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Lesen krempelt unser Gehirn um
Das Lesenlernen verändert selbst evolutionär alte Hirnareale
Tiefgreifende Umstrukturierung: Wenn wir lesen lernen, verändert dies unser Gehirn auf überraschend fundamentale Weise. Denn nicht nur die Sprach- und Sehzentren im Cortex wandeln sich dadurch, auch evolutionär alte Hirnareale wie der Hirnstamm und der Thalamus sind beteiligt. Die komplexe Aufgabe des Lesenlernens hinterlässt damit tiefgreifenden und dauerhafte Spuren in unserem Gehirn, wie Forscher im Fachmagazin "Science Advances" berichten.
Das Lesen ist eine der größten Errungenschaften der menschlichen Kultur – und eine mentale Herausfor- derung. Der Mensch benötigt meist Monate, manchmal Jahre des Übens, um lesen zu lernen. Ein möglicher Grund: Weil die Schrift erst vor wenigen tausend Jahren erfunden wurde, hat unser Gehirn noch keine Zeit gehabt, ein eigenes Lesezentrum zu entwickeln. Stattdessen muss es andere Hirnareale umfunktionalisie- ren.
Blick ins Gehirn beim Lesenlernen
Was sich jedoch beim Lesenlernen im Gehirn verändert, war bisher nur in Ansätzen bekannt. "Bisher ging man davon aus, dass sich diese Veränderungen lediglich auf die äußere Großhirnrinde beschränken", berichtet Studienleiter Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen. So werden unter anderem Hirnareale für die Gesichtserkennung zur Erkennung der Buchstaben genutzt und es bilden sich Schnittstellen zwischen Seh- und Sprachzentrum.
Doch was darüber hinaus im Gehirn geschieht, haben Huettig und seine Kollegen erst jetzt aufgeklärt. Für ihre Studie brachten sie 21 indischen Analphabetinnen sechs Monate lang das Lesen und Schreiben bei. Vor, während und nach dieser Phase untersuchten die Forscher ihre Ruhe-Hirnaktivität mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT).
Wandel selbst im "Reptilienhirn"
Das erstaunliche Ergebnis: Das Lesenlernen verändert keineswegs nur die Funktion der Großhirnrinde wie bisher angenommen. Stattdessen werden durch diesen Lernprozess Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen – und damit in evolutionär sehr alte Hirnteile.
Unser Gehirn ist demnach auch im Erwachsenenalter noch zu massiven funktionellen Umstrukturierungen fähig. Der Aufgabe des Lesenlernens hinterlässt ihre Spuren nicht nur im flexiblen Neocortex, sondern auch in den Hirnteilen, die wir mit den Reptilien teilen. "Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit eindrucksvoll unter Beweis", sagt Huettig.
Synchrones Feuern hilft beim Lesen
Wie die Forscher beobachteten, passen bestimmte Areale im Hirnstamm und im Thalamus ihre Aktivitätsmuster im Laufe der Zeit enger an die Feuerrate der Sehzentren in der Großhirnrinde an. Sie übernehmen damit offenbar Assistenzaufgaben beim Entziffern der Schrift. Je synchroner diese Hirnareale zusammenarbeiteten, desto besser konnten die Probandinnen am Ende lesen.
"Die Thalamus- und Hirnstammkerne helfen unserer Sehrinde dabei, wichtige Informationen aus der Flut von visuellen Reizen herauszufiltern noch bevor wir überhaupt bewusst etwas wahrnehmen", erklärt Erstautor Michael Skeide vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.
Er vermutet, dass die Areale am Hirnstamm zudem die Augenbewegungen koordinieren helfen, mit denen wir die Buchstaben fixieren. "Auf diese Weise können geübte Leser vermutlich effizienter durch Texte navigieren", so Skeide.
Hinweise auf Ursachen der Legasthenie?
Die Studie könnte auch ein neues Licht auf die Lese-Rechtschreib-Schwäche werfen. Denn bisher können Forscher nur darüber spekulieren, warum manche Kinder eine Legasthenie entwickeln und was dabei im Gehirn geschieht. Bekannt ist, dass das Gehirn der Betroffenen sich weniger gut an bereits bekannte visuelle und akustische Reize anpasst. Außerdem weiß man, dass es eine genetische Komponente gibt.
Forscher vermuten zudem, dass auch eine angeborene Fehlfunktion im Thalamus eine Rolle spielen könnte. Angesichts der jetzt festgestellten Plastizität dieser Areale bezweifeln Skeide und seine Kollegen dies jedoch. "Da wir nun wissen, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetrainings so grundlegend verändern kann, muss diese Hypothese neu hinterfragt werden", so Skeide. Mehr dazu wollen sie nun in einer mehrjährigen Studie herausfinden. (Science Advances, 2017; doi: 10.1126/sciadv.1602612)
(Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, 26.05.2017 - NPO)
Verena Müller
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
Lesen ist eine derart junge kulturelle Errungenschaft, dass im Gehirn noch kein eigener Platz für sie vorgesehen ist. Während wir lesen lernen, werden daher Hirnregionen umfunktioniert, die bis dahin für andere Fähigkeiten genutzt wurden. Wissenschaftler der Max-Planck-Institute in Nijmegen und Leipzig haben herausgefunden, dass sich das Gehirn dabei so grundlegend verändert, dass sich selbst evolutionär sehr alte, tiefverborgene Strukturen an die neue Herausforderung anpassen. Zu diesen Erkenntnissen gelangte das Team anhand einer großangelegten Studie in Indien, in der Analphabetinnen sechs Monate lang lesen und schreiben lernten.
Lesen ist evolutionär gesehen eine derart junge Fähigkeit, dass sie sich noch nicht spezifisch genetisch verankert haben kann. Das heißt, es kann im Gehirn nicht das „Leseareal“ geben. Im Zuge des Lesenlernens muss es daher zu einer Art Recyclingprozess im Gehirn kommen: Hirnareale, die eigentlich von der Evolution für die Erkennung komplexer Objekte wie Gesichtern konzipiert waren, werden nun durch die Fähigkeit besetzt, Buchstaben in Sprache zu übertragen. Dadurch entwickeln sich einige Regionen unseres visuellen Systems zu Schnittstellen zwischen unserem Seh- und Sprachsystem.
„Bisher ging man davon aus, dass sich diese Veränderungen lediglich auf die äußere Großhirnrinde beschränken, die bereits dafür bekannt war sich schnell an neue Herausforderungen anpassen zu können“, so Studienleiter Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. Das internationale Forscherteam hat nun gemeinsam mit indischen Wissenschaftlern des Center of Bio-Medical Research (CBMR) Lucknow und der Universität Hyderabad erstmals in einer umfassenden Studie mit erwachsenen Analphabetinnen beobachtet, was sich im erwachsenen Gehirn verändert, während wir lesen und schreiben lernen – und erstaunliches herausgefunden: Anders als bisher angenommen werden durch diesen Lernprozess Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen. Im Vergleich zur verhältnismäßig sehr jungen Schrift des Menschen verändern sich also Regionen, die evolutionär gesehen recht alt sind - und selbst bei Mäusen und anderen Säugetieren bereits vorhanden sind.
„Wir haben beobachtet, dass die sogenannten Colliculi superiores als Teile des Hirnstamms und das sogenannte Pulvinar im Thalamus ihre Aktivitätsmuster zeitlich enger an Sehareale auf der Großhirnrinde koppeln“, so Michael Skeide, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und Erstautor der zugrundeliegenden Studie, die jetzt im renommierten Fachmagazin Science Advances veröffentlich wurde. „Die Thalamus- und Hirnstammkerne helfen unserer Sehrinde dabei, wichtige Informationen aus der Flut von visuellen Reizen herauszufiltern noch bevor wir überhaupt bewusst etwas wahrnehmen.“
Das Interessante dabei: Je stärker sich die Signale der Hirnregionen einander angeglichen hatten, desto besser waren die Lesefähigkeiten bereits ausgeprägt. „Wir gehen deshalb davon aus, dass diese beiden Hirnsysteme mit zunehmenden schriftsprachlichen Fähigkeiten besser zusammenarbeiten“, erklärt der Neuropsychologe weiter. „Auf diese Weise können geübte Leser vermutlich effizienter durch Texte navigieren.“
Untersucht hat das interdisziplinäre Forscherteam diese Zusammenhänge in Indien, einem Land mit einer Analphabetenrate von etwa 39 Prozent. Hier sind es vor allem die Frauen, denen der Zugang zu Schulbildung und damit zum Lesen und Schreiben verwehrt bleibt, sodass an der Studie ausschließlich Frauen teilnahmen, alle im Alter zwischen 24 und 40 Jahren. Ein Großteil der Teilnehmerinnen konnte zu Beginn des Trainings kein einziges Wort ihrer Sprache, dem Hindi, entziffern. Hindi, der Landessprache Indiens, liegt das sogenannte Devanagari zugrunde, eine Schrift, deren komplexe Zeichen häufig nicht nur für einzelne Buchstaben, sondern auch für ganze Silben oder auch Wörter stehen.
Nach sechs Monaten Unterrichts erreichten die Teilnehmerinnen bereits ein Niveau, das sich mit dem von Erstklässlerinnen vergleichen lässt. „Dieser Wissenszuwachs ist bemerkenswert“, so Studienleiter Huettig. „Obwohl es für uns als Erwachsene sehr schwierig ist, eine neue Sprache zu lernen, scheint für das Lesen anderes zu gelten. Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit eindrucksvoll unter Beweis.“
Prinzipiell habe diese Studie auch in Mitteleuropa stattfinden können. Tatsächlich sei hier jedoch das Thema Analphabetismus so tabubehaftet, dass es sehr schwierig gewesen wäre, überhaupt Teilnehmer zu finden. Doch auch in Indien, warteten zahlreiche Herausforderungen auf die Wissenschaftler: Um auszuschließen, dass soziale Faktoren die Ergebnisse verfälschen, kamen für sie nicht nur lediglich Studienteilnehmer der gleichen Sozialklasse aus zwei benachbarten Dörfern in Frage. Auch die Fahrten in die drei Stunden entfernte Stadt Lucknow mussten organisiert werden um dort die Hirnscans durchführen zu können.
Die erstaunlichen Lernerfolge der Studienteilnehmer sind nicht nur ein hoffungsvolles Signal an erwachsene Analphabeten. Sie werfen auch ein neues Licht auf mögliche Ursachen der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Bisher wurden Fehlfunktionen des Thalamus als eine mögliche angeborene Ursache der LRS diskutiert, die zu grundlegenden Defiziten in der visuellen Aufmerksamkeit führen könnten. „Da wir nun wissen, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetrainings so grundlegend verändern kann, muss diese Hypothese neu hinterfragt werden“, so Skeide.
Es könnte sein, dass Betroffene nur deshalb Auffälligkeiten im Thalamus zeigen, weil ihr visuelles System weniger trainiert ist. Das bedeutet, dass diese Auffälligkeiten im Thalamus nur dann als angeborene Ursache infrage kommen, wenn sie sich schon vor der Einschulung zeigen. „Genau das wollen wir nun in einer großangelegten Studie herausfinden, in der wir Betroffene der LRS über viele Jahre hinweg beobachten“, fügt Huettig hinzu.
Orginalpublikation:
Skeide, M., Kumar, M., Mishra, R. K., Tripathi, V.N., Guleria, A., Singh, J.P., Eisner, F., & Huettig, F. (in press). Learning to read alters cortico-subcortical cross-talk in the visual system of illiterates. Science Advances
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