gefühle, sondern auch ganz konkret unser Gehirn und Verhalten. Das belegt ein Experiment mit Ratten. Wurde ihre Signalleitung zwischen Bauch und Gehirn getrennt, verloren sie ihre angeborenen Ängste. Gleichzeitig schafften sie es nicht mehr, erlernte Ängste wieder loszuwerden. Das Bauchgefühl ist demnach entscheidend wichtig auch für das Umlernen, so die Forscher im Fachmagazin "Journal of Neuroscience". Diese Erkenntnis könnte auch Menschen mit posttraumatischem Stress helfen.

Ein unbeleuchtetes, einsames Parkhaus bei Nacht, Schritte in der Dunkelheit. Das Herz schlägt schneller, der Magen zieht sich zusammen: Bedrohliche Situationen spüren wir oft im Bauch. Inzwischen ist klar, dass dieses Bauchgefühl durchaus real ist. Denn nicht nur das Gehirn kontrolliert Vorgänge in der Bauchhöhle, sondern der Bauch sendet auch Signale zurück ans Gehirn, wie Studien zeigen.

Im Zentrum des Zwiegesprächs zwischen Gehirn und Bauchraum steht dabei der Vagusnerv, der Signale in beiden Richtungen übermittelt. Signale vom Gehirn an die inneren Organe laufen über sogenannte efferente Nervenstränge, Signale vom Bauch ans Gehirn über afferente Stränge. "Die afferente Leitung spielt eine Rolle für die Verdauung, aber es gibt auch Hinweise darauf, dass es Stimmung und Affektverhalten beeinflusst", erklären Melanie Klarer von der ETH Zürich und ihre Kollegen.

Fehlendes Bauchgefühl nimmt Angst

Welche Rolle diese Kommunikation für unser Angstgefühl und das Verhalten in bedrohlichen Situationen spielt, haben die Forscher nun in einem Versuch mit Ratten näher untersucht. Für ihr Experiment durchtrennten sie bei den Ratten die afferenten Nervenstränge zwischen Bauch und Gehirn. Dadurch machten sie die Kommunikation zwischen beiden zu einer Einbahnstraße: Das Gehirn konnte bei den Versuchstieren weiter Prozesse im Bauchraum steuern, erhielt aber keine Nachrichten mehr von dort.

Dann setzten sie die Tiere Situationen aus, die typischerweise bei ihnen Angst auslösen: helles Licht und freie Flächen ohne Unterschlupf. Wie sich zeigte, verhielten sich die Ratten mit durchtrenntem Vagusnerv furchtloser als die Kontrolltiere. Gleiches galt auch für das Misstrauen gegenüber fremdem, ihnen unbekanntem Futter: Die Ratten ohne "Bauchgefühl" verloren ihr angeborenes Misstrauen und futterten herzhaft drauflos. "Das angeborene Angstverhalten scheint deutlich durch Signale vom Bauch ans Gehirn beeinflusst zu werden", sagt Seniorautor Urs Meyer von der ETH Zürich.


Stressreaktion: Hirnanhangsdrüse und Nebennieren schütten Hormone aus
Umlernen blockiert

In einem zweiten Experiment prüften die Forscher den Einfluss des "Bauchgefühl" auf erlerntes Angstverhalten. Die Ratten lernten dafür zunächst, einen neutralen Ton mit einer unangenehmen Erfahrung in Form eines leichten Stromstoßes zu verbinden. Dabei schien der Bauch-Gehirn-Signalweg keine Rolle zu spielen: Die Versuchstiere lernten ebenso schnell wie die Kontrolltiere, den Ton mit negativen Folgen zu assoziieren.

Anders sah dies beim "Verlernen" dieser antrainierten Angst aus: Blieb in einem weiteren Durchgang der Stromstoß nach dem Ton aus, brauchten die Ratten ohne "Bauchgefühl" deutlich länger, den Ton mit der neuen, nun neutralen Situation zu assoziieren. Die Rückmeldung vom Bauch spielt damit offensichtlich eine wichtige Rolle dafür, flexibel auf bedrohliche Situationen zu reagieren und im Speziellen zu erkennen, wenn eine Bedrohung nicht mehr besteht. Das passt auch zu den Ergebnissen einer vorhergehenden Studie, wonach die Stimulation des Vagusnervs das Umlernen fördert.

Bauch redet beim Angstverhalten mit

Das Bauchgefühl beeinflusst demnach sowohl die angeborene als auch die erlernten Ängste: Fehlt die Rückmeldung aus dem Verdauungsorgan, dann geht die angeborenen Angst verloren, die erlernte dagegen bleibt auch dann erhalten, wenn sie nicht mehr sinnvoll ist. "Wir konnten damit zum ersten Mal zeigen, dass das gezielte Unterbrechen des Signalwegs vom Bauch ins Gehirn komplexe Verhaltensmuster verändert", sagt Meyer. Bisher wurden solche Verhaltensmuster immer allein dem Gehirn zugeschrieben.

Die Ergebnisse der Forscher belegen nun klar, dass der Bauch beim Angstverhalten ebenfalls mitredet. Was der Bauch allerdings genau signalisiert, ist noch nicht klar. Immerhin stellten die Wissenschaftler bei Untersuchung der Rattengehirne fest, dass der Verlust der Signale vom Bauchraum die Produktion von bestimmten Neutrotransmittern im Gehirn veränderte. Die Forscher hoffen, in zukünftigen Studien die Rolle des Vagusnervs und der Zwiesprache zwischen Gehirn und Körper weiter aufzuklären.

Hilfe für Menschen mit posttraumatischem Stress

Interessant sind die neuen Erkenntnisse zum Bauchgefühl auch für die Psychiatrie. Denn beim Post-Traumatischen Stresssyndrom (PTSD) verknüpfen die Betroffenen ebenfalls neutrale Reize mit der zuvor durch Extremerfahrungen ausgelösten Angst. Nach Ansicht der Forscher könnte eine Stimulation des Vagusnervs Patienten mit PTSD dabei helfen, diese erlernte Angst loszuwerden. Denn wenn ein Verlust der Bauchkommunikation dieses Umlernen verhindert, dann könnte umgekehrt ein Hochregeln dieser Signale dies fördern, so die Logik dahinter.

Tatsächlich wenden Ärzte die Vagusnervstimulation bereits bei Epilepsie und in Einzelfällen auch bei Depressionen an. Unser Bauchgefühl ist demnach durchaus real – und mehr Einfluss als mancher zuvor dachte. (The Journal of Neuroscience, 2014; doi: 10.1523/JNEUROSCI.0252-14.2014)

Donnerstag, 22. Mai 2014

Licht zu Materie.

Licht aus Materie - Nach der Breit-Wheeler-Theorie entsteht dann ein Elektroen-Positron-Paar.
aus scinexx

Experiment erzeugt Materie aus Licht
Eine der grundlegenden Vorhersagen der Quantenelektrodynamik kann nun bewiesen werden

Fundamentale Umwandlung: Physiker haben ein Experiment entwickelt, bei dem aus der Kollision von Photonen ein Elektronen-Positronen-Paar entsteht. Dieser bisher nur theoretisch vorhergesagte Prozess könnte damit erstmals experimentell nachgewiesen werden. Das Überraschende daran: Benötigt werden dafür nur Technologien und Anlagen, die es schon gibt. Die Umsetzung ist daher relativ einfach. Das Rennen um den ersten experimentellen Beweis sei damit eröffnet, so die Forscher im Fachmagazin "Nature Photonics". 

Schon 1943 postulierten die beiden Physiker Gregory Breit und John Wheeler, dass aus Licht Materie entstehen kann: Sie belegten anhand einer Gleichung, dass die Kollision zweier Photonen theoretisch ausreicht, um ein Elektron und ein Positron zu erzeugen – und damit Materieteilchen. Diese Breit-Wheeler-Theorie gehört heute zu den sieben grundlegenden theoretischen Vorhersagen der Quantenelektrodynamik (QED).

Mit Laserlicht…

Allerdings: Experimentell bewiesen werden konnte sie bisher nicht. Die hohen Photonendichten, die dafür nötig wären, haben bisher die Beobachtung dieser Teilchenpaar-Produktion verhindert. "Obwohl alle Physiker Breit und Wheelers Theorie als wahr akzeptierten, erwarteten sie daher nicht, dass es jemals im Labor gezeigt werden könnte", erklären Oliver Pike und seine Kollegen vom Imperial College London. "Aber jetzt, 80 Jahre später, zeigen wir, dass es sehr wohl geht."

Die Physiker haben ein Konzept für ein Experiment entwickelt, das die Erzeugung von Materie aus Licht erstmals praktisch nachweisen kann – und das mit bereits existierender Technologie. Das Ganze funktioniert in zwei Schritten, wie sie erklären. Zunächst muss mit Hilfe von Laserlicht ein extrem energiereicher Elektronenstrahl erzeugt werden. Diese mit knapp unter Lichtgeschwindigkeit fliegenden Elektronen werden auf ein Stück massives Gold geschossen. Dabei entsteht eine Bremsstrahlung in Form von Gammastrahlung, deren Energie eine Milliarde Mal höher liegt als die des sichtbaren Lichts.

Grundlegende Prozesse der Quantenelektrodynamik - nur die Breit-Wheeler-Theorie ist noch nicht experimentell bestätigt.
 
…und Vakuum-Hohlraum

Für den zweiten Schritt des Experiments benötigt man einen sogenannten Vakuum-Hohlraum – eine winzige Aushöhlung in einem weiteren Goldstück. Der Innenraum dieser Goldschale wird durch einen Hochenergie-Laser aufgeheizt, so dass darin ein ebenfalls von Photonen erfülltes Strahlungsfeld entsteht, so die Forscher. In dieses Feld wird nun der energiereiche Photonenstrahl aus dem ersten Schritt gerichtet.

Im Experiment geschieht dadurch genau das, was Breit und Wheeler voraussagten: Die Photonen des Strahls und des Feldes kollidieren und dabei entstehen jeweils Paare von Elektronen und Positronen. Sie können mit Detektoren nachgewiesen werden, wenn sie aus dem Hohlraum austreten. Wie die Forscher errechneten, reicht ein Bremsstrahl von 100 Millionen Photonen aus, um zwischen 100 und 10.000 solcher Teilchenpaare pro Schuss zu erzeugen. Die Ausbeute steige dabei linear mit der Größe des Vakuum-Hohlraums.

Wettlauf eröffnet

Der große Vorteil dieses Experimentkonzepts: Keine der zugrundeliegenden Technologien muss neu erfunden oder entwickelt werden. "Das war das Überraschende für uns: Wir können Materie aus Licht erzeugen, indem wir Technologie nutzen, die wir heute längst haben", sagt Seniorautor Steve Rose. Vakuum-Hohlräume werden bereits in der Fusionsforschung eingesetzt, unter anderem am Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien. Energiereiche Photonenstrahlen lassen sich in speziellen Teilchenbeschleunigern, den Elektronensynchrotronen, erzeugen.

"Das experimentelle Design, dass wir hier vorschlagen, kann daher relativ leicht und mit bestehenden Mitteln umgesetzt werden", so Pike. "Das Rennen darum, dieses Experiment erstmals durchzuführen, ist hiermit eröffnet!" (Nature Photonics, 2014; doi: 10.1038/nphoton.2014.95)

Sonntag, 18. Mai 2014

Ur-Adam.

 aus DiePresse.com, 18.05.2014 | 16:39

Eva hatte keine Schuld: 
Forscher entschlüsseln Tontafeln

Forscher entschlüsselten den Text über Adam und Eva auf Tontafeln, die älter sind als der Text im Alten Testament. Adam wird darin als Gott dargestellt.

Niederländische Wissenschafter haben eine Urversion der Geschichte von Adam und Eva entdeckt, die rund 800 Jahre älter ist als der biblische Text. Auf Tontafeln aus dem 13. Jahrhundert vor Christus sei die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies bereits aufgeschrieben worden, berichten die Forscher in ihrem am Wochenende veröffentlichten Buch "Adam, Eve and the Devil". 

Die sogenannten Ugaritischen Tontafeln waren 1929 in Syrien gefunden und in den 1970er-Jahren teilweise entziffert worden. Die beiden Wissenschafter der Protestantischen Theologischen Universität von Amsterdam hatten die Texte aus der semitischen Sprache Ugaritisch neu übersetzt und erstmals im Zusammenhang interpretiert. Bibelforscher gehen davon aus, dass der Text im Alten Testament um 400 vor Christus geschrieben wurde

In dem in Keilschrift aufgeschriebenen Text auf den Tafeln wird Adam als Gott dargestellt, der mit einem "bösen Gott" kämpft. Dieser Teufel vermummt sich als Schlange, vergiftet den "Baum des Lebens" und macht Adam mit einem Biss zu einem sterblichen Wesen. Die Sonnengöttin tröstet Adam und die Menschheit jedoch mit Eva, einer "guten Frau". Durch natürliche Fortpflanzung erhalte die Menschheit, so die Forscher, doch eine Art Unsterblichkeit.

Anders als in der biblischen Version werde in diesem Mythos Adam als Gott dargestellt, erklärte die Autorin und Professorin für das Alte Testament in Amsterdam, Marjo Korpel, in der Tageszeitung "Trouw". "In dieser Urversion trägt auch Eva keinerlei Schuld." Bibelforscher waren bereits seit längerem davon überzeugt, dass der biblischen Geschichte von Adam und Eva ein viel älterer Mythos zugrunde liegt. Ein schriftlicher Beweis war jedoch bisher noch nie gefunden worden.

(APA/dpa)

Freitag, 16. Mai 2014

Wunderstöffchen.

 
aus scinexx

Neuartiges Plastik repariert sich selbst
Polymermaterial wächst nach und schließt Wunden wie bei einem lebenden Gewebe

Wie ein lebendes Gewebe: US-Forscher haben ein Kunststoff-Material entwickelt, das sich selbst reparieren kann. Wird es verletzt, setzen winzige Kapillaren ein Gel frei, das das Loch füllt und erhärtet. Zum ersten Mal existiert damit ein synthetisches Material, dass neues Gewebe bilden kann wie ein lebender Organismus, so die Forscher im Fachmagazin "Science". Nach diesem Prinzip könnten künftig selbstreparierende Bauteile von der Autostoßstange bis hin zu Komponenten von Raumfahrzeugen produziert werden. 

Auf den ersten Blick sieht die dicke, glatte Plastikfolie auf dem Labortisch an der University of University of Illinois in Urbana-Champaign völlig normal aus. Was man ihr aber nicht ansieht: Noch vor wenigen Stunden hat ein Projektil ein mehr als zehn Zentimeter großes Loch in die Folie gerissen. Diesen Schaden hat der Kunststoff aber von selbst wieder behoben – es ist einfach neuer Kunststoff in die Lücke eingewachsen. "Zum ersten Mal haben wir gezeigt, dass ein strukturelles Polymer verlorenes Material regenerieren kann", sagt Erstautor von Scott White. "Das Material kann tatsächlich wachsen."

Bisher war dies selbst bei sogenannten selbstheilenden Kunststoffen nicht möglich. Zwar können diese Polymere mikroskopisch kleine Risse schließen, indem sie, durch Strom oder Hitze aktiviert, neue Molekülbrücken bilden. Größere Defekte aber, bei denen ganze Teile der Kunststoffmatrix verloren gehen und ersetzt werden müssen, lassen sich damit nicht heilen.



Das Loch ist schon zur Hälfte gefüllt. Rot und blau eingefärbt sind die beiden Gel-Bausteine. Pink das erhärtete Mischmaterial.
Zwei-Komponenten-Gel als Lückenfüller

White und seine Kollegen haben nun jedoch eine Technik entwickelt, die diese Form der autonomen Regeneration ermöglicht. Das Geheimnis hinter ihrer selbstwachsenden Folie: In die Polymer-Matrix eingebettet sind winzige Kapillaren, die mit zwei verschiedenen flüssigen Chemikalien gefüllt sind. Wird dieses System verletzt, treten die Flüssigkeiten aus und fließen in die beschädigte Zone. Dort mischen sie sich und starten dadurch eine chemische Reaktion, die sie zu einem Gel werden lässt – ähnlich einem Zwei-Komponentenkleber, der beim Mischen aushärtet. Gleichzeitig strömt immer mehr Flüssigkeit nach.

"Das Gelmaterial wächst nach und nach einwärts und die gesamte Schadenszone wird durch diesen Prozess des Ausfließens und Erstarrens gefüllt", erklären die Forscher. Weil das Gel dabei ein stabiles Gerüst bildet, lassen sich selbst größere Löcher überbrücken, ohne dass das Material nach unten wegtropft. Ist die Reparatur vollendet, erstarrt das Gel noch weiter und wird zu einem festen Polymer, das das Loch genauso stabil macht wie den Rest des Kunststoffs. Innerhalb von drei Stunden hat sich der Schaden so repariert.



Diese Bildfolge zeigt, wie das Loch im Kunststoff allmählich zuwächst.
An verschiedene Kunststoffe anpassbar

"Wir haben damit demonstriert, dass sich ein nichtlebendiges, synthetisches Material auf ähnliche Weise reparieren kann wie nachwachsendes Gewebe bei Organismen", sagt Koautor Jeffry Moore. Der große Vorteil beim neuen Verfahren: Die winzigen Kapillaren bringen wie Gefäße im Körper die Bausteine für das Ersatzmaterial an die Schadensstelle. Dadurch lassen sich größere Schäden ausfüllen und sogar mehrfache Verletzungen können geheilt werden, sagen die Forscher.

In ihren Versuchen reparierten sich Löcher von bis zu 3,5 Zentimetern Durchmesser selbst, das Ersatzplastik war dabei genauso dick und fast so stabil wie das ursprüngliche Material, wie White und seine Kollegen berichten. Zudem lassen sich die Eigenschaften des Gels auf den jeweiligen Kunststoff und auf die zu erwartenden Schäden anpassen, je nach Material härtet es dann schneller oder langsamer aus.

Einsatz in Bauteilen aller Art

Nach Ansicht der Forscher könnten sich solche selbst-reparierenden Kunststoffe überall dort einsetzen lassen, wo ein Ersatz oder eine Reparatur nur schwer möglich ist, beispielsweise in der Luft- und Raumfahrt. Aber auch alltägliche Objekte wie die Stoßstange von Autos könnten von dieser Technologie profitieren: Nach einem Unfall würde sich die Stange innerhalb kurzer Zeit einfach selbst reparieren.

Bisher haben White und seine Kollegen ihre Methode bereits mit Polymeren aus zwei wichtigen Klassen kommerzieller Kunststoffe ausprobiert. Jetzt wollen sie weitere Gelbausteine entwickeln, um so auch weitere Kunststoffe selbstheilend zu machen. (Science, 2014; doi: 10.1126/science.1251135)

Donnerstag, 15. Mai 2014

mTOR.

aus Der Standard, Wien, 14. 4. 2014                               mTOR

"Der Körper ist jederzeit bereit, Zellen zu opfern"
David Sabatini hat den Generalschlüssel der Zellbiologie entdeckt - Das Protein steuert das Wachstum des Körpers - und beeinflusst diverse Krankheiten.



STANDARD: Aus wie vielen Zellen besteht unser Körper?

Sabatini: Die Zahl ist enorm. Es sind 10 hoch 14 Zellen, also 100 Billionen.

STANDARD: Wie ist es möglich, dass 100 Billionen Zellen so klaglos zusammenarbeiten und jede einzelne weiß, was sie zu tun hat?

Sabatini: Das ist eine der zentralen Fragen der Biologie. Es ist angesichts dieser Komplexität schwer vorstellbar, dass sämtliche Zellen autonome Entscheidungen treffen. Es muss daher so etwas wie Zentralsysteme geben - Gewebe, die Signale aus der Umwelt empfangen, an den Rest des Körpers weiterleiten und den Zellen sagen, was sie zu tun haben. Die Forschung zeigt: Es gibt Hunderte solcher Gewebe, und sie arbeiten in konzertierter Form zusammen - mit allem, was man braucht, um das ganze System stabil zu halten: Rückkoppelungsschleifen, Redundanz und eine robuste Architektur. Der Körper ist auch jederzeit bereit, Zellen zu opfern. Zelltod ist eine alltägliche Angelegenheit. Mit Ausnahme von Hirn und Herz gilt: Wenn es irgendwo Probleme gibt, werden die Zellen getötet, nicht repariert.

STANDARD: Wo im Körper liegen diese Zentralsysteme?

Sabatini: Ein gutes Beispiel ist die Bauchspeicheldrüse. Sie gibt Insulin ab und teilt damit allen Zellen mit, dass der Körper mit Nahrung versorgt wurde. Manche liegen im Gehirn, etwa der Hypothalamus, andere im Magen, im Verdauungstrakt etc.: Es gibt vermutlich kein Gewebe, das nicht so ein zentrales System besitzen würde. Selbst Fettgewebe kann Signale empfangen und an den Rest des senden.

STANDARD: Was "spürt" das Fettgewebe?

Sabatini: Es kann den Ernährungszustand des Körpers wahrnehmen und es sendet spezielle Proteine, sogenannte Adipokine, in den Körper, um mit anderen Geweben Kontakt aufzunehmen.

STANDARD: Sie haben bereits als Student eine wichtige Entdeckung gemacht: Sie fanden einen Signalweg in Zellen namens "mTOR". Wie kam es dazu, und was tut die Zelle damit?

Sabatini: Die Entdeckung war ein bisschen unorthodox. Wir haben damals einen Wirkstoff namens Rapamycin untersucht. Er wird in der Natur von Bakterien hergestellt, um damit Pilze zu bekämpfen. Diese Bakterien wurden auf der Osterinsel entdeckt, die von den Einheimischen Rapa Nui genannt wird - daher der Name des Wirkstoffes. Rapamycin hat jedenfalls ganz viele verschiedene Wirkungen auf den Körper, nur wussten wir zunächst nicht, wie es das tut - bis wir herausgefunden haben, dass diese Wirkungen alle mit ein und demselben Eiweißstoff zu tun haben: Rapamycin blockiert das Protein mTOR.

STANDARD: Was folgt aus dieser Blockade?

Sabatini: mTOR ist einer der Hauptsensoren des Körpers bei der Entscheidung: Wachsen oder Nichtwachsen? Beziehungsweise: Soll sich der Organismus in einen katabolen Zustand begeben, also Zellbestandteile abbauen? Oder soll er sich in einen anabolen Zustand begeben, also Substanz aufbauen? Um es einfach zu sagen: Muskelzuwachs ist anabol, Hungern ist katabol. Und mTOR ist so etwas wie ein Hauptschalter, der sämtliche Informationen bezüglich dieser Entscheidung bündelt.

STANDARD: mTOR ist laut Studien mit so verschiedenen Krankheiten wie Diabetes, Fettsucht, Depression und Krebs verknüpft. Wie ist das möglich?

Sabatini: Das scheint auf den ersten Blick überraschend, doch wir beginnen es immer mehr zu verstehen, warum mTOR eine so weite Wirkung hat. Wenn Zellen sich für den Auf- oder Abbau von Bestandteilen entscheiden, dann sind davon alle möglichen Substanzen betroffen, wie etwa Lipide, Proteine, RNA. Und diese Moleküle spielen bei den erwähnten Krankheiten eine Schlüsselrolle. Das Ganze wird verständlicher, wenn Sie nicht an Menschen, sondern an Tiere denken. Jeder physiologische Vorgang ist davon abhängig, ob das Tier zuvor gefressen hat oder nicht, ob das Tier Fett ansetzt, ob es fruchtbar ist, ob es schnell laufen kann, seine Körpertemperatur und seine Darmbewegungen - all das ist vom Ernährungszustand abhängig. Und ein Molekül wie mTOR, das den Ernährungszustand reguliert, muss eigentlich auf so gut wie alles Einfluss haben.

STANDARD: Wie ist das bei Depressionen?

Sabatini: Auch hier spielt der Auf- und Abbau von Verbindungen zwischen Nervenzellen eine Rolle, wobei das Gehirn sicher ein ganz spezielles Organ ist. Wenn ein Tier hungert, schrumpfen alle Organe, nur das Gehirn nicht. Mit gutem Grund: Sobald die Gehirnmasse abgebaut wird, gibt es keinen einfachen Weg zurück.

STANDARD: Eignet sich mTOR angesichts dieser umfassenden Funktion für Therapien? Es zu blockieren würde vermutlich den Tod des Patienten bedeuten.

Sabatini: Ohne Zweifel, ohne mTOR würden Tiere oder Menschen sterben - und an einer Überdosis ebenso. Aber man kann die Aktivität des Proteins für Therapien auch regulieren - gerade so viel, dass sich das System in ein neues Gleichgewicht begibt. Das ist bei vielen Medikamenten so. Übrigens gibt es bereits viele Therapien, die an mTOR ansetzen. Rapamycin wird zum Beispiel zur Verhinderung einer Organabstoßung bei Transplantationen eingesetzt.

STANDARD: mTOR scheint auch die Alterung zu beeinflussen. Ist das gesichert?

Sabatini: Ja, hierzu gibt es recht gute Daten. Wenn man mTOR durch Rapamycin ein bisschen hemmt, wird dadurch ein Zustand nachgeahmt, der sich normalerweise durch verminderte Kalorienaufnahme einstellt. Das wirkt lebensverlängernd. Die Frage ist: Warum ist das so? Es gibt noch keine definitive Antwort, möglicherweise lautet die Erklärung: Der Körper wird dadurch in einen katabolen Zustand gedrängt, er muss Struktur abbauen und neu zusammensetzen. Vielleicht erwirkt das eine gewisse Verjüngung.

STANDARD: Wäre es möglich, Rapamycin zu schlucken, um Alterung zu verhindern?

Sabatini: Ich könnte mir vorstellen, dass das manche Leute tun. Nur sollte man sich bewusst sein, dass der Wirkstoff Nebenwirkungen hat. Rapamycin schwächt das Immunsystem, was zweifelsohne ein Problem ist. Bis solche Anwendungen bei Menschen zugelassen sind, dauert es noch lange.

STANDARD: Auch Koffein soll auf mTOR eine hemmende Wirkung haben. Ist das so?

Sabatini: Bei der Hefe gibt es sehr gute Belege dafür. Dass das auch für Säugetiere gilt, ist möglich, aber nicht sicher. Die Altersforschung ist ein kontroversielles Gebiet mit vielen Meinungen.


David Sabatini (46) ist Professor am Whitehead Institute sowie am MIT. Kürzlich hielt er an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Landsteiner-Lecture.

Mittwoch, 14. Mai 2014

Transzendentale Synthesis im Scanner.

Hirnforschung
aus Die Presse, Wien, 4. 5. 2014

Wie das Gehirn kombiniert
Zwei Wiener Hirnforscher sind dem Phänomen auf der Spur, wie das Gehirn es schafft, Informationen gemeinsam oder getrennt zu verarbeiten.


Auf unser Gehirn strömen unzählige Informationen ein, die verarbeitet werden müssen: Farben, Geräusche, Formen, Gerüche und vieles mehr.

Wir sind ständig mit vielfältigen Sinneseindrücken konfrontiert, die jedoch nicht einzeln und isoliert wahrgenommen werden, sondern zusammen unser Bild von der Umwelt ergeben. Um dem Menschen ein Zurechtfinden in der Umgebung zu ermöglichen, müssen sie sinnvolle Einheiten bilden. Beispiele dafür sind ein herannahendes schwarzes Auto, eine rote Ampel, ein brauner, bellender Hund. Es geht also um die klassische Frage: Wie werden unterschiedliche Aspekte eines Objekts – wie Form, Farbe oder auch Geruch – zu einem einzigen wahrgenommenen Objekt kombiniert?


„Mit dieser Frage hat sich der Neurophysiologe Wolf Singer stark auseinandergesetzt“, erklärt Thomas Klausberger vom Zentrum für Hirnforschung an der Medizinischen Universität Wien. Gemeinsam mit seinem Kollegen Bálint Lasztóczi ist es ihm nun gelungen, ein Detail des Prozesses aufzuzeigen. Die Arbeit wurde kürzlich im Journal „Neuron“ publiziert.

Frisbee als Beispiel. 

„Wir knüpfen an die sogenannte Binding Theory an“, so der Wissenschaftler. „Wählen wir etwa eine rote Frisbeescheibe als Beispiel: Sie nehmen mit Ihren Sinnesorganen die Form und die Farbe dieses Objekts wahr, identifizieren das Objekt als Frisbee, aber nicht als irgendeine Frisbeescheibe, sondern als rote Scheibe. Diese Informationen werden in unterschiedlichen Gehirnarealen erfasst, laufen dann zusammen und ergeben ein Bild vom Objekt.“

Ein anderes Beispiel verdeutlicht die Kombinationsgabe des Gehirns noch eindrucksvoller: Wer das Wort Griechenland hört, denkt dabei in einem Zusammenhang an Urlaub und in einem anderen an die Finanzkrise. Wir koppeln dabei also zwei völlig unterschiedliche Begriffe miteinander. Wie funktioniert das? Wie schafft es das Gehirn, derartige Inhalte zu kombinieren und dann wieder zu trennen?

Schwingungen erzeugt. 

„Man geht von den sogenannten Gamma-Schwingungen aus, speziellen Hirnwellen zwischen 30 und 100 Hertz“, erklärt Hirnforscher Klausberger die Theorie dahinter. „Es wird also, um bei unserem Beispiel zu bleiben, eine Schwingung für rot erzeugt und eine Schwingung für die Frisbeescheibe. Überlagern sich die beiden Schwingungen, nehmen wir eine rote Frisbeescheibe wahr“, sagt der Forscher. In einer Nervenzelle kommen diese beiden Schwingungen zusammen und werden überlagert. Ebenso verhält es sich mit der Kombination von Griechenland und Urlaub oder Griechenland und Finanzkrise. Aber wie genau funktioniert das in den Nervenzellen?

Nervenzelle als Tanne. 

Das konnten Klausberger und Lasztóczi nun sichtbar machen. Dazu werteten die beiden Hirnforscher der Universität Wien neurophysiologische Ableitungen von Nervenzellen und Signale aus dem Elektroenzephalogramm, kurz EEG, von Ratten aus. Das Interessante daran: Die Wissenschaftler wussten freilich nicht, welche Informationen die Rattengehirne verarbeiteten. Sie sahen aus den Messergebnissen lediglich, dass es sich um zwei Gamma-Schwingungen handelte, deren Signale sich dann überlagerten oder eben nicht. Die Erklärung: „Nervenzellen sind asymmetrisch gebaut. Man könnte sich eine Nervenzelle als Tanne vorstellen“, wagt Klausberger einen Vergleich. Sie empfangen Informationen sowohl direkt am Zellkörper als auch an entfernten Fortsätzen, den Dendriten.

Räumliche Trennung. 

„Man muss sich das so vorstellen, dass ein Signal vom Dendritenbüschel aufgenommen wird, das andere Signal kommt direkt am Zellkörper in Form von zwei unterschiedlichen Gamma-Schwingungen an“, so der Forscher. Die Nervenzelle trennt also die beiden Informationen räumlich. Sie kommen getrennt an und können dann je nach Bedarf gemeinsam oder unabhängig voneinander verarbeitet werden.

Die Wissenschaftler haben schon neue Pläne: Warum unterschiedliche Gamma-Schwingungen in der Nervenzelle einmal überlagert und kombiniert werden und ein anderes Mal nicht, das ist der nächste Forschungsschwerpunkt der beiden Hirnforscher. Die zentrale Frage ist: Wie entscheidet das Gehirn, was in einer Situation wichtig und sinnvoll ist?

Flexibles Organ. 

„Wir sind davon überzeugt“, sagt Klausberger, „dass das etwas damit zu tun hat, welche Nervenzellen besonders aktiv sind und welche Informationen im Moment dadurch stärker repräsentiert werden. Das kann sich natürlich situationsbezogen ändern. Haben Sie beispielsweise viel über die Finanzkrise in Griechenland gelesen und gehört, werden diese beiden Signale stärker auftreten als das Signal für Urlaub.“ Das zeigt einmal mehr: Unser Gehirn ist ein flexibles Organ, das zahlreiche Möglichkeiten miteinander kombinieren kann. 

Gehirnforschung

Gehirnwellen sind Spannungsschwankungen im Gehirn. Sie können mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG), einer Methode der neurologischen Forschung, sichtbar gemacht werden. Aufgrund der Frequenzen unterscheidet man fünf Kategorien: Gamma, Beta, Alpha, Theta und Delta. 
Gammawellen haben die höchste Frequenz. Sie wurden als letzte entdeckt und sind daher noch nicht ausreichend untersucht. Forscher bringen sie in Zusammenhang mit Höchstleistungen und hohem Informationsfluss.


Nota.

Der Versuch macht den Vorgang sichtbar, den Kant als transzendentale Synthesis* beschreibt: Das Mannigfaltige der sinnlichen Wahrnehmung wird zu sinnhaften Einheiten zusammengefügt. "Wie entscheidet das Gehirn, was in einer Situation wichtig und sinnvoll ist?" Es sortiert nicht etwa nachträglich, nach Empfang alle 'einzelnen' Sinnesreize, evaluiert sie und fügt sie dann zusammen. Sondern es hat vorab eine 'Intention', auf die hin es die 'Einzelheiten' schon gruppiert hat, wenn sie bei ihm 'einlaufen'.

Nicht die empirische Forschung muss die Transzendentalphilosophie 'bestätigen'. Wozu wäre das gut? Umgekehrt: Die Transzendentalphilosophie gibt der empirischen Forschung einen Hinweis, in welche Richtung sie weitersuchen soll; nicht etwa: Wo sie etwas finden kann, sondern: Wonach sie überhaupt ausschauen soll. Die bildgebenden Verfahren der Hirnforscher können immer nur zeigen, was passiert; aber nicht, was es bedeutet. Beweisen können Hirnforscher und Transzendentalphilosophen einander gar nichts.

Zur Erläuterung: Hätten die empirischen Daten angezeigt, dass es im Gegenteil genau so zugeht: Sinnesreize kommen im Gehirn einzeln an, werden dort begutachtet und nach irgendwelchen (?!) Gesichtpunkten zu distinkten Einheiten gefügt - dann käme der Transzendentalphilosoph in Verlegenheit und müsste nochmal gründlich nachdenken. Mehr nicht.

*) Dass diese Synthesis offenbar stattfindet, ist der einzige Grund, weshalb Kant ein transzendentales Ich als deren Agenten annimmt. Eine andere 'Existenz' führt das transzendentale oder absolute Ich - das "Ich der Philosophen", wie mancher Hirnforscher sagt - gar nicht; keine Wunder also, dass es sich im Gehirn nicht lokalisieren lässt. Man erkennt es nur in und an seiner Leistung.

JE