aus derStandard.at,15. Mai 2018, 12:36
Substantive
verlangsamen den Redefluss, Verben dagegen kaum
Laut Linguisten sind Substantive schwieriger zu planen, weil sie meist
neue Informationen beinhalten
Zürich/Amsterdam – Wenn wir sprechen, sprechen wir unbewusst einige
Wörter langsamer aus als andere. Manchmal machen wir kurze Pausen oder
werfen Laute wie "Äh" ein. Solche Verlangsamungseffekte liefern wichtige
Hinweise darauf, wie unser Gehirn die Sprache verarbeitet. Sie weisen
auf Schwierigkeiten bei der Planung der Äußerung eines bestimmten Wortes
hin. Nun zeigt sich, dass wir solche Unterbrechun- gen im Redefluss
vermehrt vor Substantiven einfügen. Vor Verben hingegen gibt es viel
weniger Verlangsa- mung und Pausen, wie Forscher der Universität Zürich um
Balthasar Bickel gemeinsam mit Kollegen der Universität Amsterdam
herausfanden.
Die Wissenschafter untersuchten, wie Verlangsamungseffekte in
verschiedenen Sprachen funktionieren und analysierten dafür tausende
Sprachaufnahmen von sprachlich und kulturell verschiedenen
Bevölkerungs- gruppen aus aller Welt. Darunter waren Sprachen aus dem
Amazonas-Regenwald, aus Sibirien, dem Hima- laja und der Kalahari-Wüste,
aber auch Englisch und Niederländisch. Die Linguisten maßen die
Äuße- rungsgeschwindigkeit in Lauten pro Sekunde und stellten fest, ob die
Sprecherinnen und Sprecher entweder vor Substantiven wie "Freund" oder
Verben wie "gehen" eine kurze Pause einlegten.
Schwerer planbare Substantive
Sie entdeckten, dass es in dieser vielfältigen Auswahl an Sprachen eine
starke Tendenz gab: Während die Sprecher vor Substantiven häufiger Pause
machten, taten sie dies vor Verben kaum. Der Grund dafür ist, dass
Substantive schwieriger zu planen sind, weil sie normalerweise nur
verwendet werden, wenn sie neue Informationen beinhalten. Andernfalls
werden sie durch Pronomen ersetzt oder weggelassen.
Solche Ersetzungsprinzipien gelten hingegen nicht für Verben. Sie werden
in der Regel unabhängig davon verwendet, ob sie neue oder alte
Informationen darstellen, wie die Wissenschafter in der Fachzeitschrift
"PNAS" berichteten. Sie stellten zudem fest, "dass Englisch, auf dem die
meisten Forschungen basieren, das außergewöhnlichste Verhalten in
unserer Studie zeigt", wurde Bickel in einer Mitteilung der Uni Zürich
zitiert. Daher sei es wichtig, bei solchen Untersuchungen mehrere
Sprachen zu berücksichtigen, etwa auch kleinere, gefährdete Idiome aus
der ganzen Welt.
Wie das Gehirn Sprache verarbeitet
Die Befunde helfen laut den Autoren, zu verstehen, wie das menschliche
Gehirn Sprache verarbeitet. Dies könnte angesichts der
Herausforderungen, vor denen die sprachliche Kommunikation im digitalen
Zeitalter steht, wichtige Aufschlüsse liefern. So kommunizieren die
Menschen mehr und mehr mit künstlichen Systemen – Systemen, die vor
Substantiven nicht verlangsamen, wie es der Mensch natürlicherweise tut.
(APA, red.)
Abstract
PNAS: "Nouns slow down speech across structurally and culturally diverse languages."
Nota. - Die nächstliegende Vermutung: Wer zum nominalen Stil neigt, denkt mehr nach. Gleich anschlie- ßende Vermutung: Sprachen, die - wie die Abkömmlinge des Lateinischen - die Nomina privilegieren, erziehen zum Überlegen.
Aber das liegt zu nahe, um es ungeprüft zu lassen. Denn der Widerpart zum Reden ist das Verstehen. Deut- lich wird es an Sprechen, die, wie das Deutsche, die Nomina deklinieren: Das deklinierte Nomen steht zu andern Nomina im Verhältnis, und zwar in einem hierarchischen; das eine ist dem andern vor- oder überge- ordnet. Bei deklinierenden Sprachen liegt die Mühe der Festlegung beim Sprecher. Bei nicht deklinierenden Sprachen liegt die Entschlüsselung beim Hörer. Was ist mühseliger?
Tun wir einen Schritt zurück. Nomina heißen im Deutschen vorzugsweise Substantive. Da steckt die Sub- stanz drin, das, was der (wechselhaften) Erscheinung - der Form - (dauerhaft) zu Grunde liegt. Eine mit Substantiven getrüffelte Sprache vermittelt ein Weltbild: eines, das von statischen Wesenheiten, von Be- stimmtem und Währendem geprägt ist. Vermitteln tun sie sich untereinander und ganz von allein: durch Deklination.
Im Französischen etwa kann man verschachtelte Bandwurmsätze schreiben, in denen es von Substantiven wimmelt - und die ganz am Schluss lediglich von einem Hilfsverb - être oder avoir - zusammengehalten werden. Die hierarchische Ordnung der Nomina gerät ins Schwimmen, was sie jeweils einzeln bedeuten sollen, wird völlig unklar. Der nominale Stil spiegelt eine Beständigkeit vor, die es gar nicht gibt.*
Sprachen wie das Deutsche und wohl alle andern germanischen Sprachen, die mehr auf den Zeitwörtern aufbauen, sind erstens dynamischer und stellen zweitens statt der Substantive die Handlungen und eo ipso die Handelnden in den Vordergrund. Es gibt weniger feste Größen, bloßes Wiederkennen reicht nicht, man muss sich aktiv immer selber etwas vorstellen. An Präzision bleibt viel zu wünschen, oftmals müssen latei- nische Fremdwörter - Substantive - den germanischen Sprachen unter die Arme greifen. Aber das ist kein Problem - solange es nicht zu viele sind.
*) Der Philosoph J. G. Fichte gilt wegen seiner Reden an die deutsche Nation als geistiger Vater des deut- schen Nationalismus. Allerdings handelten sie nicht vom Aufstand gegen Napoleon, sondern von einem nationalen Erziehungprogramm. Die Deutschen wären nämlich noch keine Nation, sondern müssten sich dazu erst bilden. (Statt einen Begründer des deutschen Nationalismus, müsste man Fichte eher den Vater der deutschen Bildungsidee nennen.)
Die Hauptrolle maß er dabei der Sprache bei. Denn nicht ethnisch hielt er Deutsche und Franzosen für unter- schieden: Die Franzosen seien die Nachkommen der Franken und also ursprünglich selber ein deutscher Stamm. Der Unterschied bestünde nur darin, dass sie im Laufe der Geschichte eine "neulateinische", nämlich französische Sprache angenommen hätten. Er hielt das zeitwörtliche dynamische Deutsche dem nominalen statischen Französisch für überlegen - aber auch dies nur zeitbedingt: Seit Langem habe Französisch in Euro- pa dominiert und die einheimischen Sprachen unter Napoleon vollends an die Wand gedrückt, da sei es Zeit, gegenzusteuern. - Später, unter veränderten Umständen, könnte sich das Verhältnis aber durchaus auch um- kehren...
JE
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