Sonntag, 20. Dezember 2015

Das Auge des Rotkehlchens und das Grinsen von Schrödingers Katze.

SCHROeDINGERS KATZE - FOTOGRAFIERT MIT SPUKHAFTER FERNWIRKUNG

















Schrödingers Katze, in einem Wiener Experiment: Es gelang, dieses Objekt mit Licht abzubilden, das gar nicht mit ihm in Berührung gekommen ist. 
aus Die Presse, Wien, 20. 12. 2015

Quanten als Feenstaub
Spielen seltsame Effekte der Quantenphysik fürs Leben eine Rolle? Prägen sie gar das Hirn? Eine Gratwanderung zwischen Physik, Biologie und Fantasie.

von Thomas Kramar

„Your Quantum Brain“ titelte der New Scientist unlängst, die Unterzeile las sich noch wilder: „Does Weird Physics Control Your Thoughts?“ Das mag verdächtig nach dem Schindluder klingen, den Esoteriker mit der Quantenphysik treiben, wenn sie etwa Telepathie oder Wunderheilungen mit ihr erklären wollen. Doch der englische New Scientist, nach dem Scientific American die bekannteste populärwissenschaftliche Zeitschrift der Welt, liebt zwar knallige Titel und knackige Formulierungen, ist aber durchaus seriös. Und so nähert er sich der geschilderten These – das Hirn macht sich spezielle Quanteneffekte zunutze – mit Skepsis. Anders gesagt: mit dem bewährten Instrument namens Ockhams Rasiermesser.

Dieses Prinzip geht auf den Spätscholastiker Wilhelm von Ockham zurück und sagt: Man ziehe die einfachste Erklärung vor, für die man möglichst wenig Zusatzannahmen braucht! In unserem Fall: Begnügen wir uns doch mit den ganz klassischen Möglichkeiten eines komplizierten Geflechts von Milliarden Nervenzellen! Allgemeiner: Begnügen wir uns doch mit der ganz normalen Chemie, sie ist erstaunlich genug. Und sie fußt, was wir oft vergessen, auf der Quantentheorie. Mit klassischer Physik könnte man nicht einmal erklären, dass Atome stabil sind, eine rein klassische Welt wäre farblos – weil die Farben von Stoffen darauf beruhen, dass nur bestimmte Quantensprünge erlaubt sind – und formlos: ein fades Gas. Um die ganz alltäglichen chemischen Reaktionen zu erklären, braucht man erst recht die Quantentheorie.

Doch deren Interpretation strapaziert unseren Verstand ähnlich wie die Relativitätstheorie unsere Anschauung. So wie wir uns einen in sich gekrümmten dreidimensionalen Raum nicht vorstellen können, so können wir nur akzeptieren, nicht begreifen, dass z. B. ein Elektron zwar ein Teilchen, aber auch eine Welle ist – und als solche an zwei Orten zugleich sein kann. Dass ein Atom, solange man es nicht beobachtet, sich in einer Überlagerung aus den Zuständen „zerfallen“ und „nicht zerfallen“ befinden kann. (Schrödingers Katze heißt das Fabeltier, das entsprechend in einer Überlagerung aus den Zuständen „tot“ und „lebendig“ sein kann.) Oder dass zwei weit voneinander entfernte Objekte so miteinander verbunden – „verschränkt“ – sind, dass sie einander ohne Verzögerung beeinflussen, anscheinend (oder scheinbar?) das Gesetz verletzend, dass keine Information schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden kann.

Lithium für Ratten. 

Matthew Fisher, theoretischer Physiker in Santa Barbara, glaubt, dass genau diese Verschränkung in der Wechselwirkung der Nervenzellen eine Rolle spielt. Dazu beruft er sich auf ein Experiment aus dem Jahr 1986, dessen Ergebnis tatsächlich verblüfft, wenn's denn stimmt. Ratten wurden mit Lithium – das ja bei Menschen als Psychopharmakon, z. B. gegen Depressionen dient – gefüttert. Und zwar einmal als Isotop 6Li und einmal als 7Li: Die Wirkung sollte sich eigentlich nicht unterscheiden, sie tat's angeblich doch: Mit 6Li gefütterte Ratten wirkten viel aktiver. Das kann, meint Fisher, nur an den unterschiedlichen Spins der Atomkerne liegen – und an deren Verschränkung. Ähnliches traut er den Phosphoratomen in bestimmten (anorganischen) Molekülen zu, und hier wird die Sache schon sehr fantastisch.

Fisher steht damit in den Fußstapfen eines großen Kollegen, des theoretischen Physikers Roger Penrose, der 1994 das Buch „Schatten des Geistes“ veröffentlicht hat und seither das Bewusstsein aus – noch dazu durch Gravitation bewirkten – Quanteneffekten in den Mikrotubuli der Zellen erklären will. Diese röhrenartigen Strukturen finden sich freilich in Zellen aller Organe und aller Lebewesen. „Feenstaub in den Synapsen ist eine ähnlich gute Erklärung wie Quantenkohärenz in den Mikrotubuli“, urteilte die Neurophilosophin Patricia Churchland scharf.
In diesem Gebiet ernster zu nehmen als Penrose ist der Physiker Jim al-Khalili. Er hat jüngst mit dem Molekulargenetiker Johnjoe McFadden ein Buch namens „Life on the Edge“ veröffentlicht. Auf Deutsch heißt es „Der Quantenbeat des Lebens“ und wird mit diesem Titel wohl auch in Buchläden landen, wo sonst Literatur über Chakren und Einhörner aufliegt. Doch vom ins Esoterische abdriftenden Biologen Rupert Sheldrake etwa distanziert sich al-Khalili gleich, er nennt ihn einen „umstrittenen Parapsychologen“.
Unter Sheldrakes Ideen ist das nicht mess- und fassbare „morphische Feld“, das Zugvögel leiten soll. Die Orientierung von Tieren ist al-Khalilis überzeugendstes Beispiel dafür, dass Quanteneffekte in Lebewesen eine besondere Rolle spielen können. Rotkehlchen etwa orientieren sich am Magnetfeld der Erde, etwas in ihnen misst offenbar den Winkel zwischen den Feldlinien der Erde und der Erdoberfläche.
Aber was? Das Magnetfeld der Erde ist viel zu schwach, um eine chemische Reaktion in irgendeinem Sinnesorgan der Vögel zu induzieren. Also kamen Physiker auf die Idee, es könne auf den Spin (eine originär quantenphysikalische Eigenschaft also) einer Überlagerung (auch typisch Quantenwelt!) der Zustände zweier verschränkter (!) Elektronen im Augenpigment Cryptochrom wirken. Das, sagen die Physiker, funktioniert, und die Rotkehlchenforscher geben ihnen recht. Entscheidend dabei, wie bei anderen Quanteneffekten, ist, dass der fragliche Zustand lang genug hält, und das ist gar nicht selbstver-ständlich. Denn Quantenzustände sind wie scheue Rehe: Kaum beobachtet man sie oder schreckt sie sonst, verschwinden sie auch schon, ihre Wellenfunktion bricht zusammen, wie die Physiker drastisch sagen.
Eine besondere Feindin der Überlagerungen und Verschränkungen ist die thermische Bewegung der Atome und Moleküle – darum wird nur bei tiefsten Temperaturen an Quantencomputern gebastelt. Und das Leben findet im Warmen und Feuchtem statt, seine Ordnung wird dauernd vom Rauschen der Thermodynamik bedroht.
Doch es kann sich just dieses Rauschen zunutze – und aus der Not eine Tugend – machen, meint al-Khalili: Das passiere bei der Fotosynthese, bei ihr seien Quantenschwebungen wichtig. Hier wird al-Khalili etwas undeutlich und poetisch: „Statt sich vor den Stürmen zu verstecken, nimmt das Leben sie an und nutzt ihre molekulare Winde und Böen, die seine Segel füllen und das Schiff aufrechthalten, sodass sein schmaler Kiel die thermodynamischen Gewässer durchdringt und mit der Welt der Quanten in Verbindung tritt.“
Und so fort. Bei allem Respekt vor den Quanten: Hier meint man Schrödingers Katze grinsen zu sehen.

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