Montag, 7. Mai 2018

Das Gehirn kartieren.

aus derStandard.at, 6. Mai 2018, 10:00

Das Ziel ist eine Landkarte des Gehirns
Wiener Wissenschaftern gelang ein kleiner Schritt: Sie entwickelten ein Verfahren für das Aufspüren bestimmter neuronaler Netzwerke

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Es schläft nie wirklich. Bestimmte Bereiche mögen ihre Aktivität zeitweilig herunterfahren, doch irgendwo im Labyrinth der über 80 Milliarden Neuronen herrscht immer reger Betrieb. Ständig kommunizieren Nervenzellen miteinander. Elektrische Impulse eilen Axonen entlang, an den Synapsen sorgen diverse Botenstoffe für die Signalübertragung. Träume, Gedanken, Erinnerungen oder auch die zentrale Steuerung von Körperfunktionen – alles, was im Inneren unserer Köpfe vor sich geht, lässt sich zumindest theoretisch in chemische und physikalische Formeln fassen. Gelingen will dies allerdings noch nicht. Das Gehirn ist nach wie vor eines der größten Rätsel der Wissenschaft. Und so schnell wird sich das wohl auch nicht ändern.

Selbstverständlich gibt es Fortschritte. Eine Reihe von Forschungsinitiativen arbeitet seit Jahren daran, die funktionelle Struktur des Gehirns zu kartieren. Bei Mäusen ist dies bereits weitgehend gelungen. Der "Allen Mouse Brain Atlas" ermöglicht schon heute detaillierte Einblicke in die Schaltkreise von Nagerhirnen (vgl.: Nature, Bd. 508, S. 207). Gleichzeitig gelingt es Fachleuten, die genetische Aktivität von Nervenzellen zu entschlüsseln. Diese wiederum ist die Basis für das Zusammenspiel der Botenstoffe, auch Neurotransmitter genannt. "Es gibt immer mehr Daten", erklärt der Biochemiker Wulf Haubensak vom Institut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien. Der große Überblick allerdings fehlt. Die Informationen müssen zusammengeführt werden, betont Haubensak im Gespräch. Sonst komme man in der Forschung nicht weiter.

Informationen zusammenführen

Der IMP-Forscher hat sich diesen Brückenschlag zur Aufgabe gemacht. Gemeinsam mit Kollegen des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), des Wiener Zentrums für Virtual Reality und Visualisierung (VRVis) und der Universität Erlangen sucht er nach neuen Möglichkeiten zur schnellen und auch kostengünstigen Erfassung neuronaler Netzwerke. Die Wissenschafter setzen dabei nicht auf eigene Laboruntersuchungen, sondern nutzen die bereits vorhandenen und im Netz frei verfügbaren Datenmengen. Eigentlich könnte das jeder machen, meint Haubensak. Vorausgesetzt natürlich, man verfügt über das notwendige Hintergrundwissen und eine leistungsfähige Computerausstattung. Biohacking am Bildschirm eben.

Ihren ersten bedeutenden Erfolg können die Experten nun verbuchen. Sie entwickelten einen Algorithmus, mit dessen Hilfe sich die unterschiedlichen Hirndaten sinnvoll verknüpfen lassen. Zum einen sind da die bereits erwähnten Genexpressionen und die Wechselwirkungen der so produzierten Neurotransmitter: Auf der anderen Seite stehen die Konnektome, die netzwerkartigen Verbindungen zwischen den Nervenzellen.

Von Gengruppen gesteuert

Die Grundidee ist, dass diese Geflechte von funktionellen Gengruppen gesteuert werden, sagt Haubensak. Es gilt also herauszufinden, welche Erbgut-Codes welche Netzwerke prägen, mitunter auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Ein Puzzle von schier unfassbarer Komplexität, nur lösbar mit modernster Technik.

Der Algorithmus analysiert die gewichtete Genaktivität in einzelnen, räumlich erfassten Gehirnbereichen und vergleicht diese mit den Werten anderer Areale. Die Stärke der ein- und ausgehenden Signale spielt dabei eine ganz zentrale Rolle. Die Ergebnisse werden als dreidimensionale Funktionseinheiten dargestellt. So zeigt sich zum Beispiel, in welchen Hirnregionen jene mit Angstzuständen verbundenen Botenstoffe verstärkt auftreten. Eine detaillierte Beschreibung des Verfahrens wurde im heurigen Jahr im Fachmagazin NeuroImage (Bd. 170, S. 113) veröffentlicht.

Ein wesentlicher Aspekt des neuen Ansatzes ist die Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen den Genen. Das Gehirn funktioniert nur über solche Synergien, wie Wulf Haubensak erläutert. Mit anderen Worten: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Die Praxistauglichkeit ihrer Methode testeten die Forscher anhand bereits bekannter Schaltkreise. Sie fütterten ihr Programm unter anderem mit Daten über die genetische Steuerung des Sozialverhaltens von Mäusen. Die ermittelten Ergebnisse decken sich bestens mit der Realität. Ob der Algorithmus das Gehirn eines Menschen oder eines Nagers analysiert, macht dabei freilich keinen Unterschied. Von der Grundstruktur her sind alle Säuger gleich.

Perspektiven für die Medizin

Die Erstellung detaillierter neuroanatomischer "Landkarten" bietet nicht nur der Grundlagenforschung, sondern auch der Medizin hochinteressante Perspektiven. Zukünftig könnte das Verfahren zu einem besseren Verständnis der Ursachen von psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen oder autistischen Störungen führen. Es ließe sich vergleichen, inwiefern sich Gengruppen und einzelne Allele, sprich Erbanlagen, hinsichtlich ihrer Aktivität in den Hirnregionen von Betroffenen und Gesunden unterscheiden.

Ein Hemmnis gibt es dabei dennoch: "Das sind alles nur Vorhersagen", betont Haubensak. Am Computerbildschirm lassen sich lediglich Prognosen treffen, die anschließend experimentell verifiziert werden müssen. Der Algorithmus zeigt, wo man im Gehirn genauer hinschauen sollte, wo sich der Grund für eine Verhaltensänderung möglicherweise versteckt. Für einen tatsächlichen Nachweis ist nach wie vor die Laborarbeit gefragt – analog und lebensecht

Abstract
NeuroImage: "Predicting functional neuroanatomical maps from fusing brain networks with genetic information"

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