Donnerstag, 7. Juni 2018

Marx und andere Materialisten.

hylê, materia, madera 
aus derStandard.at, 5. Juni 2018,

Terry Eagletons "Materialismus": 
Zeichenfetischisten aufgepasst!
Der Lehrer an der Uni Lancaster bringt drei höchst unterschiedliche Denker unter ein- und dieselbe Schirmkappe  

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Während vieler Jahrzehnte galten Materialisten als rückständige Traditionswahrer. Der Poststrukturalismus und seine Ableger dominierten das Feld. Noch heute, schreibt Terry Eagleton, müsse Materie vielfach "vor ihrer Schmach bewahrt werden, Materie zu sein". Materie ist das Opake, das Untätige und Widerständige.

Zaghafte Versuche, die Ehre der Materie als Gegenstand der Philosophie zu retten, hüllen die Widerspen- stigen der Einfachheit halber in luftige, in poststrukturalistische Gewänder. Materialität muss dann mehr sein als sie selbst, ein "Übermaß".

Gefordert wird daher von manchen Kulturalisten ein "erneuerter Materialismus, der vor allem als Signifi- kation und Subjekt-im-Werden definiert wird". Eagleton, der angelsächsische Weise unter Europas linken Denkern, hat für solche Überspanntheiten einen knappen Kommentar übrig: Ebenso könnte man "die er- neuerte Idee eines Nashorns fordern, das vorrangig als Hase definiert wird".

Im laufenden Karl-Marx-Jahr (200. Geburtstag) tut es Not, auf die materiellen Grundlagen unserer sozio- kulturellen Angelegenheiten hingewiesen zu werden. Eagleton, der 75-jährige Lehrer an der Uni Lancaster, bringt in seiner famosen Schrift Materialismus – Die Welt erfassen und verändern drei höchst unterschied- liche Denker unter ein- und dieselbe Schirmkappe.

Er vergisst nicht, auch die zweifelhafteren Quellen des "dialektischen Materialismus" namhaft zu machen, z. B. den Marx-Freund Friedrich Engels. Denn wenig bis gar nichts scheint mit dem Aufweis gelungen, dass die Welt "ein dynamischer Komplex ineinandergreifender Kräfte" sei, "in dem alle Phänomene", wie vermittelt auch immer, "zusammenhängen".

Alles ist ständig dabei, sich in sein Gegenteil zu verkehren. Wirklichkeit entwickelt sich durch die Einheit widerstreitender Gewalten. Eagletons Skepsis warnt vor allzu schematischen Annahmen. Sie äußert sich in Sätzen wie: "Es gibt wenig Gemeinsamkeiten zwischen dem Pentagon und einem plötzlichen Anstieg sexueller Eifersucht, außer, dass beide nicht Fahrrad fahren können."

Marx als Verbündeter

Eagleton sucht andere, durchaus überraschende Verbündete für seine These, es sei die Antiphilosophie, die unser Gerede von der Geist-Leib-Problematik zum Verschwinden bringt. Er landet bei Marx, um die welt- erschaffende Tätigkeit des Menschen – die Arbeit – als das zu klassifizieren, was sie ist: materielles Han- deln. Zu ihm ist der Mensch verdammt. Es liegt allen anderen, eher kulturellen Vorstellungen zugrunde, denn selbst die Gegenstände der einfachsten (sinnlichen) Gewissheit "sind nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben" (Marx).

Verblüffender sind die beiden anderen Kronzeugen, die Eagleton gegen die Übermacht heutiger Kultura- listen und Zeichenfetischisten aufbietet. Der Theoretiker sucht Zuflucht bei Ludwig Wittgenstein und Friedrich Nietzsche. Das ist etwa so kurios, als wollte man Veganer augenzwinkernd zum Verzehr blutiger Koteletts überreden.

Glänzende Beweisführung

Eagleton gelingt die Beweisführung glänzend. Das Lebendige, Kreatürliche bildet ein Substrat dessen, was uns zur Auffassung und Veränderung der uns umgebenden Welt in besonderer Weise befähigt – und nicht etwa behindert. Nietzsches Rehabilitierung der uns angeborenen Instinkte ist (abseits seiner Faszination durch die bloße "Macht") ein eindrucksvoller Beleg für die materielle Grundlegung jeder Kultur.

Wittgenstein hingegen besaß ein lebhaftes Bewusstsein für den Marx-Ausspruch, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Seine späte Sprachphilosophie zollt dieser Einsicht bereitwillig Tribut. Unsere mannigfaltigen Arten zu sprechen sind mit unseren Lebensformen verbunden. Diese bilden das Substrat unserer Annahmen, Praktiken, Traditionen und natürlichen Neigungen, die Menschen als soziale Wesen miteinander teilen. Dieser Konsens ist der von ihnen gesprochenen Sprache notwendig vorausge- setzt, und er macht, dass wir einander verstehen.

Über viele Widersprüche hat sich Wittgenstein mokiert, indem er sie als Schein-Widersprüche klassifi- zierte, gewachsen auf dem Mist der Sprache und deren notorischer metaphysischer Heimtücke. Interes- santer noch scheint das Projekt eines Linken wie Eagleton, sich im Kampf mit Kulturalisten und anderen Relativierern der Zeugenschaft von Aristokraten (Wittgenstein) und Bilderstürmern (Nietzsche) umso nachdrücklicher zu versichern.

Mag Nietzsche auch mit dem Hammer philosophiert haben, Eagleton gebraucht deshalb nicht Hammer und Sichel. Eher schon legt er dem Leser ein Angebot. Er erinnert daran, dass die (verpönte) Philosophie nicht "außer der Welt" steht (Marx), sondern bis in die Tiefen menschlicher Somatik hinabreicht: "so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt."

Aber im Neoliberalismus, der so tut, als ob alle Probleme vom Markt gelöst würden, drückt ohnehin schon genug auf den Magen. Eagletons Essay, im englischen Original bereits 2016 erschienen, bildet gedanken- reiches Labsal und feit vor Illusionen. 

Terry Eagleton, "Materialismus. Die Welt erfassen und verändern". Aus dem Englischen von Stefan Kraft. € 17,90 / 176 Seiten. Promedia, Wien 2018


Nota. - Den kann ich locker überbieten. Ich habe die Inkarnation des Idealismus, den zu allem Überfluss "subjektiven" Idealisten Johann Gottlieb Fichte enttarnt, denn entgegen landläufiger Lesart hat der das handfest sinnliche Materielle zu Ursprung und Bedingung alles Geistigen erklärt. Sie glauben mir nicht? Dann lesen Sie einfach nach:


Merke: Der Gegensatz zum Materialismus ist nicht der Idealismus, sondern der Spiritualismus. Sie sind die beiden möglichen Antworten auf die metaphysische Frage nach dem 'Stoff, aus dem die Welt gemacht ist'. Der Materialist sagt, die Welt bestünde aus Dingen im Raum - res extensae -, während der Spiritualist den Geist - spiritus - jenseits von Raum und Zeit als das eigentliche Material der Welt ansieht. 

Dem Idealismus entgegen steht der Realismus. Sie sind die beiden möglichen Antworten auf die Frage, wo- her unser Wissen kommt. Der Realist sagt: von den Dingen - lat. res -, die ihre Eigenschaften gewissermaßen in unsere Wahrnehmung einprägen; während der Idealist sagt: aus unserem Sehen - gr. ìdein - selbst, das kein passives Ab bilden ist, sondern ein projektives Hinein bilden. Der Unterschied ist der: Im ersten Fall liegt die Washeit - qualitas -  der Dinge in ihnen selbst; im zweiten Fall liegt er 'im Auge des Betrachters'.

Ein Zusammenhang besteht nicht vorne-, sondern nur hintenrum. Der Realist mag Materialist oder Spiritu- alist sein: Das Was der Dinge läge in ihnen selbst begründet und könnte sich ungeniert 'einprägen'. Der Rea- list ist Dogmatiker: Er glaubt daran, dass es ein Ansich der Dinge gäbe, das hinter ihrer Erscheinung liegt und unserm Denken lediglich nicht zugänglich ist.

Der Idealist kann jedenfalls kein Spiritualist sein: Ein Sein, das nicht wahrnehmbar wäre, weil es in Raum und Zeit nicht erscheint, ist nach seiner Prämisse nicht vorstellbar: Für den Idealisten kann es jenseits des Wahrnehmbaren nichts geben. Materialist im vordergründigen Sinn kann ere freilich auch nicht sein: Die Frage nach einem Ansich hinter der Erscheinung ist für ihn ohne Sinn. Was nicht erscheint, kann nicht an- geschaut werden, und was nicht angeschaut werden kann, ist nicht wirklich. 'Begriff ohne Anschauung ist leer.' 

Wie aber ist es mit 'dem Geistigen'? Das kann angeschaut werden. Denn es erscheint durchaus. Ein Geistiges 'gibt es' nicht anders als im wirklichen Handeln wirklicher Menschen in Raum und Zeit. Es 'erscheint' als Zweck

*

Im übrigen kann man nur begrüßen, dass im Stammland von begriffsfernem Pragmatismus und begriffsfeti- schistischer Analytischer Philosophie ein so beherzt kontinentaler Denker die Stimme erhebt.

JE 

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