Von der Sekunde bis zur Endzeit
SACHBUCH: Der Historiker Alexander Demandt hat eine monumentale Kulturgeschichte der Zeit geschrieben.
von Ludger Lütkehaus
Kaum ein Buch über "Die Zeit" oder, ohne den allzu bestimmten Artikel, über "Zeit", kommt ohne ein berühmt gewordenes Zitat des "Kirchenvaters" Augustinus aus. Es steht im elften Buch seiner "Bekenntnisse" und lautet in der Übersetzung Joseph Bernharts: "Was ist also 'Zeit'? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht."
Eine irritierende Auskunft, die die Frage nach dem Wesen der Zeit nicht beantwortet, sondern noch schwieriger macht. Der Berliner Alt-Historiker und Kulturwissenschaftler Alexander Demandt, dessen kapitales Werk "Zeit – Eine Kulturgeschichte" parallel zu dem Zeit-Buch von Rüdiger Safranski erschienen ist, indessen eigene, durchweg historische, nicht philosophische Wege geht, übersetzt: "‚Was ist Zeit?’ Dabei wusste er (Augustinus) es, konnte es aber nicht sagen."
Das freilich ist eine allzu freie Version. Sie reduziert das Problem Zeit auf das prekäre Verhältnis von Wissen und Nicht-sagen-Können, Erkenntnis und sprachlicher Artikulation, während der für Augustinus wesentliche Bezug auf die kommunikative Situation fehlt. Das ist eine Art von Antwort, gewiss, aber eine, die den Leser ratlos lässt. Er hat nichts von ihr, weil Augustinus sein Wissen an die Einsamkeit des Denkers bindet. "Was Du weißt", sagt Johann Wolfgang von Goethe im Anschluss an Augustinus, "das weißt Du nur allein".
Demandt bekennt sich denn auch als Skeptiker. Er zeigt beispielsweise, wieviel an impliziten Zeitbegriffen die expliziten schon voraussetzen, Wörter "wie Veränderung und Bewegung, wie Ereignis und Impuls, wie Vorher und Nachher, wie Folge und (...) Dauer, Vergänglichkeit und ewiger Wandel". "Zeit wird mit Hilfe von Begriffen definiert, die ihrerseits mit Hilfe des Zeitbegriffs definiert werden, so dass die Definitionen von ‚Zeit’ zirkulär werden." Allenfalls werden indirekte Annäherungsweisen, Gleichnisse, Metaphern und übertragene Begriffe der Zeit gerecht. Sie ist ein überaus schwieriges Thema. Und wer sich damit adäquat auseinandersetzen will, den wird das auf jeden Fall eines kosten: Zeit, viel Zeit. Die Maxime, die Ludwig Wittgenstein seinen gestressten Kollegen mitgegeben hat, ist die schwerste: "Lass Dir Zeit!"
Wie nötig das ist, hat Demandt schon bei seinen Vorarbeiten erfahren müssen. Das Erscheinen des Buches musste mehrfach verschoben werden. Mit seinen über 550 Seiten und 620 Anmerkungen verlangt es Lesern und Rezensenten eindrucksvolle Ausdauerleistungen ab. Aber es hält seinen Rhythmus bis zum Ende durch. Demandt zielt auf nichts Geringeres als die ganze "Kulturgeschichte der Zeit". Sein Werk sprengt so sehr jeden engeren Rahmen, dass man angesichts der schieren Masse der Belege das fakten- und aktensatte Buch manchmal für ein positivistisches Monstrum halten könnte. Aber es gewinnt dem riesigen Stoff eine Fülle überraschender Perspektiven ab.
In weit ausgreifenden diachronen Querschnitten, die mit der Geschichte der Sekunde, der Stunde, des Tages und der Woche, des Jahres und der Jahreszeiten, der Epochen und der Lebens- und Altersstufen, mit der heillosen Diskrepanz zwischen "Weltzeit und Lebenszeit", mit den Endzeiten der Apokalypsen alles Zeithafte unter der Sonne und hinter dem Mond umfasst, entfaltet Demandt ein wahres Kompendium der Zeit. Er verfügt dabei über einen Witz, der die Lektüre auch literarisch genussreich macht. Gerne glossiert er die Ergebnisse seiner Recherchen mit lakonischen Pointen. Sein astrophysikalisches Schlusswort zur Natur- und Weltgeschichte lautet: "Vom Urknall zum Wärmetod. Die Geschichte der Welt beginnt mit einer Katastrophe und endet in einer Sackgasse."
An die Adresse der Nostalgiker heißt es: "Früher war es auch nicht mehr wie früher." Und der Kommentar Demandts zu Herakit: "Alles fließt, natürlich bergab."
Alexander Demandt: Zeit. Eine Kulturgeschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2015. 550 Seiten, 26 Euro.
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