aus derStandard.at, 29. Mai 2018, 06:00
Newtons größter Fehler war, absichtlich kompliziert zu schreiben
Der große wissenschaftliche Revolutionär vertrug Kritik schlecht. Er schrieb "absichtlich verworren", um Leser abzuschrecken – eine wissenschaftliche Unverantwortlichkeit
von Florian Freistetter
Im Jahr 1987 entdeckte der Physikstudent Robert Garisto von der Universität Chicago einen Fehler in einem der einflussreichsten Werke der Naturwissenschaft: dem 300 Jahre zuvor veröffentlichten Buch "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica", den "Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie" von Isaac Newton.
Das, was Newton in diesem Buch der Welt verkündete, hat die moderne Naturwissenschaft gewissermaßen erst begründet. Es ging darin um weit mehr als "nur" um die Formel zur Berechnung der Gravitationskraft. Nicht umsonst nannte er den dritten Band "De mundi systemate", also das "System der Welt". Es war tatsächlich eine in ihrer Allgemeingültigkeit beispiellose Arbeit.
Universeller Durchbruch
Newton zeigte nicht nur, dass man die zwischen zwei Objekten wirkende Gravitationskraft mathematisch berechnen konnte. Seine wirklich große Leistung lag im Nachweis der Universalität dieser Kraft. Die gleichen Gesetze, die die Bewegung der Himmelskörper im Universum bestimmten, galten auch für den Fall eines Apfels oder den Flug einer Kanonenkugel. Die gleiche Kraft war verantwortlich für die Gezeiten, die Form der Erde und die Schwankung der Erdachse. Isaac Newton zeigte der Welt, dass der Kosmos von allgemeingültigen Naturgesetzen bestimmt wird – und dass es möglich ist, diese Gesetze mathematisch zu beschreiben und anzuwenden.
Für diese Leistung gilt er zu Recht als einer der größten Wissenschafter aller Zeiten. Das ändert aber nichts am Befund des Physikstudenten aus dem Jahr 1987: Newton hatte sich verrechnet. Um die Leistungsfähigkeit seiner Theorie zu demonstrieren, berechnete Newton unter anderem Masse und Dichte der Planeten. Dafür waren astronomische Beobachtungsdaten nötig; unter anderem die scheinbare Größe der Erde, von der Sonne aus betrachtet. Laut Newton betrug dieser Wert 10,5 Bogensekunden, in seiner Rechnung verwendete er aber elf Bogensekunden.
Unentdeckt über Jahrhunderte
Vermutlich hatte Newton einfach nur irgendwo bei seinen Rechnungen eine falsche Zahl aufgeschrieben oder zwei Zahlen durcheinandergebracht. Und vermutlich ist dieser Fehler unbemerkt in der endgültigen Version des Buches gelandet. Das ist weder besonders außergewöhnlich noch verwerflich. Man wird kaum ein Buch finden, das keine Druck- oder Tippfehler enthält. Abgesehen davon war Newtons Fehler auch nicht sonderlich tragisch. Seine großen Entdeckungen und seine beeindruckende Beschreibung des Kosmos werden dadurch nicht beeinflusst (und außerdem wissen wir dank der heute viel besseren Instrumente, dass der korrekte Wert sowieso weder 10,5 noch elf Bogensekunden beträgt, sondern 8,8).
Genau das ist aber bei den "Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie" nicht der Fall – zumindest nicht in dem Maße, wie es der Bedeutung des Werkes angemessen wäre und wie es auf ähnlich einflussreiche Bücher zutrifft.
"Die Entstehung der Arten" von Charles Darwin etwa findet man immer noch überall in den Buchhandlungen, und bis heute erscheinen neue Ausgaben und Übersetzungen. Auch wenn sich die Biologie seit damals massiv weiterentwickelt hat und vieles aus Darwins Werk veraltet ist, ist sein Buch immer noch eine interessante und spannende Lektüre.
"Kleine mathematische Stümper"
Die Theorien von Isaac Newton hingegen lehrt man zwar in der Schule und auf der Universität, den Originaltext der "Principia Mathematica" liest aber so gut wie keiner. Das liegt vor allem daran, dass Newtons Buch kaum lesbar ist und auch nie lesbar sein sollte. "Denen, die sich nicht ausreichend mit den Grundlagen vertraut gemacht haben, fällt es schwer, die Stärke der Argumente zu verstehen oder die Vorurteile abzulegen, an die sie viele Jahre lang gewöhnt waren. Um daraus entstehende Debatten zu vermeiden, habe ich mich entschieden, den Inhalt des Buches auf die mathematischen Theoreme zu reduzieren, die von denen gelesen werden sollen, die sich schon ausreichend mit den Grundlagen beschäftigt haben." Das schreibt Newton selbst in der Einleitung zum dritten Band seines Werks.
Newton war bekannt dafür, keine Kritik zu vertragen. Deswegen publizierte er seine Arbeiten nur zögerlich und wenn, dann wie in diesem Fall auf eine Art, die möglichst viele Leser abschreckt. Der Naturphilosoph William Derham schrieb in einem Brief aus dem Jahr 1733, Newton habe ihm erzählt, er habe sein Buch "absichtlich verworren" gemacht, um zu vermeiden, "dass kleine mathematische Stümper auf ihm herumhacken" könnten. Und tatsächlich ist Newtons Werk viel komplizierter, als es sein müsste. Mit dem mathematischen und physikalischen Wissen, das Newton sich mühsam erarbeitet hatte, hätte es viel einfacher formuliert werden können. Aber Newton wollte nicht verstanden werden – und deswegen blieb (und bleibt) eines der wichtigsten Werke der Naturwissenschaft über Jahrhunderte hinweg für die große Mehrheit der Menschen unzugänglich.
Schlechtes Vorbild
Genau das ist der eigentliche Irrtum Newtons, um den es in dieser ganzen Geschichte geht, nicht der simple Rechenfehler (von denen sich in seinem Buch noch einige mehr finden), sondern der Verzicht darauf, seine revolutionären Gedanken auf eine Art und Weise zu formulieren, die allen zugänglich ist – und nicht nur denjenigen, die sich durch die verworren-mathematische Sprache seines Werks kämpfen.
Natürlich haben im Lauf der Zeit viele andere die Gelegenheit ergriffen und Newtons Theorien allgemeinverständlich dargelegt. Aber mit seiner Geringschätzung dafür, was wir heute "Öffentlichkeitsarbeit" nennen, kann Newton nur als schlechtes Vorbild für alle Forscherinnen und Forscher dienen. Die genialste Entdeckung ist nichts wert, wenn sie nicht kommuniziert wird. Das gilt heute noch viel mehr als damals.
Mittlerweile leben wir in einer Welt, die von den Erkenntnissen der Forschung und Technik so stark geprägt ist wie nie zuvor. Wir sollten uns bemühen, die Welt zu verstehen, in der wir leben. Unverständnis führt zu Ignoranz, und die führt haufenweise zu Problemen. Die Kommunikation der Forschung ist ebenso wichtig wie die Forschung selbst, sie sollte daher im Wissenschaftsbetrieb einen ebenso großen Stellenwert haben. Dass das immer noch nicht der Fall ist, ist ebenso unverantwortlich wie Isaac Newtons selbstgewählte Unverständlichkeit.
Nota. - Dass Newton kein Vertrauen in die Scientific Community seiner Zeit hatte, ist ganz unverständlich nicht. Die Universitäten standen noch unter der Vormungschaft der Theologie, die erste rein weltliche Gelehrtengesellschaft, die Académie française, war erst 1630 und seine eigene Royal Society gar erst 1660 gegründet worden, und die Leibniz'sche Sozietät der Wissenschaften in Berlin folgte erst 1700. Aber außerdem genügte es ihm völlig, selbst ein großer Geist zu sein, und für die Wissenschaft fühlte er sich nicht verantwortlich. Er war wohl überhaupt ein sehr unerfreulicher Zeitgenosse.
JE