Dienstag, 30. Mai 2017

Bin ich mein Genom? Oder: Individualität ist angeboren, aber nicht vererbt.

aus derStandard.at, 28. Mai 2017, 17:56                                                              Amazonaskärpflinge

Verschiedene Persönlichkeiten trotz gleicher Gene und gleicher Umwelt
Versuche mit Amazonenkärpflingen zeigen, dass Wesensunterschiede von kleinsten Faktoren beeinflusst werden

Berlin – Welche Persönlichkeitsmerkmale jemand besitzt, ist – wie man mittlerweile weiß – keine ausschließliche Frage der genetischen Ausstattung. Dass das auch für Fische gilt, hat eine aktuelle Untersuchung gezeigt: Werden genetisch identische Amazonenkärpflinge einzeln und unter den selben Umweltbedingungen aufgezogen, entwickeln sich die Fische dennoch zu unterschiedlichen Charaktertypen. Die Differenzen sind dabei ähnlich stark ausgeprägt wie bei Artgenossen, die in Gruppen aufwachsen. Die Ergebnisse werfen ein neues Licht auf die Frage, welche Faktoren für die Individualität bei Wirbeltieren verantwortlich sind.

Umwelt oder Genetik oder beides?

Sowohl die genetische Ausstattung als auch die Umwelt wirken auf das individuelle Verhalten von Tieren ein – so lautet die gängige Lehrmeinung. Doch was passiert, wenn Individuen, deren Erbgut identisch ist, einzeln und unter gleichen Bedingungen aufgezogen werden – entwickeln sie dann identische Verhaltensmuster? Dieser Frage ging ein Team um David Bierbach und Kate Laskowski vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) nach.

Das IGB-Team nutzte für seine Untersuchungen den Amazonenkärpfling, eine lebendgebärende Zahnkarpfenart. Diese pflanzt sich natürlicherweise klonal fort, weshalb alle Nachmkommen einer Mutter das exakt gleiche Erbgut besitzen. Neugeborene Amazonenkärpflinge wurden in drei unterschiedlichen Versuchsaufbauten beobachtet: In der ersten Gruppe wurden die Tiere von Beginn an einzeln und unter identischen Bedingungen gehalten. In zwei Kontrollgruppen lebten die Fische für eine bzw. drei Wochen in Gruppen von jeweils vier Individuen und wurden anschließend getrennt. Nach sieben Wochen untersuchten die Forschenden alle Amazonenkärpflinge daraufhin, ob und wie sie sich in Aktivität und Erkundungsverhalten unterscheiden.

Erstaunliche Unterschiede

"Wir waren doch sehr erstaunt, bei genetisch identischen Tieren, die unter nahezu gleichen Umweltbedingungen aufgewachsen sind, so deutliche Persönlichkeitsunterschiede zu finden", sagt Bierbach, einer der Erstautoren der im Fachjournal "Nature Communications" veröffentlichten Studie. Die Fische, die sich zunächst in kleinen Gruppen entwickelten, wiesen ebenfalls und in etwa gleicher Ausprägung Verhaltensunterschiede auf – egal, ob die Entwicklungsphase mit sozialen Interaktionen eine oder drei Wochen dauerte.

"Wir vermuten, dass bereits minimale Unterschiede in den Umweltbedingungen, die immer auftreten, zur Ausbildung von Persönlichkeitsunterschieden führen. Außerdem könnten epigenetische Entwicklungsprozesse, also zufällige Veränderungen von Chromosomen und Genfunktionen, eine entscheidende Rolle spielen", erklärt die Verhaltensbiologin Kate Laskowski. Die Studie lasse insgesamt vermuten, dass die Entwicklung von Individualität bei Wirbeltieren generell ein unausweichlicher, aber schwer vorherzusagender Prozess ist. (red.)


Abstract
Nature Communications: "Behavioural individuality in clonal fish arises despite near-identical rearing conditions."




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