Freitag, 18. Dezember 2015

Serendipität, oder Professor Zufall.

Wie Bertold Schwarz vor zwei Sekunden / Des Pulvers große Kraft erfunden.
aus derStandard.at, 16. Dezember 2015, 17:33 

Serendipity: Der Zufall macht die Wissenschaft 
Lang ist die Liste der Entdeckungen von Dingen, die gar nicht gesucht wurden – ob Flemings Penicillin, Post-its oder Quantenphysik 

von Peter Illetschko

Alexander Fleming war einer jener Wissenschafter, die sich über mangelndes Glück in ihrer Forschung nicht beklagen konnten. Der schottische Bakteriologe bemerkte 1928 zufällig in Staphylokokken-Kulturen geratene Schimmelpilze der Gattung Penicillium notatum, die die Keime töteten. Er hatte die Kulturen angelegt, um die Verursacher der Lungenentzündung genauer zu untersuchen. Fleming soll daraufhin erfreut "That's funny" gerufen haben. Kein Wunder: Er entdeckte damit Penicillin, was mittlerweile wohl unzähligen an bakteriellen Infektionen erkrankten Menschen das Leben rettete. 

Flemings Geschichte zeigt die Bedeutung von Serendipity für die Wissenschaft auf. Die zufällige, uner-wartbare Entdeckung von etwas, das gar nicht gesucht wurde, geht auf das persische Märchen Die drei Prinzen von Serendip zurück, die viele derartige Überraschungen erleben. Der US- amerikanische Soziologe Robert Merton hat für die Verbreitung des Begriffs in der Wissenschaft gesorgt. Heute weiß jeder Grundlagenforscher, was Serendipity ist und was es bedeutet: "Es ist ein wichtiger Verbündeter für alle Wissenschafter", sagt zum Beispiel die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny. 

Die ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats (ERC), derzeit unter anderem Mitglied des österreichischen Forschungsrats, hat kürzlich ihr neuestes Buch vorgelegt, in dem sie ihre Untersuchungen und Einsichten zum Thema Zufall in der Wissenschaft zusammenfasst. "The Cunning of Uncertainty" ist mittlerweile von der "Financial Times" unter die fünf besten Science-Bücher des Jahres gewählt worden. 

Was wäre wenn 

Es hätte auch anders kommen können: Nowotny schreibt in ihrem Buch, wie wichtig diese Erkenntnis angesichts zahlreicher Entdeckungen ist. Der Schimmelpilz hätte sich auch nicht ansetzen können. Viel-leicht hätte Fleming eine andere Möglichkeit entdeckt, die gefährlichen Bakterien zu bekämpfen. Vielleicht wäre aber auch ein anderer Wissenschafter zufällig auf den Schimmelpilz gestoßen. Serendipity bedeutet nicht nur, auf nicht erwartbare Entdeckungen bei Experimenten zu stoßen. Man muss auch in der Lage sein, diesen glücklichen Zufall und seine Bedeutung als solchen zu erkennen – nicht nur intellektuell. 

"Da spielt auch die Tagesverfassung eine große Rolle" , sagt Nowotny. Sie nennt Beispiele von Serendipi-ty, die nicht als solche erkannt wurden, und sieht dafür einen triftigen Grund: Die Wissenschafter waren auf das von ihnen erwartete Ergebnis fokussiert, "sodass sie nicht sahen, was am Rande geschah". So weiß man zum Beispiel, dass das Phänomen der Hochtemperatur-Supraleitung schon vor der Entdeckung durch Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller von einer französischen Gruppe beobachtet wurde. Allerdings haben sie die Bedeutung ihrer Entdeckung nicht erkannt. Nowotny: "Das ist bitter, kommt aber immer wieder vor." 

Neue Kombinationen 

Es muss wohl auch nicht immer etwas Originäres sein, das mithilfe des Zufalls entdeckt wird. Es geht auch darum, eine neue Kombinationsmöglichkeit von bereits existierenden Dingen zu erkennen – vielleicht sogar notgedrungen. "Wir leben in einer Zeit, in der es schwieriger wird, etwas völlig Neues zu entdecken", sagt Nowotny. Eines der berühmtesten Beispiele für Serendipity ist in diesem Fall die Erfindung des Post-its Anfang der 1970er-Jahre. Arthur Fry, Wissenschafter beim Technologiekonzern 3M, grübelte bei einer Chorprobe über Lesezeichen, die aus dem Gesangsbuch herausfallen – und erinnerte sich an eine Erfindung seines Firmenkollegen Spencer Silver. Dieser hatte sechs Jahre zuvor einen Klebstoff entwickelt, der auf einer glatten Fläche angebracht werden konnte, um Papierzettel daran zu heften, sie aber auch wieder leicht entfernen zu können. Fry hatte die spontane, für sein Lesezeichenproblem beste Eingebung, den Klebstoff auf das Papier selbst aufzutragen. Die Klebezettel waren erfunden. 

Einflüsse der Umwelt 

Schließlich scheint auch das Setting eines Experiments wichtig zu sein, wenn man dem Zufall eine Chance geben möchte. Wird man abgelenkt? Werden die Ergebnisse möglicherweise von der Umwelt beeinflusst? Eines der amüsantesten Beispiele in diesem Zusammenhang: Otto Stern und Walther Gerlach, die beide starke Zigarren rauchten, gelang 1922 ein Meilenstein der Quantenphysik. Sie beobachteten erstmals die Richtungsaufteilung durch die Quanteneigenschaft Spin. Die Wissenschafter haben Silberatome durch ein Magnetfeld geleitet, wobei jeweils die Hälfte der Teilchen nach oben und die andere nach unten abgelenkt wurde. 

Zwar konnten auch andere Wissenschafter, die keine starken Raucher waren, diese "Quantelung" nach-vollziehen, aber in diesem besonderen Fall scheint der Rauch positiven Einfluss gehabt zu haben. Der Schwefel des Rauches verknüpfte sich nämlich mit dem Silber, sodass die beiden Wissenschafter einen sichtbaren Nachweis bringen konnten. Die Wissenschafter Bretislav Friedrich und Dudley Herschbach, damals an der Harvard University, haben das 2003 mit einem Paper nachgewiesen. "Stern and Gerlach: How a bad cigar helped reorient atomic physics" wird bis heute in Vorlesungen zitiert. 

Ein Plädoyer 

Es könnten noch viele derartige Beispiele genannt werden. Sie würden alle ein Plädoyer für die Grundla-genforschung sein – wie Nowotnys Buch "The Cunning of Uncertainty". Die Wissenschaftsforscherin meint, es gebe zweierlei Trends in der gegenwärtigen Forschung: Die Forschungsförderer würden inter-national mehr denn je in Richtung Anwendung gehen, "weil sie dem Druck der Regierungen nachgeben müssen, ergebnisorientierte Forschung zu fördern". Andererseits habe man mit Open Innovation, der Einbindung von Laien in wissenschaftliche Arbeit, wieder mehr Platz für Serendipity geschaffen. Die Grundlagenforschung an den Unis würde mittendrin stehen. 

Läuft sie Gefahr unterzugehen? Nowotny verneint und sieht die Chance auf zufällige Entdeckungen als Grundvoraussetzung für diese Wissenschaft. "Hier kann es keine Vorhersage geben, ob Versuche zum angenommenen Ergebnis kommen – selbst wenn es die Geldgeber noch so gern hätten."

Helga Nowotny The Cunning of Uncertainty John Wiley & Sons 2015 220 Seiten, 24,90 Euro  


Nota. - Aber solche Zufälle ergeben sich nur, wenn es Wissenschaft als Instanz oder zumindest als Institution schon gibt: wo systematisch und nach den Regeln der Kunst geforscht wird. Geniale Beobachtungen macht vielleicht auch der Schuhmacher oder Zimmermann in seinem Berufsalltag. Doch wenn und wo sie nicht auf einen schon beackerten Boden fallen, gehen sie verloren.

Hätte Böttcher nicht Gold machen wollen, hätte er nicht das Porzellan erfunden: Immerhin hat er die Rezep-tur notiert. Und dass Einstein die glücklichen Einfälle hatte, die wir dieser Tage feiern, war schließlich auch nur ein Zufall; allerdings hatte er ihn gründlich vorbereitet.
JE



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